Part Three - Facing evil
Die Schatten werden länger,
und die Lieder werden
kalt und schrill.
Der Teufelskreis wird enger,
doch man glaubt nur,
was man glauben will.
Die Schatten werden länger!
Es ist fünf vor zwölf!
Warum hält jeder still?
(Elisabeth - Die Schatten werden länger)
Krachend entlud der Donner sich über der Landschaft und ließ all die Lebewesen erzittern. Orkanartig wehte der Wind über die Felder, durch den Wald, riss an Ähren und an Bäumen. Ein Blitz zuckte durch die Nacht, machte sie für einen kurzen Augenblick zu einer schlechten Kopie des Tages. Kurz darauf erhob sich wieder der Donner, ein weiteres Mal die Erde unter sich erschreckend.
Hogwarts hob sich im grellen Schein der Blitze deutlich vom Himmel ab. Ein dunkles Schloss vor den sich auftürmenden Wolken. Der Regen rauschte in einem dichten Netz auf es hinunter, ließ es unheimlich wirken wie in einem schlechten Horrorfilm. Doch nicht nur sein Äußeres erweckte diesen Eindruck, nein, auch im Inneren sah es so aus. Verzweiflung, Angst und Hass, überall, egal wohin man sah.
Die Kämpfer und ihre Familien zuckten mit jedem Donnerschlag zusammen, beinah erwartend jeden Augenblick von Voldemort und seiner Dunklen Armee überrollt zu werden. Erneut lag deren dunkler Schatten über dem Schloss, nun da seit langer Zeit wieder jemand von ihnen getötet worden war. So lange hatten sie keine Opfer mehr zu beklagen gehabt und nun das.
Der Sturm war ganz plötzlich aufgezogen, hatte sie alle überrascht. Und fast hätte man meinen können, Harry hätte ihn herbeigerufen.
Der junge Mann hatte Minuten nur bewegungslos vor dem Bett gestanden, auf dem die Leiche seines besten Freundes lag. Hunderte von Sekunden hatte er da gestanden, vollkommen regungslos. Kein Muskel hatte sich gerührt, nicht einmal geblinzelt hatte er, während sein Blick sich unabwendbar auf dem toten Körper gerichtet befand. Er schien nicht einmal zu atmen. Und dann war alles ganz schnell gegangen.
Aus seiner Kehle hatte sich ein Schrei gelöst, mehr wie der eines verwundeten Tieres als der eines Menschen. Eine Schockwelle war durch den Raum gegangen, Menschen flogen auf den Boden und gegen Wände, das Bett brach, die Fensterscheiben zersplitterten und die steinernen Wände bekamen Risse. In seiner unendlichen Wut schien es wie ein Wunder, dass Harry den Raum verließ und sich in seinen Trainingsaal begab. Er wusste nicht wie er dort hingekommen war, ob er den ganzen Weg gerannt war oder die Apparationssperren durchbrochen hatte. Aber es war egal, es interessierte ihn nicht. Alles was in ihn diesem Augenblick beherrschte war der Zorn, den er fühlte. Einen Zorn, unvergleichbar mit jedem anderen, den er zuvor gespürt hatte. Wie ein Meteor, der mit einer solchen Wucht aufprallte, dass er alles auf Erden zerstören konnte, war dieser Zorn auf ihn eingeschlagen, ließ ihn alles um sich herum vergessen und nur noch an Zerstörung denken.
Der ganze Raum erbebte. Die Wände, die Waffen, die sich in ihm befinden. Die losen Steine waren bald nicht mehr als ein bisschen Staub. Schwerter, Äxte und Säbel zersplitterten in einer Kakophonie von zerreißenden Stahl und ihre Splitter rissen ihm feine Wunden ins Gesicht, in Körper und Gliedmaßen. Wieder gab er einen Schrei von sich, heulender als der erste, klagender, leidender. Die Erde begann zu erbeben und drohte damit aufzubrechen und das Schloss zu verschlucken, als sich ein Paar Arme um den schlanken Körper schlangen. Harry schrie weiter. Er wollte es nicht wahrhaben. Er wollte es rückgängig machen, er wollte vergessen. Er wollte alle vergessen lassen. Warum nicht? Warum konnte er es nicht tun? Einfach untergehen, sich verschlucken lassen von der Erde, die sie einst geboren hatte. Es wäre doch so einfach, so einfach alles zu vergessen. Einfach nur zerstören. Voldemort machte es doch vor! Zerstören! Der einfachste Weg alles zu beenden! Warum nicht? Warum konnte er es nicht machen, wie der Dunkle Herrscher?
"Weil du nicht er bist", flüsterte Dracos Stimme in sein Ohr, während der Blonde seinen Griff um Harry verstärkte. "Weil du nicht tötest. Du hast ein Herz, du hast Gefühle. Du kannst leiden, Schmerz empfinden und traurig sein. Aber du kannst auch lieben, dich freuen... du empfindest Mitleid für andere und machst dir um sie Sorgen. Du! Bist! Nicht! Er! "
Harry fiel in sich zusammen. Der Zorn verschwand und der Schmerz senkte sich über ihn. Verzweifelt krallte er seine Hände in Dracos Umhang, hielt sich an dem anderen fest und weinte genauso, wie es der Himmel tat.
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Noch Stunden danach grollte der Donner über der Landschaft, jedoch abgeschwächt. Die Blitze zuckten in weiter Entfernung und nur hin und wieder. Aber der Regen strömte weiter auf das Land, unfähig sich zu zügeln und überschwemmte die Erde immer weiter.
Harry öffnete matt seine Augen. Hatte er geschlafen oder war er bewusstlos gewesen? Er wusste es nicht. Er tippte auf letzteres. Er hatte viel zu viel Kraft verbraucht, es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Aber der Zorn, den er empfunden hatte, hatte Kräfte in ihm geweckt, die er nie zuvor gekannt hatte. An diesem einen Morgen war er mächtiger geworden, als in den letzten sieben Jahren zusammen. Doch was für einen Preis hatte er dafür zahlen müssen?
Wieder sah er Rons toten Körper vor sich. Den jungen Mann, den er seit seinem elften Lebensjahr gekannt hatte. Von Anfang an waren sie Freunde gewesen, hatten so viel miteinander erlebt, miteinander gelitten. Sie hatten sich gestritten und wieder versöhnt und all das sollte jetzt ganz plötzlich vorbei sein? Es kam ihm wie gestern vor, dass sie noch zusammengelacht hatten... und mit einem Stich in seinem Herzen spürte Harry, dass es fast gestern gewesen war. Nur ein paar Tage vorher war alles noch in Ordnung gewesen, ein paar Tage zuvor war die Welt noch hell gewesen, trotz Voldemorts riesigem Schatten. Doch nun schien alles verdunkelt und Harry glaubte, dass nichts mehr diese Dunkelheit vertreiben konnte.
Trüb wanderte sein Blick nach oben. Er trug seine Brille nicht, aber es war sowieso zu dunkel im Zimmer um irgendwas erkennen zu können. Nur Draco, der direkt vor ihm lag, und ihn fest im Arm hielt, konnte er erkennen. Sein Gesicht sah friedlich aus, genauso wie es bei Ron gewesen war. Doch der Blonde atmete noch, lag nicht leblos, ohne Atmen, ohne Herzschlag. Harry fühlte wieder die Tränen aufsteigen und drückte sich näher an den anderen.
Draco verstärkte die Umarmung. Er hatte nicht geschlafen. Er hatte die ganze Zeit gewacht und den jungen Mann in seinen Armen beobachtet. Als Harry langsam einschlief zog er ihn noch ein Stückchen näher zu sich und fragte sich, ob der Schwarzhaarige noch einmal dazu in der Lage war, sich aus dem schwarzen Loch der Verzweiflung zu ziehen...
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Zwei Tage vergingen bis Ron begraben wurde. Harry war immer noch schwach, aber bestand darauf aufzustehen. Er konnte nicht im Bett liegen, er musste seinem besten Freund die letzte Ehre erweisen.
Es regnete noch immer, als sie sich auf der Wiese vor dem Schloss versammelten. Es waren nicht viele Leute anwesend. Nur Familie und die engsten Freunde. Hermine hatte eine Beerdigung im kleinen Kreis gewünscht.
Harry und Draco waren die letzten, die ankamen. Der Schwarzhaarige musste sich auf einen Stock stützen und wurde von dem anderen gehalten. Als sie langsam den Weg hinunter gingen, glitt sein Blick über die vielen Grabsteine, die sich mittlerweile auf der Wiese befanden. Er wusste nicht mehr, wie viele sie begraben hatten. Es waren zu viele, viel zu viele. Rons Grab lag neben dem Gedenkstein für Percy. Ein paar Meter weiter war Dumbledores Grab und die Steine für ihre Freunde, von denen sie wussten, dass sie tot waren. Auch Sirius' Name stand auf einem dieser Steine und Harry wusste nun wieder, wie es damals gewesen war. Wieder fühlte er sich in dieses schwarzes Loch gezogen, selbst wenn er es nicht wollte, konnte er es nicht verhindern. Er hatte keine Kraft mehr. Weder physisch noch psychisch. Er fühlte wie die dumpfe Benommenheit, in die er während seinem sechsten Schuljahr gefallen war, wieder zurückkehrte.
Remus war der einzige, der aufsah als sie beide kamen. Er stand am Kopfende des Grabes, er würde ein paar Worte sprechen. Die zwei jungen Männer traten zu Severus. Der Tränkemeister legte einen Arm um Harry. Um ihn zu stützen und um ihn zu trösten.
Arthur und Molly standen zusammen unter einen Regenschirm. Der Mann starrte verwirrt auf das Loch, seine Lippen bewegten sich, doch man konnte keine Laute darüber gleiten hören. Die Frau stand einfach nur stumm da. Fred und George hatten Bill in ihre Mitte genommen. Er war blass, zitterte und seine Augen waren trüb. Die Zwillinge sahen nicht anders aus. Ginny und Luna standen daneben. Die Blonde hatte einen Arm um ihre Freundin gelegt, die stumme Tränen weinte, während sie den Blick starr auf den Sarg ihres Bruders gerichtet hatte. Die Grangers hielten einander umschlungen, beide gezeichnet von Leid, das sie niemals erwartet hatten.
Hermine stand allein. Die Hand, die den Regenschirm hielt zitterte nicht, ihre Augen waren trocken. Ihre einstmal so sanften Gesichtszüge waren hart geworden. Abwesend strich sie mit der freien Hand über ihren dicken Bauch. Zwei Monate noch und das Kind würde kommen. Doch seinen Vater würde es niemals kennenlernen.
Remus räusperte sich und begann zu sprechen. Der Regen untermalte seine Worte mit einem sanften Rauschen und für einen Augenblick war die Welt friedlicher als je zuvor.
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War Ron nur der Anfang gewesen? Würde es nun weiter gehen? Würde jeder seiner Freunde auf bestialische Art und Weise sein Ende finden und müsste er sie alle nacheinander begraben? War es das, was ihm bevorstand? War das sein Schicksal?
Ja, er hatte damals sein Schicksal abgelegt. Vor sieben Jahren hatte er beschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen, sich nicht von höheren Mächten lenken zu lassen. Aber nun, wo er wieder in diesem schwarzen Loch versank, da konnte er nicht mehr. Er wollte nicht mehr kämpfen. Er wollte keine Entscheidungen mehr treffen. Einen vorherbestimmten Weg zu gehen, der ihn zu einem Ziel führte, zu einem Ende. Das war es, was er wollte. Egal, welches Ende es sein würde, Hauptsache es wäre endlich vorbei.
Die Tage vergingen, Harry wusste nicht wie viele. Oder ob überhaupt. Vielleicht lag er auch erst ein paar Stunden in seinem Bett und jede Minute kam ihm vor wie ein ganzes Jahr. Aß er? Trank er? Ja, wenn Draco es ihm brachte. Aber nicht viel, nur wenig. Kaum ein paar Bissen. Er schlief nicht, starrte an die Decke, Tag und Nacht, bis der Blonde ihm einen Trank einflößte, der ihn einschlafen ließ. Und dann war er wieder wach und starrte erneut vor sich hin. Dunkelheit herrschte in ihm. Sie schwebte über allem. Über seinen Gefühlen und über seinen Erinnerungen. Wer war dieser rothaarige Junge, den er immer sah? Er musste ihn einst gekannt haben. Lange. Er sah diesen Jungen als Kind, als Jugendlichen, dann als Mann. Das braunhaarige Mädchen an seiner Seite, das glückliche Lächeln auf ihren beiden Gesichtern. Wie lange war das her? War das überhaupt je passiert? Es musste doch, wenn er sich erinnerte... oder? Spielte ihm seine Fantasie einen Streich? Hatte er überhaupt jemals gelebt oder hatte er alles nur geträumt und nun kehrte er in eine Realität zurück, in der alles dunkel war?
Vielleicht war diese Realität besser. In der Dunkelheit war man unsichtbar. Man konnte nicht verletzt werden. Dort gab es weder Schmerz noch Leid. Man war zwar nicht glücklich, aber man litt auch nicht. Es war ruhig... Ruhe. Das war es, wonach sich Harry sehnte. Vollkommene, endlose Ruhe, sein einziger Traum. Und so gab er sich ihr hin...
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Draco war oft in prekären Situationen gewesen. Nicht nur, seitdem der Krieg ausgebrochen war, sondern auch schon vorher. Und bisher hatte er immer irgendwie einen Ausweg gefunden. Selbst wenn die Lage noch so aussichtslos erschien, er hatte es geschafft, irgendwie hatte er es geschafft. Aber nun war er verzweifelt. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte. Alles fiel in sich zusammen, wie ein Kartenhaus bei dem man die unterste Karte wegnahm.
Seit langer Zeit kam wieder ein Seufzen aus seiner Kehle. Es war Nacht, doch weder Mond noch Sterne drangen durch die dicken Wolken, die den Himmel nun schon seit Wochen verhüllten. Ein Monat war vergangen, seitdem er Ron gefunden und seine Leiche zurückgebracht hatte. Ein Monat, seit aus Harry die letzte Emotion gedrungen war. Anfangs hatte Draco noch geglaubt, der Junge wäre noch erschöpft von der immensen Kraft, die er freigesetzt hatte. Doch schnell hatte er gemerkt, dass dies nicht der Grund war für den trüben Blick und die Sprachlosigkeit. Harry versank wieder. Wie damals im sechsten Schuljahr fraß ihn das schwarze Loch der Verzweiflung auf und ließ nichts als eine taube, emotionslose Hülle zurück. Vor sieben Jahren war Draco in der Lage gewesen den anderen wieder herauszuziehen. Hatte nicht aufgegeben, bis auch das letzte Stückchen Dunkelheit verschwunden war. Doch diesmal schaffte er es nicht. Was er auch anstellte, es gelang ihm einfach nicht. Keine Reaktion, in keiner Weise. Er konnte froh sein, wenn er den Schwarzhaarigen zum Essen und zum Trinken bringen konnte.
Ein weiteres Mal seufzend fuhr er sich über das Gesicht. Er saß im Versammlungsraum und wartete darauf, dass der Rest des Inneren Kreises kommen würde. Aber er war sich nicht sicher, ob dies der Fall sein würde.
Der Rest der Weasleys hatte sich vollkommen zurückgezogen, selbst Charlie, der sich trotz allem noch Hoffnung bewahrt hatte über die ganzen grausamen Jahren, schien nun zu verzweifeln.
Vor ein paar Tagen hatten sie eine Schlacht geschlagen und viele ihre Männer waren verletzt geworden. Luna hatte zu viel zu tun, als dass sie der Versammlung beiwohnen konnte. Remus half ihr dabei um sie zu entlasten.
Hermine vergrub sich wieder hinter ihren Büchern. Es war wohl ihre Art über den Verlust hinwegzukommen.
Minerva versuchte wie eine Besessene andere Widerstände und Nationen zur Hilfe zu bewegen, doch ihre Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Draco hatte ihr angeboten ihre Aufgabe abzulegen, aber sie hatte ihn nur angeschrieen und weitergemacht. Der beinah wahnsinnige Glaube an Hilfe schien das einzige zu sein, was sie noch aufrecht erhielt und so ließ er sie.
Und auch wenn er wusste, dass niemand kommen würde, wartete Draco trotzdem auf den Menschen, der ihm vielleicht noch helfen konnte. Der einzige Mensch, den er jemals um Rat gefragt hatte. Ein Seufzen drang aus seiner Kehle, wusste er doch nicht, ob jene Person kommen würde.
"Habe ich dir nicht beigebracht, dass du nicht seufzen sollst?"
Überrascht hob Draco den Blick und sah Severus vor sich. Er sprang auf und umarmte ihn, klammerte sich an ihn, wie er es seit seinem fünften Lebensjahr nicht mehr getan hatte. Der Ältere erwiderte die Umarmung. Er spürte, dass sein Patenkind Halt brauchte. Er konnte ihn diesmal nicht fortstoßen wie sonst immer. Dieses eine Mal musste er ihn halten. Und so standen die beiden Männer dort im Dunkel der Nacht, festumschlungen.
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Als Draco am nächsten Morgen aufwachte, wusste er nicht, wo er sich befand. In seinem Schlafsaal war er nicht. Noch schlaftrunken sah er sich um. Ein einfacher, schlichter Raum. Auf der einen Wandseite ein großer Schrank, an der anderen das große Bett, in dem er lag. Schwarzes Bettlaken, schwarze Bettwäsche. Zwei Türen führten aus dem Zimmer hinaus. Die eine war geöffnet und gab den Blick auf gefliesten Boden frei. Das Bad. Die andere war geschlossen, aber Draco wusste, dass sie ins Wohnzimmer führte. Kurz wunderte er sich, woher er das wusste, als ihm schließlich klar wurde, wo er sich befand: Severus' Schlafzimmer. Er war seit Jahren nicht mehr dort gewesen.
Sich umsehend kletterte er aus dem Bett. Der Ältere schien weder im Raum noch im Bad zu sein. Also stand Draco auf um ihm Wohnzimmer nachzuschauen. Zuvor zog er jedoch noch die Sachen an, die auf einem Stuhl für ihn bereit lagen. Er konnte sich nicht daran erinnern irgendwo hingegangen zu sein, geschweige denn sich umgezogen zu haben. Aber wahrscheinlich hatte Severus ihn ausgezogen und in sein Bett gelegt.
Das Wohnzimmer war auch noch so, wie der Blonde es in Erinnerung hatte. Ein schwarzes Ledersofa mit einem flachen Tisch davor. Vor dem Kamin stand ein Sessel mit Fußschemel. Sämtliches restliches Möbiliär waren Regale mit Büchern. Aber auch hier war keine Spur von Severus.
Dann hörte er Schritte hinter sich und sah im Herumdrehen, wie der schwarzhaarige Mann durch einen kleinen Gang das Zimmer betrat. Ein Tablett schwebte hinter ihm her, beladen mit ein paar Brotscheiben und zwei Tassen Kaffee. Er ließ es auf den Couchtisch zum Stand kommen, nahm dann Platz auf dem Sofa und bedeutete Draco mit einem Nicken sich auch zu setzen.
Der Jüngere ließ sich direkt neben seinen Paten fallen und legte seinen Kopf auf dessen Schulter. Severus nahm eine der beiden Tassen und trank, während er darauf wartete, dass der Blonde begann.
"Wie viel Uhr ist es?"
"Kurz nach halb zwei."
Draco erschrak. So spät?! Verdammt, er musste sich doch um Harry-
"Ich hab mich um Harry gekümmert."
Der Blonde entspannte sich wieder und nahm nun auch die für ihn bestimmte Tasse Kaffee.
"Wie lang ist er schon wieder so?"
"Seit Rons Tod... ich hab alles versucht ihn wieder da raus zu holen, aber..." Er sprach nicht weiter, aber Severus hatte ja gesehen, auf was es hinausgelaufen war. Minuten schwiegen sie. Der Ältere trank seinen Kaffe, während der Jüngere seine Tasse nur fest in beiden Händen hielt, fast so, als wolle er sich an ihr wärmen.
"Alles zerbricht...", flüsterte er schließlich.
"Das habe ich gesehen."
"Ich habe alles versucht es zusammenzuhalten, aber ich habe es nicht geschafft..."
Severus sah ihn kurz an. Dann legte er mit einem widerstrebenden Gesicht einen Arm um seinen Patensohn. "Harry ist derjenige, der alles zusammenhält. Wenn er zerbricht, dann zerbricht auch alles andere."
"Und was soll ich jetzt tun?"
"Ihn da raus holen."
Draco riss sich los und schrie:
"Aber das hab ich doch schon versucht! Es geht nicht!!"
Doch Severus ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
"Du hast es schon einmal geschafft, du wirst es wieder schaffen-"
"Aber-"
"Nein! Kein aber. Hör mir zu, Draco!" Der Schwarzhaarige stellte die Tasse zurück auf den Tisch und sah dem anderen in die Augen, während er sprach. "Sieben Jahre hast du die Hoffnung nie aufgegeben, dann fang jetzt auch nicht damit an! Du bist der Grund, warum Harry nicht schon lange zusammengebrochen ist. Du hast ihm immer wieder Mut gemacht, ohne dich wäre er nichts. Du musst ihn da wieder rausholen, nur du kannst es!"
"Aber ich hab doch schon alles probiert!"
"Wenn du jetzt aufgibst, dann ist alles vorbei! Dann war alles, wofür wir gekämpft haben umsonst. Verstehst du das denn nicht? Willst du das denn wirklich?"
Draco sah in die schwarzen Augen seines Paten und zum ersten Mal war ihm, als könnte er wirklich darin lesen. Als könnte er den Schmerz und das Leid sehen, dass sich hinter Severus' kalter Maske so lange aufgestaut hatte. Er senkte den Blick. Es stimmte. Wenn Harry jetzt zerbrechen würde, wäre alles umsonst gewesen. Alles wofür er gekämpft hatte, was er aufgegeben hatte. Er seufzte wieder. Dann nickte er schwach.
"Okay, ich probier' es noch einmal."
Severus strich ihm übers Haar und der Blonde glaubte fast ein kleines Lächeln auf seinen Lippen erkennen zu können.
- - -
Prasselnd schlugen die vielen Regentropfen gegen des Fenster des Schlafsaales, fast so, als würden sie um Einlass bitten. Immer und immer wieder schlugen sie an das Glas, einmal schwächer, einmal stärker. Der Wind peitschte sie zusätzlich, der Donner untermalte ihr Klopfen. Doch alles war vergebens. Nichts drang zu dem jungen Mann hindurch, der in seinem Bett lag, und seinen Blick stetig auf die Decke gerichtet hatte.
Ein Blitz zuckte und erhellte das Zimmer für den Bruchteil einer Sekunden. Die geisterartigen Silhouetten der anderen Betten waren zu sehen, ein paar Nachttische, mehr nicht. Der Donner grollte wieder mit seiner ganzen Macht, doch der Schwarzhaarige beachtete ihn nicht. Sein Blick war stumpf, seine restlichen Empfindungen taub. In seinem Kopf herrschte nur noch Leere und Grau. Er merkte nicht einmal mehr, wie man ihm zu essen gab, geschweige denn konnte er denjenigen erkennen oder sich an ihn erinnern, der jeden Tag kam. Oder kam er nur manchmal? War er immer da? Harry wusste es nicht. Er wusste gar nichts. Er hatte alles vergessen, alles verdrängt. Nichts stach mehr durch das Grau durch. Kein rothaariger Junge, kein blonder, kein schwarzhaariger Mann. Nicht einmal mehr die roten Augen sah er, sondern einfach nur grau. Es war so ruhig. So schön ruhig in dieser Welt, in der er sich nun befand. Und es war gut so. Er würde nie wieder gehen. Er würde für immer in ihr bleiben und glücklich sein.
Wieder erhellte das grelle Licht eines Blitzes das Zimmer, wieder hoben sich Betten und Nachttische ab. Doch diesmal war da noch etwas. Ein Paar Augen funkelte silbern an der Tür, ihren Blick starr auf den im Bett liegenden Mann gerichtet. Dann verschwanden sie wieder, als das Licht verschwunden war.
Für Sekunden passierte nichts, bis der nächste Blitz kam. Die Augen waren weiter in den Raum gewandert. Erneut Dunkelheit. Weitere Blitze folgten und immer waren die Augen ein Stück weiter eingedrungen, bis sie schließlich direkt vor dem Bett des jungen Mannes standen. Kalt sahen sie auf ihn hinab, funkelnd durch einen Zorn, den man nicht beschreiben konnte.
"Ist es das, was du willst? Ist das wirklich die Welt, in der du leben willst?" Die Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, wurde beinah verschluckt vom Prasseln des Regens. Aber sie war sowieso nicht dazu gedacht, gehört zu werden. Ein abschätziger Laut kam über ein Paar Lippen. Wieder ein Blitz, kurz darauf der Donner. "Nun gut, wenn du es willst... aber es gibt leider Dinge, die kann ich nicht zulassen!" Und mit diesen Worten krallten sich zwei Hände in Harrys Hemd und zogen ihn unsanft aus dem Bett.
- - -
Selbst wenn der Schwarzhaarige dazu in der Lage gewesen wäre, sich zu wehren... selbst wenn er es gewollt hätte... Gegen Draco hätte er keine Chance gehabt! Aus dem einst zierlichen, fast schmächtigen Jungen war ein starker Mann geworden. Er konnte Harry mühelos hinter sich herschleifen und die Treppen hinaufzerren. Er achtete nicht darauf, ob er dem anderen wehtat. Er war sauer! Er war fuchsteufelswild! Und einen Draco Malfoy wütend zu machen war der größte Fehler, den es gab! Er stammte aus den zwei exzentrischsten Zaubererfamilien überhaupt! Er war eine Mischung aus Malfoy und Black! Und diese Mischung war wütend tödlich!
Zitternd vor Wut stieß er das große Schlosstor auf, nicht darauf achtend es leise zu tun oder es gar wieder zu schließen. Seine Finger waren noch immer in Harrys Hemd gekrallt und er zog ihn erbarmungslos mit über die schlammige Wiese bis hin zum Friedhof. Bei Rons Grab angekommen blieb er stehen und schleuderte Harry in den Matsch. Dann baute er sich vor ihm auf.
Wieder zuckte ein Blitz und zeigte deutlich die Schatten der beiden Gestalten, die dort standen. Der eine auf dem Boden, der andere stehend. Man hätte meinen können, es wäre ein Kampf, der dort tobte. Vielleicht war es das auch. Und vielleicht war es der entscheidenste von allen...
"Dir ist es vollkommen egal, dass du jetzt hier liegst, oder?!!", fing der Blonde schließlich an zu schreien, seine Stimme derart erhoben, dass er Regen und Donner völlig in den Schatten stellte. "Wahrscheinlich bist du sogar froh darüber! Wahrscheinlich denkst du, dass du dir so eine tödliche Erkältung holst und dann endlich abkratzt! Das ist es doch, was du willst! Sterben! Verdammter Feigling! Verdammter Idiot!"
Dracos Hände hatten sich zu Fäusten geballt und zitterten. Doch Harry zeigte keine Reaktion, lag einfach nur stumm da. Sein Blick war zwar auf den Blonden über ihn gerichtet, doch blickten die grünen Augen nur verklärt. "Oh, und natürlich weiß ich, dass es dir vollkommen egal ist, dass ich dich hier anschreie! Du hörst mir ja nicht mal zu! Aber das ist mir egal! Ich werde dir hier und jetzt die Meinung sagen und wenn es dich nicht interessiert, dann scheiß drauf! Es ist mir egal! Hörst du! Genauso egal, wie dir alles egal ist!"
Schlamm und Matsch ignorierend kniete er sich hin und packte den anderen beim Kragen.
"Weißt du eigentlich, was ich sieben Jahre lang gemacht habe? Weißt du das? Sieben Jahre lang hab ich versucht dich von diesem beschissenen Loch der Verzweiflung fernzuhalten! Sieben Jahre lang hab ich mich mit deinen Launen rumgeschlagen und du hast es mir nie gedankt!! Verdammte sieben Jahre lang hab ich versucht die letzte Hoffnung zu erhalten, die wir jetzt noch haben und was ist dann?! Dann macht es paff! und augenblicklich steckst du doch drin! Verdammt, Harry! Das Leben geht weiter! Du bist nicht Ron, du bist nicht Sirius! Du lebst verdammt noch mal! Verstehst du das denn nicht! Du LEBST!!!"
Rasend vor Wut zog Draco ihn hoch und richtete Harrys Blick nacheinander auf die verschiedenen Gräber ihrer Freunde.
"Du bist nicht wie sie! Du bist nicht tot! Glaubst du wirklich, sie wollten das?! Glaubst du wirklich, auch nur einer von ihnen würde es gutheißen, dass du dich vom Leben lossagst?! Tust du das?! Was würde Ron denn sagen? Was würde Sirius sagen?! Glaubst du, deine Eltern wären stolz auf dich, wenn sie sähen, was du hier abziehst?! Soll ich dir meine ehrliche Meinung sagen?! Wahrscheinlich würden sie dich verachten! ALLE! Jeder einzelne! Weißt du eigentlich nicht, dass das Leben das kostbarste ist, was wir haben?! Alle, die hier oder woanders liegen, haben für ihr Leben gekämpft! Für ihr LEBEN! Und was machst du?! Du schmeißt es einfach weg!"
Wieder stieß er den anderen auf den Boden, setzte sich auf dessen Hüfte und packte den Kragen erneut. In einer Mischung aus Verzweiflung und Zorn stieß er Harry immer wieder in den Schlamm.
"Ich hab es satt! Ich hab es so satt! Wochenlang hab ich mich um dich gekümmert! Ich hab dich gefüttert, dir zu trinken gegeben! Ich habe mich um dich gekümmert, wie man sich um ein Baby kümmert! Aber verdammte Scheiße, Harry! Du bist kein Baby mehr! Du bist dreiundzwanzig Jahre Alt! Dreiundzwanzig! Du bist der Anführer des Weltwiderstandes! Oh, natürlich ist mir bewusst, dass du das nie sein wolltest! Und stell dir vor! Ich kann das sogar verstehen! Mir würde das auch nicht gefallen! Niemandem würde das gefallen! Aber dich hat es nun mal getroffen! Du bist es nun mal geworden! Aber da hilft kein Selbstmitleid! Da kannst du dich nicht einfach verkriechen! Da musst du kämpfen, verdammt nochmal! Nicht für die Welt, sondern für DICH!!!"
Wieder zuckte ein Blitz und in dem Bruchteil der Sekunde, in der Harrys Gesicht zu sehen war, glaubte der andere ein Aufleuchten in den grünen Augen zu sehen.
"Mir ist die Welt so was von beschissen egal! Das glaubst du gar nicht! Wegen mir könnte sie untergehen, wenn ich nur irgendwo in Ruhe mein Leben leben könnte! Ja, das ist egoistisch, denn ich bin egoistisch und mir ist scheißegal, was andere von mir denken! Aber du bist nicht egoistisch! Du hast dieses beschissene Heldensyndrom, das mich schon immer in den Wahnsinn getrieben hat! Du kannst nicht einfach blind an jemandem vorbeigehen, der Hilfe braucht! Du kannst nicht wegschauen, wenn jemandem Unrecht geschieht! Und ich sag dir jetzt mal was, worüber du dir wahrscheinlich seit acht Jahren den Kopf zerbrichst: DAS und zwar genau DAS, ist die Macht, die der Dunkle Lord nicht hat! Er kann so etwas nicht fühlen! Er besteht nur aus Wut und Hass und das war auch schon alles! Aber du hast deine verdammten Gefühle! Das ist die Waffe, die du gegen Voldemort einsetzen musst! Gegen ihn und nicht gegen dich!!!"
Erneut wurden die beiden Männer von zuckendem Licht erhellt. Harrys Augen hatten sich verengt, seine Lippe zitterte. Aber Draco war noch nicht fertig.
"Aber das ist dir ja egal! Dir ist ja alles egal! Niemand, der gestorben ist, interessiert dich noch, nicht wahr?! Niemand! Dabei sind es so viele! Aber wen interessiert denn schon Neville und seine Familie?! Oder Dean und Seamus?! Nymphadora, Tante Andromeda, Onkel Ted! Die Ordensmitglieder! Hagrid! Professor Flitwick, Professor Sprout! Die ganzen anderen Lehrer?! Vollkommen egal, nicht wahr? Oh, und Dumbledore! Er hätte sich gar nicht opfern müssen, es war ja sowieso sinnlos! Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Voldemort uns damals alle getötet hätte! Dann müsste niemand von unseren toten Freund diese ganze Schmach mitansehen, die du über sie alle bringst! Ah, und was ist mit Percy?! Mr. und Mrs Weasley, die auch schon mehr tot sind als lebendig, weil ihr Sohn für das Leben und die Hoffnung gekämpft hat?! Aber egal, alle EGAL! Vielleicht ist Ron jetzt besser dran! Vielleicht sieht er nichts von dort, wo er jetzt ist! Das kannst du jedenfalls nur hoffen, denn du ziehst alles in den Schmutz, wofür er jemals gekämpft hat! Und weißt du, was noch besser wäre?! Wenn Hermine und das Kind auch sterben würden, denn dann müsste das Baby niemals erfahren, was der beste Freund seines Vaters dessen Andenken angetan hat!!!"
Wieder ein Blitz. Harrys Atem hatte sich beschleunigt, seine Hände hatten angefangen zu zittern. Draco beugte sich zu ihm hinab und begann bedrohlich zu flüstern, und trotz des Sturms fand jedes einzelne Wort den Weg zu Harrys Ohr.
"Aber weißt du, was ich am schlimmsten finde?! Was mich am wütendsten macht?! Erinnerst du dich noch, wer alles sein Leben für dich gelassen hat? Wer alles sterben musste, wegen dir?! Wärst du nicht gewesen, wäre Cedric vielleicht noch am Leben! Wärst du nicht so dumm gewesen, gefälschten Visionen zu glauben, hätte Sirius niemals zu deiner Rettung eilen müssen und wäre dabei gestorben! Aber das ist noch nicht alles, bei weitem nicht! Erinnerst du dich noch? Weißt du noch, wer die ersten waren, die gestorben sind und das nur wegen dir?! Ja, deine Eltern! Deine Eltern haben alles für dich gegeben, nur damit du leben kannst! Weißt du, dass ich die Geschichten kenne, die sich die Death Eater über den Tod deiner Eltern erzählen? Der Dunkle Lord tötet nicht schnell! Das solltest du langsam begriffen haben! Du weißt doch, dass er gerne spielt! Du weißt doch, dass er sich erst vergnügt! Und trotz seines Äußeren ist er immer noch ein Mann! Weißt du, was deine Mutter für eine Schmach erleiden musste, bevor er sie tötete? Weißt du, wie sehr dein Vater dabei gelitten hat, zusehen zu müssen ohne etwas tun zu können? Und weißt du, wie schwer es für deine Mutter gewesen sein muss, diese Schande zu erleben, dann ihren geliebten Mann sterben zu sehen und sich danach nocheinmal aufzuraffen um ihr Kind zu retten?! Ist dir eigentlich bewusst, dass all diesen Menschen das erspart geblieben wäre, wenn du nie auf diese Welt gekommen wärst? Wenn du nicht leben willst, warum hast du nicht gleich am Anfang aufgegeben und deiner Mutter-"
"HÖR AUF!!"
Mit ungewöhnlicher Stärke stieß Harry den anderen von sich herunter. "HÖR AUF! ICH WILL DAS NICHT HÖREN!!" Er kniete sich hin, krümmte sich zusammen und presste die Hände auf die Ohren. "ICH WILL NICHT!!"
Draco war für einen Augenblick benommen, fing sich aber schnell wieder. "Aber du musst!!"
"NEIN!!"
"DOCH!"
Von Harrys erbärmlichem Anblick nur noch wütender gemacht, riss er dessen Hände von den Ohren.
"Nein! Ich will nicht!! Lass mich!!! LASS MICH!!"
"Nein, ich werde dich nicht lassen! Ich hab dir damals versprochen niemals zu gehen und das werde ich auch tun!!!"
Harrys Augen weiteten sich geschockt. Sein Atem ging schnell und sein Herz raste. Bilder zuckten vor seinem inneren Auge auf. Weite Landschaft, Wind, er selbst hoch über allem auf den Zinnen des Nordturms mit ausdruckslosem Gesicht, nur darauf wartend für den einen Schritt bereit zu sein. Ein anderer Junge, blond, das Knallen einer Tür und der Satz, der alles verändert hatte. 'So, ich bleibe jetzt hier und beleidige dich, bis du etwas erwiderst oder springst. Glaub mir, ich gehe nicht weg!'
Minuten verhaarten sie in Stille, beide schwer atmend und sich anstarrend. Draco hielt Harrys Hände immer noch fest und spürte deutlich, wie ein Zittern durch den anderen lief. Dann traten die ersten Tränen aus den grünen Augen.
"Draco..." das leise Wimmern war kaum zu hören, aber der Blonde hatte es verstanden. Und das reichte aus, um seinen Zorn zu löschen und er nahm den weinenden Mann in seine Arme. Mit einem Seufzen drückte er ihn an sich, bevor er flüsterte.
"Harry, du musst leben..."
"Aber... aber es tut so weh..."
"Ich weiß... aber es gehört dazu."
Harry schluchzte, unfähig sich zu zügeln. Alle Empfindungen, die er so lange verdrängt hatte, die er nicht wahrhaben wollte, strömten nun aus ihm heraus. Nicht nur jene der letzten Jahre, sondern die seines ganzen Leben. Auch wenn er schon vorher geweint hatte, nie war es derart intensiv gewesen wie in dieser Nacht, in der er mit seinem Bruder im strömenden Regen saß, vollkommen durchnässt, frierend und zum ersten Mal spürend, was es hieß völlig frei zu sein.
Sie saßen lange da, unbeweglich und alles um sich herum ignorierend. Die Elemente um sie herum fochten einen Kampf, der nicht ihrer war, aber nicht weniger intensiv. Wolken kämpften gegen den Blitz. Dunkelheit gegen das Licht. Wind stellte sich dem Donner entgegen. Duellanten im Kampf um die Schreckensherrschaft. Immer und immer wieder schlugen sie aufeinander an, forderten Opfer, die zu keiner Seite gehörten, und nahmen es skrupellos und uninteressiert hin. Und dann war die Schlacht zu Ende, die Krieger ermüdet und die Waffen wurden gestreckt, ohne dass es eine Entscheidung gegeben hatte. Doch der Krieg würde weiter gehen, irgendwo, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. Und vielleicht würde er niemals enden.
"Du wirst mich niemals verlassen, oder?", wisperte Harry irgendwann. Und während Draco ihm über Haar und Rücken strich, antwortete er lächelnd:
"Ich werde bis zum Ende an deiner Seite stehen."
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In dieser Nacht hatte sich ein weiteres Mal alles geändert. Harry war wieder ins Leben zurückgekehrt oder vielleicht begann er jetzt erst richtig zu leben. Noch am selben Tag, an dem Draco ihn wieder zurückgeholt hatte, fasste er einen Entschluss. Noch bevor dieses Jahr zu Ende war, würde es eine entgültige Entscheidung in seinem Kampf mit Voldemort geben. Und bis dahin würde er trainieren so viel und so hart er konnte.
Seinen enormen Kraftschub, den er durch Rons Tod erhalten hatte, konnte Harry nach ein paar Tagen Training wiederfinden und auf diesem Niveau bleiben. Draco half ihm nicht so oft beim Training, da er zum einen nicht mehr so viel helfen konnte, nun wo es daran ging, sich mit Metall auseinander zu setzen, und zum anderen hatte Harry darauf bestanden, dass der Blonde mal eine Art Urlaub machte. Er konnte zwar nicht aus dem Schloss, aber Harry brachte ihn unter Androhung von Essensentzug dazu, ein paar Tage lang überhaupt nichts zu tun und nur faul herumzuliegen. Denn Draco hatte Recht gehabt, er hatte immer an Harrys Seite gestanden, aber dieser hatte es ihm nie wirklich gedankt. In Gedanken sicherlich, aber ausgesprochen hatte er es nie. Als er es dann schließlich wollte, hatte der andere nur genervt abgewinkt und gemeint, dass es jetzt auch egal wäre und er es nicht hören brauchte. Harry hatte geseufzte und sich mit den Launen des anderen abgefunden.
Und so verging der Mai. Der Schwarzhaarige trainierte und der Blonde faulenzte. Meistens las er irgendwelche Muggelbücher, über die er sich immer noch köstlich amüsieren konnte.
Der Rest des Schlosses bekam von Harrys Training nicht viel mit. Nur ab und zu zitterte die Erde und da Schottland nicht für seine Erdbeben berühmt war, konnte es nicht daran liegen. Aber sie hatten es bald wieder vergessen, hatten sie doch ganz andere Sorgen. Die Aktivität der anderen Mitglieder war inzwischen auch zum Erliegen gekommen. Bis auf Hermine jedenfalls. Sie fraß sich immer noch durch ganze Bücherstapel, kaum mit jemandem redend. Man sah sie nicht mehr lächeln, nur manchmal, wenn sie alleine war und das Kind in ihrem Leib sich bewegte, stahl sich ein kleines, aber trauriges Lächeln auf ihre Lippen.
Severus kam ein paar Mal vorbei, brachte Tränke und ein paar Zutaten. Zufrieden stellte er fest, dass sein Patensohn gute Arbeit geleistet hatte. Dieser wartete auf ein Lob, aber er hätte wissen müssen, dass Severus der letzte war, der etwas in der Art aussprach. Also verbrachte er den Rest des Tages damit den Älteren aus Rache zu umarmen. Severus war ausnahmsweise einmal froh wieder in seine Höhle verschwinden zu können.
Das Wetter wurde in den Maiwochen zusehends besser. Die Sonne strahlte mit ihrer ganzen Kraft auf die Erde hinab und wärmte sie. Harry verbrachte viel Zeit draußen, übte teilweise dort, machte aber auch Pausen, da er genau wusste, dass es nichts brachte sich bis aufs Äußerste zu verausgaben. Und vielleicht war das immer sein Fehler gewesen, denn er machte mittlerweile fast jeden Tag Fortschritte, bis er sich Anfang Juni schließlich entschied.
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Die Sonne versank wieder als roter Feuerball am Horizont. Die Bäume warfen lange Schatten über die Landschaft und rauschten sacht im Hauch des Windes. Die Oberfläche des Sees kräuselte sich schwach, ab und zu konnte man eine Tentakel herausgleiten sehen und dann wieder untertauchen. Ein paar der Schlossbewohner nutzten die Zeit um die Gräber ihrer Lieben zu richten. So auch Hermine.
Harry, der mit Draco ein gutes Stück entfernt am Ufer des Sees lag, sah ihr abwesend zu. Ihr Bauch spannte immer mehr und sie waren sich alle ziemlich sicher, dass das Kind bald kommen würde. Harry wusste, was er zu tun hatte.
"Was hast du vor?" Die Stimme des Blonden riss ihn aus seinen Gedanken. Harry wandte sich zu ihm und sah ihn einige Sekunden nur stumm an. Dann seufzte er.
"Dir kann ich auch nichts verheimlichen, oder?"
"Nein."
Ein weiteres Seufzen und wieder lange Zeit, bevor er sprach.
"Was glaubst du denn, dass ich vorhabe?"
Dracos Antwort kam augenblicklich. "Dem Kind eine bessere Zukunft zu bieten."
Es überraschte Harry nicht wirklich, dass der andere es wusste. Er kannte ihn mittlerweile so gut, dass er wusste, was er dachte... oder er war so gut in Leglimantik, dass Harry selbst als inzwischen doch recht großer Okklumentikmeister, es nicht merkte, wenn er in seinen Gedanken wühlte.
"Severus hat erzählt, dass nächstes Wochenende wieder eine Übernahme von einem Land geplant ist und dass dafür ein Großteil der Dunklen Armee aus Voldemorts Schloss verschwinden wird, er selbst aber dableibt."
"Und du willst die Gunst der Stunde nutzen?"
Harry nickte.
"Denkst du, du bist zu soweit?"
Wieder verging eine Weile in Schweigen. Harry hab seine Hand auf Augenhöhe und betrachtete sie. Draco beobachtete ihn dabei. Er konnte mittlerweile mühelos eine Metalltür aus den Angel schleudern. Menschen waren ebenfalls kein Problem, selbst, wenn sie von allen Seiten auf ihn zu stürmen würden. Flüche waren etwas komplizierter, aber auch dies hatte er inzwischen bewerkstelligt. Selbst Avada Kedavra.
"Ja", antwortete er schließlich bestimmt. Nach ein paar Sekunden fügte er hinzu:
"Ich nehme nicht an, dass ich dich dazu überreden kann hier zubleiben, oder?"
Draco sah ihn nur abschätzig an, was Harry Antwort genug war. "Gut, dann gehen wir halt zu zweit."
"Zu dritt!"
Beide Männer sprangen erschrocken auf, als die Stimme hinter ihnen ertönte. Sie hatten nicht gemerkt, dass sich ihnen jemand genährt hatte, konnten es sich aber auch nicht vorwerfen, als sie den Besitzer erkannten. Severus hatte schon immer eine Begabung dafür gehabt sich unbemerkt anzuschleichen.
Der Mann setzte sich zu ihnen und die beiden anderen nahmen ebenfalls wieder Platz. Harry suchte einige Momente nach den richtigen Worten, bekam aber keine Gelegenheit sie auszusprechen.
"Vergiss es, ihr geht da nicht alleine hin. Ihr seid vielleicht fähig unter viel Getöse da rein zu kommen, könnt euch somit aber erst mal den ganzen Wachen stellen. Und auch wenn es weniger sind, sind es immer noch zu viele um danach noch Kraft gegen den Lord und den Inneren Kreis zu haben."
Harry und Draco wechselten einen Blick. "Was sollen wir sonst machen?"
Severus rollte mit den Augen. "Was glaubt ihr eigentlich, wozu ich gut bin?! Ich kenne dieses Schloss, ich weiß, wie man fast unbemerkt rein und auf direktem Wege zum Thronsaal kommt. Also?"
Harry seufzte. "Okay, dann gehen wir zu dritt."
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Montag wäre es soweit, Montag würden sie angreifen. Nachdem sie es beschlossen hatten, war Draco noch eingefallen, dass Voldemort doch spüren konnte, wenn er das Schlossgelände verließ, aber Harry versicherte ihm, dass er stark genug wäre seine Präsenz vor dem Dunklen Herrscher zu verschleiern, bis er vor ihm stand.
Sie erzählten niemandem etwas von ihrem Plan, nur Remus, der auf Hogwarts und seine Bewohner aufpassen sollte. Severus schaffte es irgendwie einen Grund zu finden, ein paar Tage aus der Höhle entfliehen zu können und so verbrachte Harry die letzten Tage vor der alles entscheidenden Schlacht mit seiner kleinen Familie. Es war eine schöne Zeit, vielleicht die schönste, die sie bisher erlebt hatten und Harry war sich sicher, dass es, nachdem alles beendet war, für immer so sein würde. Er würde nicht sterben und er würde weder Draco noch Severus sterben lassen und darum würden sie in ein paar Tagen wieder so zusammensitzen können und zwar für immer.
Und dann kam der Tag, auf den die ganze Welt seit Jahrzehnten wartete. Der Tag, an dem sich alles entscheiden würde. Sie brachen bereits in der Nacht auf um den Schutz der Dunkelheit zu haben. Jedenfalls auf dem kurzen Stück, dass sie in der Umgebung von Hogwarts vor sich hatten. Um Voldemorts Schloss herum herrschte immer Nacht, das hatte jedenfalls Severus erzählt.
Remus verabschiedete sie und nahm ihnen allen das Versprechen ab auf sich aufzupassen. Er umarmte erst Harry, dann Draco - und schließlich auch noch Severus, der jedoch nicht sonderlich begeistert davon war und irgendwas von 'sentimentalen Werwölfen' murmelte.
Ihr Weg führte sie den Weg hinunter, den die Schüler früher nach Hogsmeade gegangen waren. Keiner verlor ein Wort darüber, aber sie alle erinnerten sich in diesem Augenblick daran, wie sie ihn das erste und letzte Mal gemeinsam gegangen waren: damals vor sieben Jahren, als alles begonnen hatte.
Bevor das Schlossgelände endete konzentrierte sich Harry um seinen Geist vor Voldemort zu verschleiern. Dann überschritt er die Grenze. Minuten standen sie nur da, warteten, ob etwas geschehen würde, doch niemand tauchte auf. Severus sagte ihnen, wohin sie apparieren sollten und im nächsten Augenblick waren sie mit einem leisen Geräusch verschwunden.
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Harry hatte nicht gewusst, was er erwartet hatte, aber das, was er sah, ganz sicher nicht. Sie waren in die Trümmer der Winkelgasse appariert, standen nun in einer kleinen Höhle, wo sich einstmal die Eisdiele befunden hatte. Dann waren sie unter Harrys Tarnumhang geklettert und hinausgegangen. Dort hatte der Schwarzhaarige erst einmal gar nichts gesehen, da sich ein weiterer Trümmerberg vor ihnen auftürmte, nur der Himmel war ihm aufgefallen. Verhangen von dunklen Wolken, stetig in Bewegung und doch niemals weiterziehend. Hier hatten sie den Kampf über die Sonne gewonnen. Hier hatte die Dunkelheit gesiegt.
Dann waren sie auf den Trümmerberg geklettert und Harry stockte der Atem. Hinter ihm erstreckte sich soweit er sehen konnte ein einziges Trümmerfeld. Steine, Stahl, ab und zu konnte man noch Trümmer sehen, die an Autos oder Häuser erinnerten. Weiß blitzte teilweise hinaus und Harrys Herz schnürte sich bei dem Gedanken daran zusammen, wie viele Menschen damals in der einen Nacht gestorben waren.
Doch vor dem jungen Mann spiegelte sich ein ganz anderes Bild. Harry hatte St. Paul's gesehen, Harry hatte den Buckingham Palace gesehen. Und auch wenn er nie in Rom gewesen war, hatte er auf Postkarten und im Fernsehen einen Eindruck davon gewinnen können, wie groß der Peterdom gewesen war. Doch im Gegensatz zu dem Schloss, das sich vor ihnen auftürmte, waren selbst alle drei Bauwerke zusammen, nicht mehr als ein paar kleine, verfallene Gebäude.
Eine lange Straße führte mitten durch das Trümmerfeld direkt auf das Schloss zu. Davor war der Platz, vor dem die Hinrichtungen abgehalten wurde. Ein Quadrat von mindestens einem Quadratkilometer. Riesige, endlos erscheinende Stufen führten davon zu einem noch riesigeren Tor. Direkt darüber befand sich eine Plattform, ganz vorne eine kleine Erhebung, ein paar Meter dahinter ein Thron. Der Galgen, schoss es Harry durch den Kopf. Der Ort, an dem Voldemort seine Hinrichtungen vollzog, während das Volk gezwungen wurde zuzuschauen. Neben der Plattform ragten lange und hohe Wände auf. Der Schwarzhaarige vermochte nicht zu schätzen, wie lang sie waren, genauso wenig konnte er sagen, wie weit sich das Gelände nach hinten zog. Aber er begriff nun, dass Severus recht gehabt hätte. Nur zu zweit hätten sie niemals gewusst, wo sie hätten hingehen sollen und wären am Ende vielleicht nicht einmal in Voldemorts Thronsaal angekommen.
Der Älteste der Gruppe führte die Jüngeren schließlich wieder hinunter, durch und über weitere Trümmer, bis sie irgendwann einen Geheimgang betraten.
"Warum gibt es hier Geheimgänge?", fragte Draco. Sie hatten den Tarnumhang abgelegt und benutzten Fackeln als Lichtspender, die flackerndes Licht vor sie warfen. Severus, der ganz vorne ging, antwortete ohne sich umzudrehen:
"Der Lord ist paranoid. Notausgänge, falls er angegriffen werden sollte."
Harry blinzelte verwirrt. "Wer sollte ihn denn angreifen, vor dem er flüchten müsste? Er ist der mächtigste Mann auf diesem Planeten."
Severus zuckte mit den Schultern. "Als er das Schloss hat erbauen lassen, war er noch nicht so mächtig. Wahrscheinlich fürchtete er mit einer früheren Attacke von Dumbledore."
Eine endlose Zeit gingen sie den Weg entlang. Das Licht der Flammen malte flirrende Schatten auf die Wände, ließ sie tanzen, wie in einem Beschwörungsrausch. Kein Geräusch außer ihren dumpfen Schritten war zu hören und vor, sowie hinter ihnen herrschte tiefste Dunkelheit.
Dann verlangsamte Severus seinen Schritt und er löschte die Flammen. Harry und Draco taten es ihm gleich. Der Älteste holte ein Glas hervor, in dem etwas Grünes glimmte und gerade so viel Licht vor sie warf, dass sie den Weg erkennen konnten.
"In ein paar Minuten kommt der Ausgang. Es ist ein kleines Nebenzimmer im Erdgeschoss, das normalerweise nicht benutzt wird. Es wird wahrscheinlich niemand drin sein, aber wir sollten trotzdem vorsichtig sein."
Severus' Stimme war nur ein heißeres Flüstern, doch die beiden anderen hatten es verstanden und nickten. Dann nahm Harry das Glas mit dem grünen Licht an sich. Der andere wollte widersprechen, doch mit einem Blick machte Harry ihm klar, dass er vorangehen würde.
Also schritt der junge Anführer voran, Severus hinter ihm, Draco als letzter. Sie gingen dicht beieinander um sich in der fast vollständigen Dunkelheit nicht zu verlieren. Irgendwann ging der Weg bergauf und schon bald darauf konnten sie den Ausgang erkennen. Kurz davor blieben sie stehen und lauschten, doch niemand schien sich im Zimmer zu befinden.
Der Ausgang befand sich neben einem Schrank in der Ecke. Harry trat zuerst hindurch, den Zauberstab in der Hand und erhoben. Schnell fand er heraus, dass 'klein' im Schloss des Dunklen Lords bedeutete von der Größe eines normalen Klassenzimmers. Die Wand links von ihm lag im Schatten, aber er konnte keine Bewegung erkennen, als er schnell mit dem Blick darüberhuschte. In der gegenüberliegenden Wand war die Tür eingelassen, also strebte Harry darauf zu. Doch dann bemerkte er den zuckenden Schatten links von sich.
Schnell wirbelte er herum, bereit den Angreifer außer Gefecht zu setzen. Und dort stand er, direkt vor Harry, verändert nur in einigen wenigen Aspekten. Die Haare waren noch ein wenig länger geworden, die Augen blickten kalt und hart, er trug einen langen schwarzblauen Umhang, ein riesiges Schwert in den Händen und das Dunkle Mal an seinem linken Arm.
"Hallo Harry", sein Gesicht verzog sich zu einer teuflisch grinsenden Fratze. Harry zitterte, er konnte nicht glauben, was er sah, wollte es nicht und doch war ihm im Grunde seines Verstandes bewusst, dass das dort vor ihm wahrhaftig Sirius war.
