Die Ewigkeit der letzten Dinge

by Morgan Mayfair

II

"Don't you slip away,

it's you I live for"

1.

Es war schon spät, als Alana ins Erdgeschoss hinunterging und die Tür zum Salon aufstieß.

Etwas war geschehen, dass seit Jahren nicht mehr passiert war. Etwas Schreckliches.

'...Keine Zeit zu verlieren. Wir müssen sofort aufbrechen!'

Als sie den Raum betrat, erhoben sich gerade die Mitglieder des Ordens und machten sich bereit zum Aufbruch. Alana erhaschte einen Blick auf Remus, der mehr als besorgt wirkte. Sirius bemerkte sie und war mit einem Schritt bei ihr. 'Voldemort ist ins Zaubereiministerium eigebrochen. Er hat Harry eine Falle gestellt. Wir müssen ihn...' Damit war er an ihr vorbeigerauscht und strebte dem Ausgang entgegen. Sie wollte ihm nacheilen und noch etwas sagen, aber er drehte sich ein letztes Mal um und schnitt ihr jedes Wort ab: 'Ja, ja, ich bin vorsichtig.'

Dann fiel die Tür hinter ihm zu und sie war allein im Haus der Blacks.

Sie dachte an seine letzten Worte und an das, was sie ihm hatte sagen wollen, weil es ihr in jenem Moment von größter Wichtigkeit erschien.

Was sie hatte sagen wollen, war: ich liebe dich.


Stille.

Stille umgab sie, türmte sich auf, bis sie für Alana unerträglich wurde.

Sie wanderte allein durch das dunkle Haus, stundenlang, nur die Schatten und die Nacht ihre Gefährten. Dass sie sich Sorgen machte, wäre schlicht untertrieben gewesen - nein, sie ging beinahe daran zugrunde, sosehr quälten sie die Traumbilder ihrer eigenen Phantasie. Sie versuchte sich einzureden, dass es keine Vorahnungen waren, nicht sein konnten, nicht sein durften. Und doch lauerte etwas in der Dunkelheit, dass kalt über ihre Haut kroch und ihr Angst einjagte.

Sie war nicht fähig, hinter dieses Dunkel zu blicken, denn es war ein Ort, zu dem selbst Empathen keinen Zugang hatten, ein Ort, an den die Gefühle der Menschen nicht gelangten und der eisig war - eisig, wie nur der Tod sein konnte.

Nein! Das darf es nicht bedeuten!

Abrupt wandte sie sich um und verließ das Zimmer. An der Tür zum Garten stockte sie, die Hand auf dem Knauf ruhend. Alana zwang sich, tief durchzuatmen, ruhiger zu werden.

Lass die Angst nicht Überhand nehmen, sagte sie sich immer wieder; es wird nichts passieren...

Schließlich öffnete sie die Gartentür und trat hinaus in die Dunkelheit der Nacht. Die verdorrten Büsche und Bäume waren kaum mehr als Schemen, die mit der Schwärze verschmolzen.

Es wird nichts passieren...

Wie still es war! Kein Luftzug, der die Blätter leise rascheln ließ, keine kleinen Tiere, die im Schutz der Dunkelheit umherhuschten - als hielte selbst die Natur wartend den Atem an.

Sie wusste nicht, wie lange sie dort unbewegt verharrte und in die Nacht hinausstarrte, während sich die Gedanken in ihrem Geist erst überschlugen und dann in Angst und Hilflosigkeit verstummten.

Es darf nichts passieren...

Irgendwann hörte sie in der Eingangshalle eine Tür zufallen, jemanden ihren Namen sagen; dann Schritte, die näher kamen.

Zögernd wandte Alana dem Garten den Rücken zu und lehnte sich an den Türrahmen.

Aus dem Schatten des unbeleuchteten Raumes kam Remus schweigend auf sie zu.

Sie sah seine Tränen, den verzweifelten Ausdruck in seinen Augen und wollte nicht verstehen, was es bedeuten musste - aber sie tat es.

'Alana...' sagte er leise, beinahe unfähig etwas anderes zu artikulieren, dass kein Schrei des Unverständnisses war, des Schmerzes, der ihn erfüllte; Alana spürte, wie kalte Wogen über sie schwappten und sich ihr gesamter Körper mit einem Mal taub und leblos anfühlte.

Sie machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu,

sag' mir, dass es nicht wahr ist...

streckte ihm beinahe flehend die Hand entgegen.

nein...

Alana merkte nicht mehr, wie ihre Beine unter ihr nachgaben; die Dunkelheit, die sie umgab, hatte ihren Geist erfasst und mit sich in die Tiefe gerissen. Ohnmächtig fiel sie auf den kalten Marmorboden.

Durch die offene Gartentür wehte ein kühler Wind herein, der über sie hinwegstrich und Remus das Haar aus dem Gesicht wehte, als er neben Alana auf die Knie sank.

Ein Luftzug, der fast wie ein Seufzen war.

2.

Zeit war bedeutungslos geworden, hatte sich in der Finsternis, in der sie trieb, verloren. Der Schmerz lähmte Alana, machte sie blind und taub für die Außenwelt. Wenn sie die Augen in wenigen bewussten Momenten aufschlug, erblickte sie eine Welt, die nicht mehr die Ihre war, fremd und bedrohlich. Tage vergingen, ohne dass sie Notiz von ihnen nahm, wie Augenblicke, wie Ewigkeiten.

Einmal sah sie Remus an dem Bett sitzen, in dem sie lag, eine gebeugte Gestalt mit geröteten Augen, der leise auf sie einredete, sie aufzuwecken suchte.

Nein - die Welt hat ihren Sinn verloren. Was kümmert sie mich noch?

Seine Worte waren ihr nichts als bedeutungslose Phrasen, ungehört in die Leere geworfen.

Andere kamen und gingen wieder, aber Alana nahm kaum mehr von ihnen wahr als ihre verschwommenen Silhouetten gegen das gedämpfte Licht.

Als sie aber erwachte, war sie allein.

Es war hell, ein unwirkliches Licht fiel durch die halb zugezogenen Vorhänge.

Jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte, als sie die Bettdecke zurückschlug und mühsam das Bett verließ.

Mit zitternden Händen schob sie die Gardine zur Seite und blickte hinaus. Draußen begann es zu regnen: zuerst fielen kleine Tropfen zur Erde, aber schon bald wurde daraus ein wahrer Sturzbach, der an die Fenster klatschte und sich auf der Strasse zu großen Pfützen sammelte.

Träge griff sie nach den ersten Kleidungstücken, die sie zu fassen bekam, zog eine alte Hose an und streifte einen dicken Pullover über ihren Kopf. Ihr war kalt - es war ein so umfassendes Gefühl, dass sie sich fragte, ob sie jemals wieder Wärme würde spüren können.

Jede Bewegung schien sie unendliche Kraft zu kosten, dennoch verließ sie das Zimmer. Auf dem Flur dann aber verharrte sie; ihr war ein erschreckender und doch wahrer Gedanke in den Sinn gekommen: Was sollte sie als Nächstes tun? Wohin sollte sie sich wenden?

Reglos stand sie da und war vollkommen ratlos. Irgendwann dann setzten sich ihre Beine beinahe ohne ihr eigenes Zutun in Bewegung, sie ging die Treppe hinauf mit der vagen Absicht, Buckbeak zu besuchen. An der offenen Tür zum Schlafzimmer von Sirius' Mutter hielt sie inne, denn sie hatte im Halbdunkel des Raumes Jemanden gesehen, der am Fenstersims lehnte und kaum mehr war als der Schatten eines einstmals guten Freundes - Remus. Sie musterte den vor sich Hinstarrenden und Schmerz stieg in ihr auf, spürte sie doch seine sie beinahe überwältigenden Gefühle, als wären es ihre eigenen. Für ein Moment spürte sie Schuldgefühle in sich aufwallen.

Habe ich etwa geglaubt, der einzige Mensch zu sein, dem es Herz und Seele zerreißt, zu wissen, dass er fort ist?

Aber sie konnte ihm keinen Trost spenden, seinen Schmerz nicht lindern, wo das Leid in ihr selbst noch zu allgegenwärtig war. So wandte sie sich schweren Herzens von der dunklen Gestalt bei Buckbeak ab. Sie konnte seine Trauer und die ungeweinten Tränen doppelt schwer auf sich lasten spüren und erschauderte.

Lautlos und ohne ein Wort des Abschieds ging sie nach unten, nahm ihren Mantel und verließ das Haus, trat hinaus in den noch immer prasselnden Regen

Nach kurzer Zeit war ihr Haar und ihre Kleidung durchnässt, das Wasser lief an ihren Wangen herab gleich Tränen, die sie nicht weinen konnte. Ohne darüber nachzudenken, bog Alana in eine Seitenstrasse ein und passierte das schmiedeeiserne Tor zum botanischen Garten. Auch hier fiel der Regen auf die schlammigen Wege und perlte an den Blättern der Bäume ab.

Auf halbem Weg durch den Park ließ sie sich auf die nächste Bank nieder und barg ihr Gesicht in ihre Hände. Bald war ihr Körper durch die Kälte klamm und taub, so wie ihr Geist betäubt war vor Schmerz, ihre Seele erstarrt, weil sie alles verloren hatte, für das es sich zu leben lohnte.

Sie bemerkte kaum, wie sich jemand neben sie setzte und behutsam den Arm um sie legte, wie sie ihren Kopf an eine Schulter lehnte, ohne genau zu wissen, was sie tat. Erst als sie aufsah, erkannte sie Remus, der neben ihr saß in seiner üblichen zerschlissenen Robe, aber gramgebeugt und mit dunklen Schatten unter den Augen. In diesem Moment konnte Alana ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken - der Schmerz schien sie zu überwältigen. Sie schlang die Arme um ihn und weinte bitterlich, als müsse alle Qual aus ihr herausbrechen, damit sie nicht daran erstickte.

Wer hielt wen in den Armen - Alana wusste es nicht.

Nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien, in der aller Schmerz so überwältigend zu werden schien, dass er ihr Herz bersten und sie kaum atmen ließ, hob sie langsam den Kopf und sah in Lupins braune Augen.

Sich noch immer an ihn klammernd, hörte sie sich Worte flüstern, vor denen sie selbst Angst hatte. Alana wusste, dass sich hinter ihnen nur Schwärze verbergen konnte, Dunkelheit und Qual, und sie drängte Remus, sich dieser Dunkelheit erneut zu stellen. Sie wusste, was sie verlangte war viel; sah es in dem gequälten Ausdruck auf seinem vor der Zeit gealterten Gesicht, während er den durchnässten Boden fixierte. Lass mich diesen Moment nicht noch einmal durchleben, sagten seine Augen, schrie jede Faser seines Körpers; foltere mich nicht auf diese Weise!

Sie konnte es deutlich spüren, so wie sie spürte, dass er leicht zitterte. So viel Schmerz.

Dennoch - sie hatte ihre Bitte geäußert; es gab kein Zurück mehr. Minutenlang schwebten ihre Worte unheilschwanger in der Stille, die nur durch den abflauenden Regen durchbrochen wurde.

'Erzähl' mir, wie Sirius gestorben ist. Ich will jedes Detail erfahren.'

Remus schluckte schwer und ließ den Blick dabei über die Bäume gleiten - hilfesuchend beinahe, zeitschindend.

Schließlich begann er leise und mit zitternder Stimme zu sprechen, und seine Worte schwebten wie fallende Blätter durch den menschenleeren Park.


Wie ungerecht von dir. Wie ungerecht, mich allein zurückzulassen. Eigentlich sollte ich dich dafür hassen.

Zwar blickte Alana hinaus auf den Garten, nahm ihn jedoch nicht wahr.

Aber wie könnte ich jemals etwas anderes empfinden als unendliche Liebe, die mein Inneres zu verbrennen sucht? Wie könnte ich?

Jetzt, da diese Liebe nicht mehr von dir erwidert werden kann, werde ich von ihr aufgezehrt. Sie lässt mich zurück als leere Hülle, einem Menschen nur noch ähnlich. Für mich wird es keine Erlösung mehr geben, keine Wiedergeburt im Frühling. Alles, was bleibt, ist der Schmerz in mir. In gewisser Weise hast du alles, was mich ausmachte, was ich war, mit dir genommen...

Ich denke, es wird Zeit, dass ich es mit zurückhole.


Die Nacht war bewölkt und sternlos. Ein kalter Lufthauch spielte in ihrem Haar und ließ es hinter ihr aufbauschen, als Alana zielsicher um die nächste Biegung in eine dunkle Gasse schritt. Sie wusste aus Lupins Erzählungen und aus zufällig aufgeschnappten Gesprächsfetzten genug, um zu wissen, in welche Richtung sie sich wenden musste und was sie zu tun hatte um in das Zaubereiministerium zu gelangen. In der Dunkelheit war die Telefonzelle kaum zu erkennen, dennoch öffnete sie ohne zu zögern die Tür und wählte mit zitternden Händen die Nummer. Es war zu spät für Bedenken oder Unsicherheit. Viel zu spät.

Einige Minuten später glitt der Aufzug aus der Eingangshalle rasselnd in die Tiefe, ihr Magen schien für einen Moment im Atrium verharren zu wollen, und ein Gefühl der Übelkeit breitete sich in ihr aus, das nicht nur auf den Fahrstuhl zurückzuführen war. Ob sie das Richtige tat, fragte sie sich jedoch nicht; wie sollte sie auch, wo es in ihrem Herzen keine andere Wahl gab?

Wie seltsam, dachte sie, diesen Gang entlang zu gehen und zu wissen, dass er vor wenigen Wochen den gleichen Weg genommen hat und nicht zurückkam.

Bald hatte sie die richtige Tür gefunden und stand nun auf der oberen Reihe steinerner Bänke, die vor ihr zu einer Senke abfielen. Dort erkannte sie im dämmrigen Licht den Bogen.

Langsam Stufe für Stufe nehmend ging sie näher heran und saugte dabei jedes Detail des Raumes ein; die Spuren des zurückliegenden Kampfes, die noch immer sichtbar waren und in denen sie beinahe noch einen Überrest der sich abstoßenden und entgegengesetzten Emotionen spüren konnte.

Der Stein des Podiums war kalt, als Alana es berührte um hinaufzuklettern. So nah; der Vorhang erbebte wie unter einem gehauchten Luftzug. Sie streckte zitternd die Hand aus, nur Millimeter trennten sie vom schwarzen Stoff der Barriere. Dort ist er, dort muss er sein. Tiefschwarzes Tuch als Übergang zwischen Leben und Tod, wie passend.

Tränen rannen über ihr Gesicht, Tränen, die sie tagelang nicht hatte weinen können.

Verzeih mir, Remus, aber ich kann nicht anders. Ich hoffe, du wirst irgendwann dein unbeschwertes Lachen wiederfinden können, dass ich so oft sah, wenn du mit Sirius zusammen warst...

Es ist gut, soviel ist sicher.

Ich glaube fast, seine Stimme flüstern zu hören. Ob er mich ruft?

Ich sehne mich so nach ihm.

Sie berührte das zerschlissene Tuch und spürte die Anziehungskraft des Bogens, etwas, dass sie nicht in Worte fassen konnte. Sonst nichts; ihre Empathie konnte nicht auf die andere Seite des Stoffes schauen. Es war in jeder Hinsicht eine Reise in das Unbekannte.

Was bleibt, ist die Hoffnung, dachte Alana, und vielleicht, wenn der letzte Mensch von der Erde getilgt ist, ist sie es, die, in Ewigkeit, in der Stille verharrt: die Hoffnung - aber worauf?

Der Vorhang bauschte auf, als sie hindurchtrat und fiel dann zurück in sein leichtes Flattern, als hätte er die Erinnerung an all die Dinge, die um ihn geschahen, längst getilgt.


Schwer atmend, als wäre er lange gerannt, stieß Lupin die Tür auf und hastete die Steinbänke hinab, ehe er erkannte, dass es zu spät war. In der Hand hielt er ein zerknülltes Stück Papier, wenige Zeilen in Alanas zierlicher Handschrift.

...ich kann nicht sagen, dass es mir leid tut, Remus, weder für uns noch für dich, aber ich hoffe inständig, dass du das Glück wiederfindest. Es sollte kein Abschiedsbrief sein, auch wenn es so wirkt, denn dies ist kein Abschied...

Als wäre alle Kraft aus ihm gewichen, liess er sich auf eine der steinernen Bänke fallen und schloss die Augen.

Lupin wartete noch lange in der Kammer, aber Alana kehrte nicht zurück. Leise Stimmen flüsterten auf der anderen Seite, aber er konnte nicht ausmachen, ob die Stimmen zweier Liebender unter ihnen waren.

Schließlich wandte er sich zum Gehen und blickte noch ein letztes mal zurück zu dem Ort, an dem sein letzter und bester Freund gestorben war und am dem Alana ihm nachgefolgt war. Ich hoffe, ihr seid glücklich, wo immer ihr nun seid, dachte er, glücklich und vereint.

Lupin seufzte, strich abwesend die Tränen aus seinem Gesicht.

Er wandte dem Raum den Rücken zu, stieg die Stufen hinauf . An der Tür drehte er sich noch einmal um. Warum fiel es ihm nur so schwer zu gehen, zu akzeptieren, was geschehen war?

Wer trauert, sind immer die Zurückgebliebenen. Wie ungerecht.

Ich weiß, wir werden uns wiedersehen, also wartet auf mich, alte Freunde.

Die Tür fiel hinter ihm zu, ließ den Raum dunkel und verlassen zurück. Der Vorhang wogte in seichtem Wind, ein Reich verbergend, in dem zwei Liebende vielleicht vereint sein konnten.

Wer kann es wagen anzunehmen, dass die Toten dort nicht in Frieden ruhen mit sanft flüsternden Stimmen - in Ewigkeit.

- fin -