Stille herrscht zwischen uns, und es erscheint mir wie eine Ewigkeit, bis Éomer sich plötzlich von meinen Augen losreißt, sich etwas abwendet und seinen Blick stattdessen über die Wand der Halle gleiten lässt. Ich kann das unangenehme Schweigen nicht länger ertragen, und da er keinerlei Anstalten macht den freundlichen und redseligen Gastgeber zu mimen, ergreife ich das Wort.
„Eure Schwester hat sich prächtig entwickelt," sage ich, ihn aus den Augenwinkeln von der Seite beobachtend. Er tut so, als studiere er ein Gemälde an der Wand, aber ich kann erkennen, dass sein Blick fahrig ist.
„Bereits das letzte Mal, als ich sie sah, erschien sie mir bezaubernd. Aber jetzt… Aus ihr ist eine richtige Schönheit geworden," füge ich hinzu als er nichts erwidert. „Der Mann, der sie einmal zur Braut nehmen wird, kann sich sehr glücklich schätzen."
Volltreffer. Sein Kopf schnellt zu mir zurück, und seine Augen… oh diese tiefbraunen, lodernden Augen, wie ich mich doch in ihnen verlieren könnte… Sogar jetzt, wo sie mich geradewegs zu erdolchen scheinen.
„Noch hat sich kein Mann gefunden, der es verdient hätte um die Hand meiner Schwester anhalten zu dürfen," giftet er leise, aber mit einem drohenden Unterton, der mich beinahe zum Grinsen bringt. Ich schaffe es gerade noch, mich zusammenzureißen. Er hat den Köder geschluckt, und ich würde lügen wenn ich behauptete, dass es kein befriedigendes Gefühl ist zu wissen, dass er vehement gegen eine Vermählung zwischen mir und seiner Schwester ist; wenn ich mir denn einrede, dass dieser Umstand mehr mit seinen Gefühlen für mich als mit denen für die Herrin Éowyn zu tun hat…
„Aber Ihr seid doch nicht nach Rohan geritten, nur um Euch an dem Antlitz meiner Schwester zu erquicken, nehme ich an?" sagt er dann etwas schroff. Vielleicht hat er gemerkt, dass ich ihn ein wenig vorführe. Ich schüttele kurz den Kopf, fieberhaft überlegend, was ich darauf antworten soll. Dies wäre die perfekte Gelegenheit, dir reinen Wein einzuschenken, dir zu gestehen, dass ich immerzu an dich denken musste und dass wann immer ich nach Rohan geritten bin innerhalb der letzten acht Jahre, ich insgeheim gehofft hatte, dich wiederzusehen. Du hast mit deiner Frage förmlich den Weg für die Wahrheit geebnet, doch im Endeffekt bin ich zu mutlos diese Richtung einzuschlagen. Ich mag es selbst kaum glauben, aber ich habe tatsächlich Angst, von dir zurückgewiesen zu werden. Seltsam, wie diese tiefe Zuneigung, die ich dir gegenüber empfinde, einen Feigling aus mir werden lässt.
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Ungeduldig warte ich auf seine Antwort. Sekunden, die mir wie ganze Jahrzehnte erscheinen, verstreichen quälend.
„Denethor schickt mich, unsere Kriegsführungsstrategien zu diskutieren," erzählt er mir nach der unangenehmen Pause. „Wir müssen Alternativen erwägen. Wir verlieren zu viele Männer. So kann es nicht weitergehen."
Ich spüre ein unerwartetes Stechen in meinem Herzen. Frustriert über seine Erwiederung, die weit von dem entfernt ist, was ich mir sehr aus seinem Munde ersehnt hatte, balle ich meine noch immer in ledernen Handschuhen steckende Hände zu Fäusten. Oh nein, so leicht wirst du mir nicht davon kommen, Boromir. Wir haben noch eine Rechnung zu begleichen.
„Wir könnten uns noch heute Abend mit der Thematik beschäftigen und ein paar Ideen entwickeln, die wir dann morgen bei der offizielle Ratssitzung vortragen," schlage ich vor, sehr darauf achtend, dass meine Stimme kühl und sachlich bleibt. „Es sei denn, Ihr seid zu erschöpft."
Eine seiner Augenbrauen zieht sich kaum merklich ein Stückchen nach oben als er ziemlich doppeldeutig entgegnet, „Für Dinge von solcher Wichtigkeit bin ich niemals zu erschöpft, Éomer."
Ich spüre Hitze in meine Wangen schießen. „Gut," bringe ich rasch hervor und schlucke schwerfällig. „Wir treffen uns in einer halben Stunde im Kartenzimmer. Ich nehme an, Ihr kennt den Weg." Ich warte seine Antwort nicht ab sondern mache auf der Stelle kehrt und eile in der Hoffnung, dass er meine Röte nicht bemerkt hat, aus dem Saal.
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Das Zimmer ist leer, als ich es wenig später betrete. Während ich auf ihn warte, studiere ich die Aufteilung und Formationen der kleinen Figürchen, Fähnchen und sonstigen Markierungen, die strategisch auf der großen Karte Mittelerdes aufgestellt sind. Die Karte ist ähnlich wie bei uns in Minas Tirith über einen gewaltigen Tisch in der Mitte des Raumes gespannt. Ansonsten ist der Raum recht karg. Außer dem imposanten, lodernden Kamin und ein paar schönen Waffen, die an den Wänden angebracht sind, fällt mir nichts Erwähnenswertes auf. Aber ich habe auch nicht die Möglichkeit, mich genauer umzusehen, denn es dauert nicht lange bis auch er eintrifft.
Kaum hat Éomer den Raum betreten, ertappe ich mich dabei, wie ich ihn mehr als gründlich mustere, von Kopf bis Fuß. Befreit von der schweren, wuchtigen Rüstung erscheint er nicht mehr ganz so breit und muskelbepackt wie ich zuerst angenommen hatte, aber er ist auch nicht schmächtig. Zweifellos verhüllen die weiten, kunstvoll verzierten Ärmel seines hellen, prächtigen Oberteils kräftige Arme, und die leichten, faltenlosen Wölbungen in der Vorderseite seines Hemdes lassen auf eine durchtrainierte Brust schließen. Jeglicher Dreck ist von ihm gewaschen, und sein sauberes, frisches Gesicht offenbart jetzt sein junges Alter, das vorhin noch versteckt war unter den schmierigen, dunklen Spuren, die der Tag auf und an ihm hinterlassen hat. Und sein Haar… Nicht mehr wirr und zum Teil zurückgebunden, damit es ihn nicht einschränkt. Gelöst und offen wellt es bis über seine Schultern, dunkler und, wie ich annehme, nicht ganz so seidig-weich wie das Haar seiner Schwester, aber nicht weniger füllig. Während er auf mich zukommt erkenne ich, dass es noch feucht vom Waschen ist, und als er schließlich neben mir steht, dringt der dezente, fruchtig-seifige Duft, den sein noch nicht getrocknetes Haar verströmt, in meine Nase.
Mir fällt sofort auf, dass dies alles mehr sein muss als das, was er in seiner gewöhnlichen Säuberungsprozedur berücksichtigt, wenn er nach Hause zurückkehrt. Er hat sich… herausgeputzt. Und noch mehr als vorhin muss ich zugeben, dass er sich zu einem sehr attraktiven jungen Mann entwickelt hat, obwohl ich beinahe denke, dass er mir so abgekämpft, verschwitzt und schmutzig sogar einen Tick besser gefallen hat als jetzt. Hm. Wer weiß, vielleicht wird sich mir noch die Möglichkeit bieten, ihn wieder schwitzen zu lassen, ihn zu erschöpfen und Spuren auf ihm zu hinterlassen…
