Der Abschied war schmerzlich, und schon bevor du Edoras wieder den Rücken kehrtest erfüllte mich eine entsetzliche Leere und Melancholie. Ich weiß noch, wie du versuchtest mir ein Lächeln zu entlocken indem du im Scherz sagtest, dass wir besser nicht wieder acht Jahre warten sollten bis zu unserer nächsten Zusammenkunft, denn dafür wärest du inzwischen zu alt. Ich pflichtete dir schmunzelnd bei, und auch wenn wir uns an dieses Versprechen hielten, so verging stets eine unerträglich lange Zeit zwischen unseren seltenen Treffen, und mehr als einmal brachten mich die Sehnsucht und die Hoffnungslosigkeit zum verzweifeln. Doch wenn unsere Wege sich kreuzten, war all der Schmerz und Kummer vergessen, denn in diesen raren und kostbaren Momenten unserer Zweisamkeit war ich sorglos und glücklich, auch wenn ich es dir niemals so sagen oder zeigen konnte. Und wenn unsere Wege sich wieder trennten, dann verzehrte ich mich augenblicklich nach dir, mit derselben Heftigkeit und Glut, mit der wir uns zuvor geliebt hatten.
Ich halte ein knapp beschriebenes Papier in den Händen. Schon oft habe ich diesen Brief geschrieben, und ihn immer wieder den Flammentod sterben lassen. Wieso? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht hatte ich Angst, dieser niedergeschriebene Beweis meiner Liebe zu dir könnte in die falschen Hände geraten. Vielleicht aber war ich auch einfach nur zu stolz zu akzeptieren, dass diese zärtlichen Zeilen an dich meiner Feder und meinem Herzen entsprungen waren, kamen sie mir doch immer so unmännlich und weich vor. Doch heute soll der Tag sein, an dem das Papier nicht den Weg in den Kamin findet. Heute soll der Tag sein, an dem ich es behutsam falte, ihm mein Siegel aufdrücke und es mit einem Boten auf die Reise nach Minas Tirith schicke, damit du endlich meine Erwiderung auf die drei Worte, die du mir nach der ersten Vereinigung unserer Körper und Herzen zugeflüstert hast, lesen kannst. Damit du endlich weißt, dass ich nicht geschlafen habe wie du dachtest, sondern es sehr wohl gehört habe. Damit du endlich weißt, dass ich genauso empfinde wie du.
In den folgenden Nächten kann ich keinen Schlaf finden. Unruhig wälze ich mich von einer Seite auf die andere, während viele unangenehme Gedanken mir durch den Kopf gehen. War es richtig, diesen Brief auf den Weg zu dir zu schicken? War es das? Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, und überall ist Dunkelheit und Tod und Verderben. In Rohan, in Gondor… ganz Mittelerde scheint im Schatten und Unheil unterzugehen. Wir beide kämpfen täglich dagegen an, doch mit jeder verstreichenden Stunde wachsen die Verzweiflung und die Trauer in unseren Völkern und auch in uns. Der Krieg verändert die Menschen. Auch dich und mich. Kann es geschehen, dass wir uns so sehr verändern, dass wir nicht mehr zueinander finden? Können wir uns so sehr verändern, dass mein Brief plötzlich Lügen gestraft wird und ich erkennen muss, dass meine einst ernst gemeinten, niedergeschriebenen Worte nur noch leer und hohl sind? Oh wenn ich dich doch nur sehen könnte… Nur eine Minute in deine Augen blicken könnte um Antworten zu finden…
Und als hätte das Schicksal meine Klagen und mein Flehen auf wundersame Art vernommen, reitest du kurz darauf durch die Tore Edoras'. Zuerst zweifele ich an meinem Verstand, glaube an ein erbarmungsloses Trugbild, aber nein, du bist es tatsächlich. Ich gehe dir entgegen, und als wir fast auf einer Höhe sind, steigst du von deinem Pferd ab und klopfst ihm liebevoll den Hals.
„Was machst du denn hier?" frage ich etwas unhöflich, als ich endlich direkt vor ihm stehe, aber was soll ich auch sonst zu ihm sagen? Natürlich freue ich mich innerlich, ihn zu sehen, am liebsten würde ich ihm gleich hier auf offener Straße um den Hals fallen, aber neugierige Blicke von Wachen und Bürgern und auch mein eigenes Erstaunen halten mich zurück. Niemals hätte ich seinen Besuch in Rohan erwartet, nicht in diesen Zeiten, in denen sein Land und Volk kaum für sein eigenes Überleben genügend Soldaten und genügend Kraft aufbringen kann. Er wendet das Gesicht von seinem Tier ab und unsere Blicke treffen sich, und eine eiskalte Eisenklammer scheint sich um mein aufgeregtes Herz zu schließen und es erquetschen zu wollen, denn seine Augen offenbaren große Sorgen und Wehmut. So habe ich ihn noch nie gesehen.
„Ich befinde mich nur auf der Durchreise," sagt er ruhig und langsam, so als ob es ihm schwer fällt mir weitere Details zu eröffnen.
„Durchreise?" wiederhole ich fragend und ergreife die Zügel seines Pferdes, um es mit ihm gemeinsam in die Stallungen zu bringen. Und auf dem Weg dorthin erzählt er mir davon, dass Gondor kurz vor dem Fall zu sein scheint und es kaum noch Hoffnung gibt, und er erzählt mir von einem Traum, der seinen Bruder Faramir und ihn schon mehrfach heimgesucht hat. Er wird nach Imladris reiten, zu dem Elbenvolk, und Rat von Meister Elrond erbitten, und er weiß nicht, ob diese Reise überhaupt etwas nützen oder wann er zurückkehren wird. Er weiß ja noch nicht einmal, wo genau dieses Imladris überhaupt liegt.
„Ich hatte gehofft, Théoden König könne mir für diese wahrscheinlich doch recht mühsame und lange Reise ein Pferd Rohans zur Verfügung stellen," erklärt Boromir, als die Stute, die ihn hergebracht hat, in einer geräumigen, mit frischem Stroh ausgelegten Box in einer unserer zahlreichen Stallungen untergebracht ist. Ich schlucke schwer und sehe ihn nicht an, als ich dem erschöpften Tier behutsam über die sanften Nüstern streiche und erwidere, „Das versteht sich doch von selbst. Ich werde ein geeignetes Pferd für dich auswählen und es satteln und ausrüsten lassen. Wann möchtest du aufbrechen?"
Plötzlich schließen sich seine Finger um das Gelenk meiner Hand, die sein Pferd liebkost, und ich blicke etwas erschrocken zu ihm auf. Unerwartet dicht steht er neben mir und blickt mir liebevoll aber doch auch traurig und entschuldigend in die Augen.
„Éomer…" fängt er an, bricht wieder ab, holt noch einmal Luft, um dann fortzufahren, „Die Zeit drängt sehr. Du weißt das ebenso gut wie ich. Aber… ich denke, es wird reichen, wenn ich erst morgen früh meinen Weg fortsetze und für diese Nacht Unterkunft in Edoras erbitte." Wir starren einander schweigend an, bis er plötzlich leise hinzufügt, „Das heißt, falls du das überhaupt möchtest."
Seine Hand gleitet von meinem Gelenk zu meiner offenen Handfläche, und er verhakt seine Finger vorsichtig und fragend mit meinen eigenen, und ich greife entschlossen zu, halte ihn fest, und dann ist er plötzlich so nah, dass ich seinen warmen Atem auf meinen Lippen spüren kann. Ich schließe die Augen, und unsere Münder finden sich in einem langsamen, innigen und tiefen Kuss, der die eisige Klammer von meinem Herzen sprengt, es wieder wärmt und atmen lässt.
Sanft drängst du mich gegen die Wand der Box, deine Hände halten meinen Kopf während die meinen um deine Taille gleiten, und während unsere Lippen sich zärtlich aneinander festsaugen, unsere Zungen sich finden und gegenseitig necken und liebkosen, weiß ich dass obgleich geographische und zeitliche Distanzen und auch Schlachten und Krieg uns trennen, die Bande unserer Empfindungen füreinander niemals zerreißen werden. Wie hatte ich nur zweifeln können? Vergib mir…
„Natürlich möchte ich das," wispere ich gegen seinen Mund und ziehe ihn noch enger an mich. „Ich möchte dich."
Der Kuss wird heftiger. Fast fühlt es sich so an, als wären wir nicht so lange Zeit getrennt gewesen… Und fast kann ich mir einreden, dass unsere Wege sich nicht beim nächsten Morgengrauen wieder auf unbestimmte Zeit trennen werden, wenn du aufbrichst Richtung Imladris um einen Weg aus dem Niedergang zu finden…
