Der letzte Todesser (Fortsetzung)


Plötzlich begann Snape zu husten. Selbst diese Anstrengung schien im Augenblick zu viel für ihn zu sein. Denn als der Anfall aufgehört hatte, lag er nach Atem ringend in den Kissen und hatte die Augen wieder geschlossen.

Harry nahm einen Becher mit Aufpäppeltrank vom Beistelltisch neben dem Bett – Madam Pomfrey hatte so etwas wohl geahnt – und er hielt ihn seinem Lehrer an die Lippen. Snape öffnete überrascht die Augen und starrte seinen Schüler an. Langsam, fast widerwillig, öffnete er den Mund und Harry neigte den Becher, damit er trinken konnte. Nach drei Schlucken war Snape so erschöpft, dass sein Kopf kraftlos in die Kissen sank.

Auf einmal war alles ganz leicht. Die Wirklichkeit, dass der gefürchtete Zaubertränkemeister in einem so beklagenswerten Zustand vor ihm lag, ließ Harrys Zweifel verschwinden.

„Ich möchte mich bei Ihnen bedanken", flüsterte Harry, „Wenn Sie Voldemort nicht von mir abgelenkt hätten, hätte ich ihn nicht überwältigen können."

Snape schwieg und blickte starr auf die gegenüberliegende Wand. Seine Atmung hatte sich jedoch wieder normalisiert. – Der Trank begann zu wirken.

„Außerdem", ergänzte Harry, „ich... ich... ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen."

Auf dem Gesicht des Kranken entstand etwas, dass Harry als Verärgerung deutete, obwohl Snapes augenblickliches Mienenspiel nur ein Schatten seines üblichen war.

„Ich hätte nicht zögern dürfen, aber... ich... ich habe mich von meinem... Hass gegen Sie ablenken lassen."

Er senkte den Blick. Er hatte es ausgesprochen. Er hatte Severus Snape gesagt, dass er ihn hasste. Aber in diesem Moment begriff er, wie kindisch dieser Hass war, denn er hätte diesem Mann fast das Leben gekostet.

Harry hob energisch den Kopf. „Das war unverzeihlich. Hätte ich mich nicht von diesem... törichten Gefühl ablenken lassen, dann... dann wären Sie nicht dem Cruciatus-Fluch so lange ausgeliefert gewesen... und Sie... lägen dann nicht hier. –" Harry schluckte. „Es tut mir Leid, Sir."

„War's das, Potter?" Snapes Stimme klang durch den überstandenen Hustenanfall noch leicht rau. „Elogen werden Sie von mir kaum zu hören bekommen."

„Das habe ich auch nicht erwartet, Sir." Harry bemühte sich, seine Stimme neutral klingen zu lassen. „Offen gestanden wollte ich mit Ihnen über etwas reden, dass ich heute entdeckt habe."

„Habe ich eine Wahl?" Die Ablehnung in Snapes Stimme war nicht so deutlich, wie der es sich vielleicht gewünscht hätte.

„Hören Sie, Professor", brauste Harry auf, „Sie hassen mich – gut. Und ich hasse Sie –" Das Letzte klang allerdings nicht sehr überzeugend. „In diesem Punkt sind wir uns einig. Habe ich ein Wort davon gesagt, dass ich von Ihnen verlange, mich als…" Harry brach ab. Seine Wut hätte beinahe jede Möglichkeit, mit diesem Mann vernünftig zu reden, zunichte gemacht.

„Professor, ich verlange keine Absolution oder so etwas. Ich werde Sie auch nicht damit belästigen, dass ich sage, dass das Gefühl, was ich für Sie hege, keinesfalls mehr Hass ist." Harry atmete tief durch. „Alles, was ich möchte, ist, Ihnen etwas zu erzählen, und dass Sie mir zuhören. Denn Sie sind in Anbetracht der Umstände wohl die am besten geeignete Person dafür."

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Snape hustete – oder war es ein Lachen? Harry konnte es nicht genau einordnen, aber er nahm es als Zustimmung und redete weiter. „Als ich heute gegen Voldemort gekämpft habe, haben sich unsere Zauberstäbe erneut verbunden. Aber diesmal war es anders als nach dem Trimagischen Turnier. Aus den Lichtperlen, die aus seinem Zauberstab kamen, wurden keine Schatten von Toten. Stattdessen... ich habe Dinge gesehen... Einzelheiten aus der Vergangenheit…"

„Und was habe ich damit zu tun?" Die Stimme des Zaubertränkelehrers hatte ihren schneidenden Tonfall verloren und klang misstrauisch, fast besorgt.

„Nun, Sir, es waren Bilder von meiner Mutter, kurz bevor sie starb."

„Lily?"

Harry war überrascht, dass Snape sich an ihren Vornamen erinnerte.

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Wäre Severus in diesem Augenblick sein übliches Selbst gewesen, wäre ihm ihr Name nicht über die Lippen gekommen. Aber auch bei ihm hatte der Tag Spuren hinterlassen, die tiefer gingen, als die Verletzungen, die der Cruciatus-Fluch zurückgelassen hatte.

Der Junge hatte zum ersten Mal seine Gefühle ihm gegenüber eingestanden. – Hass. Er hatte es schon immer geahnt und doch war er dem Jungen-der-Lebt auch heute wieder zur Hilfe geeilt. Er hatte seinen Kopf hingehalten damit Potter Voldemort unschädlich machen konnte, obwohl es ihm diesmal fast das Leben gekostet hatte.

Als Potters tödlicher Zauberspruch den Dunklen Lord traf, hatte sein Todesserzeichen schrecklicher als jemals zuvor gebrannt. Das Nächste, an das er sich erinnerte, war Madam Pomfrey, die seine Verletzungen heilte.

Unwillkürlich blickte er auf seinen linken Unterarm. Das dunkle Mal war noch dort. Genauso deutlich, wie es in den letzten Tagen gewesen war. Severus seufzte. Ein winziger, irrationaler Teil seines Wesens hatte wider besseres Wissen gehofft, dass mit Voldemorts Fall das Zeichen verschwinden würde.

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Harry hörte Snapes Seufzer und beschloss, sein Ziel entschiedener zu verfolgen. Er sprach daher weiter: „An dem Abend, als Voldemort in das Haus meiner Eltern kam, war noch jemand da – Sie!"

Snape blickte auf das Bettende und schwieg.

„Als… als…", stotterte Harry, „als Voldemort meinen Vater umbrachte, waren Sie nicht dabei. Aber als er in mein Kinderzimmer kam, nachdem meine Mutter mich zum Schutz zurück in mein Bett gesetzt hatte, da waren Sie dort. – Sie waren im Zimmer, als er meine Mutter tötete und dann seinen Zauberstab gegen mich richtete."

Harry erwartete, dass Snape antwortete oder irgendwie sonst reagierte, doch der blickte immer noch regungslos auf einen Punkt, den nur er zu sehen schien. Harry seufzte, denn damit war es klar, dass er Snape auch noch das letzte Detail erzählen musste, um von ihm eine Antwort zu erhalten. „Kurz bevor Voldemort meine Mutter tötete, sagte sie noch etwas. Es war ‚Severus! Bitte!'. – Worum hat sie Sie gebeten?"

Es breitete sich wieder Stille aus.

„Was würde es ändern, wenn Sie es wüssten?", fragte Snape mit leiser und ungewohnt sanfter Stimme.

„Ich weiß es nicht", antwortete Harry, überrascht von dieser unerwarteten Reaktion seines Lehrers, „aber ich möchte es trotzdem erfahren. Jeder hat mir bisher über die Ereignisse in Godric's Hollow nur das erzählt, was er unbedingt musste. Daraus habe ich mir den Ablauf zusammengereimt. Nur Sie passen in diesem Ablauf nicht hinein. Warum hat es nie jemand für notwendig gefunden, mir zu erzählen, dass Sie in dieser Nacht ebenfalls dort waren? Und dann muss ich erfahren, dass meine Mutter Sie – ausgerechnet Sie – um etwas bittet – und es muss ihr offensichtlich sehr wichtig gewesen sein."

Einer plötzlichen Eingebung folgend ergänzte er: „Meine Mutter ist tot, sie kann ich nicht mehr fragen. Deshalb bitte ich Sie, erzählen Sie mir, warum Sie in dieser Nacht bei ihr gewesen sind, und worum sie Sie gebeten hat."

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Severus schloss kurz die Augen, doch diesmal nicht aus körperlicher Erschöpfung. Ihm war klar, dass Potter mit der Gryffindor'schen Sturheit, die er an den Tag legte, nicht eher ruhen würde, bis er die Antwort erfahren hatte.

„Typisch Lily", dachte Severus. Doch war es richtig ihm jetzt, wo alles vorbei war, die Wahrheit zu sagen? Vielleicht war es sicherer, nicht an der Vergangenheit zu rühren.

Gefühle waren kompliziert und er war nie sonderlich gut darin gewesen, mit ihnen zurechtzukommen. Man musste ständig darauf achten, was man tat und sagte. Hass war zwar auch ein Gefühl, aber es war anders. Es war einfacher zu kontrollieren. Entweder man hasste einen Menschen oder nicht. Dazwischen gab es nichts, keine dieser störenden Zwischentöne, vor denen er sich so fürchtete. Wurde man gehasst, brauchte man keine Rücksicht auf andere zu nehmen. – Und man lief nicht Gefahr, verletzt zu werden.

„Sie wollte fliehen. Ich habe sie zurückgehalten." Es war eine Lüge und kaum, dass Severus sie ausgesprochen hatte, wusste er, der Junge würde sie durchschauen.

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Harry schüttelte langsam den Kopf. „Das ist nicht wahr. Ich weiß von Dumbledore, dass meine Eltern bereits seit dem Morgen von Pettigrews Verrat wussten. Sie wussten, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Voldemort kam. Meine Eltern hätten fliehen können, taten es aber nicht. Sie haben meine Mutter nicht zurückgehalten." – Er holte tief Luft. „Was ist in dem Zeitraum geschehen zwischen dem Zeitpunkt, als Sie nach Godric's Hollow kamen, und dem Tod meiner Mutter?"

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Severus überlegte. Doch trotz der Wirkung des Aufpäppeltranks war er noch zu geschwächt, um ernsthaft daran zu denken, diese Unterhaltung zu vermeiden. Sie war unausweichlich. Und Severus tat immer das Notwendige, folglich auch in diesem Augenblick. Der Junge-der-Lebt war stur und anmaßend... aber er hatte ein Recht auf die Wahrheit, und so entschied sich Severus für das Unvermeidliche.

„Potter, ich…" Severus zögerte. – Wenn Potter die Wahrheit wissen wollte, würde er sie ihm nicht vorenthalten, aber er würde sie ihm auch nicht auf einem Silbertablett servieren. – „Ich werde Sie nicht davon abhalten, meine Erinnerungen zu sehen. Es liegt also an Ihnen, was Sie über diese Nacht erfahren."

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Harry blickte überrascht in das schmale Gesicht. War es das, was er glaubte? Forderte Snape ihn auf, in seine Gedanken einzutauchen?

Seit jenem unsäglichen Nachmittag während seines fünften Schuljahres hatte er sich nie wieder in Okklumentik versucht. Das wusste Snape wahrscheinlich. Glaubte er, er könne so die Wahrheit verheimlichen? Aber so einfach wollte Harry ihn nicht davon kommen lassen. Er würde hier und jetzt herausfinden, was in jener Nacht in Godric's Hollow passiert war. Warum Lily Potter Severus Snape um etwas gebeten hatte.

Harry atmete tief durch und versuchte sich von seinen Gedanken zu befreien. Es war ihm damals während seines Okklumentikunterrichts nicht leicht gefallen und die Ereignisse der letzten beiden Tage machten es nicht einfacher. Von Snape würde er keine Hilfe erhalten, dessen war er sich sicher. Vorsichtig holte Harry den Zauberstab aus der Tasche seines Umhangs, richtete ihn auf seinen Lehrer, der an die Decke blickte, und sagte: „Legillimens!"

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Harry fühlte keinen Widerstand, als er in die Gedanken des anderen Mannes kroch. Doch obwohl keine fremden Erinnerungen auf ihn einstürmten, wusste er, dass dieses Nichts Snapes Gedanken waren. Soweit war er erfolgreich gewesen.

Das Nichts veränderte sich, es wurde zu einem langen, dunklen Gang und Harry fühlte sich, als würde er diesen Flur entlang rennen. Seine imaginären Schritte halten in seinem Kopf wider. Hin und wieder kam er an Türen vorbei. Manche der Türen waren geschlossen, einige einen Spalt breit geöffnet, und Harry konnte hinter ihnen Erinnerungen entdecken, die wie Bilderfolgen abliefen.

Ihm war bewusst, dass Snape mit diesen Bildern seine Neugierde reizen wollte und ihn abzulenken versuchte. Aber das würde ihm nicht gelingen. So verlockend manche Erinnerungen des Zaubertränkelehrers auch sein mochten, sie waren privat und Harry war über das Stadium hinaus, dem Reiz nachzugeben, Snapes momentane Schwäche auszunutzen. Er würde keine der Informationen, die er hierbei erhielt, benutzen, um den Menschen, der vor ihm lag, noch weiter zu kränken.

Harry hielt inne. Wenn er weiter so durch Snapes Gedanken jagte, würde er vielleicht das, was er suchte, übersehen.

Ganz am Ende des Ganges, irgendwo ihn einer Ecke von Snapes Gedanken, bemerkte er eine kleine Öffnung, eine Tür, kaum größer als eine Durchreiche. Sie war weniger deutlich zu sehen als die anderen Türen. Etwas sagte Harry, dass sich dahinter die Erinnerung verbarg, die er suchte. Snape hatte sie anscheinend weggesperrt und versuchte sie zu vergessen. Vorsichtig pirschte sich Harry an die Klappe heran. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, wäre er gerannt, wäre sie verschwunden wie eine Fata Morgana.

Behutsam streckte er eine Hand aus, um die Luke zu öffnen. Als seine Finger das Holz berührten, wurden ihre Umrisse deutlicher und die Öffnung schien sich zu vergrößern.

Mutiger, weil Snape seinem Tun keinen Widerstand entgegensetzte, drückte er die Klappe auf. Als er sie vollständig geöffnet hatte, war der Zugang so groß, dass Harry problemlos aufrecht in den Raum, der dahinter lag, gehen konnte.

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Doch er stand nicht im Kinderzimmer in Godric's Hollow. Der Ort, an dem er sich befand, war ein leeres, schlecht beleuchtetes Turmzimmer in Hogwarts. Durch eine weitere offene Tür an der gegenüberliegenden Wand gelangte er auf den Söller.

Kalter Wind pfiff um die steinernen Zinnen und Wasserspeier. An der breiten Brüstung, die nur ein paar Schritte von ihm entfernt war, lehnte eine dunkle Gestalt, deren Umhang heftig im Wind flatterte und sie damit größer wirken ließ, als sie offensichtlich war.

„Bitte", hörte Harry eine flehende Stimme hinter sich rufen, „nichts kann so schlimm sein."

Er blickte sich um und sah wenige Schritte hinter sich eine junge Frau, die aus dem Schatten des Turmzimmers herausgetreten war – seine Mutter.

„Bitte, tu's nicht", flehte sie die Person vor ihm an. Doch der Mann, dies hatte Harry registriert, reagierte nicht auf die Worte, stattdessen holte er etwas aus seiner Hosentasche. Es war eine kleine Glasflasche mit einem hellroten Inhalt.

Lily stürzte an Harry vorbei und wären es nicht Snapes Erinnerungen gewesen, hätte sie ihn sicherlich umgerannt.

„Ich lasse das nicht zu", schrie sie und hatte im selben Augenblick den Mann an seinem Ungang gepackt und nach hinten gerissen. Die beiden fielen auf den Steinfußboden. Dabei glitschte dem Mann die Flasche aus der Hand und zerplatzte auf der Erde. Eine Windböe blies einen stechenden Geruch in Harrys Richtung.

Jetzt erkannte Harry den Mann, es war Snape. Natürlich, denn es waren ja seine Erinnerungen, die er sah. Aber dass er sich hatte umbringen wollen, war seltsam. Es passte gar nicht zu dem Snape, den Harry kannte.

„Was sollte das, Schlammblut?", zischte der eben gerettete Snape. „Misch Dich nicht in Dinge ein, die Dich nichts angehen!"

Harry fühlte Wut in sich aufsteigen. Wie konnte es Snape wagen, seine Mutter zu beleidigen. Doch Lily ignorierte Snapes Schimpfen.

„Wenn jemand mit irgendeinem giftigen Gebräu seinem Leben ein Ende setzen will, dann geht mich das was an", fauchte sie und rieb sich das Handgelenk. „Auch wenn es der absolut ekelhafteste, hässlichste und hochnäsigste Mistkerl ist, den diese Schule je gesehen hat."

Snape blickte mit hasserfüllten Augen wortlos auf die junge Frau, die neben ihm auf dem Boden hockte.

„Severus", sagte sie sanft, „mich stört es schon lange nicht mehr, dass Du mich als Schlammblut beschimpfst. Ich weiß von wem es kommt. Aber es stört mich, wenn Du etwas so Kostbares wie Dein Leben wegwerfen willst."

Snape schnaubte. „Kostbar? Das ist das Letzte, womit ich meine Existenz beschreiben würde."

„Du vielleicht. Aber denk doch mal an Deine Eltern. Wie viel Kummer Du ihnen mit Deinem Tod bereiten würdest."

Snape starrte Lily an. Harry konnte ihm in die Augen sehen und erkannte darin etwas, dass er elf lange Jahre selbst verspürt hatte, Einsamkeit.

Lily schien es ebenfalls zu bemerken. Sanft strich sie Snape über die Wange. Er zuckte zusammen und versuchte die unwillkommene Berührung abzuwehren.

„Verzeih", meinte sie leise, „ich dachte, sie würden sich um Dich sorgen."

„Wahrscheinlich hätte meine Beerdigung meinen Vater lediglich dazu gebracht, in einer schauspielerischen Glanzleistung seine Abneigung für mich zu verbergen. Und meine Mutter hat schon lange aufgehört, etwas zu empfinden, dafür hat er schon gesorgt", antwortete Snape kalt. „Weder für ihn noch für meine Mutter hat meine Existenz irgendeinen Nutzen. Also, wozu diese Farce weiterführen?"

Dieser Ausbruch, dem jedes Gefühl fehlte, schockte Lily. Wahrscheinlich hatte sie diesen Selbsthass nicht erwartet, genauso wenig wie Harry.

Wollte Snape wirklich, dass er das hier sah? Jeden Moment musste er sich doch eines besseren besinnen und ihn aus seinen Erinnerungen vertreiben.

Doch nichts dergleichen geschah.

Lily schwieg. Vermutlich wägte sie die möglichen Antworten gegeneinander ab. Es verging einige Zeit bis sie vorsichtig sagte: „Jedes Leben hat einen Sinn und … vielleicht liegt der Sinn nicht im großen, sondern in den kleinen Dingen. Dinge, bei denen man genauer hinschauen muss."

Aus irgendeinem Grund machten diese Worte den Snape, den Harry vor sich sah, wütend. Aufgebracht krempelte er den linken Ärmel seiner Schuluniform hoch. „Vielleicht solltest Du hier genauer hinschauen."

Auf der blassen Haut von Snapes Arm hob sich im fahlen Licht des Mondes dunkel das Zeichen der Todesser ab.

Lily starrte auf den Arm, dann sah sie Snape fest in die Augen und sagte traurig: „Warum hast Du das getan?"

„Was kümmert es Dich. Heute war der letzte Tag, den ich an diesem grauenhaften Ort verbringen musste. Mein Wohlergehen hat Dich in den letzten sieben Jahren nicht gekümmert, warum musst Du ausgerechnet heute damit anfangen?" Snape starrte ins Leere. „Und jetzt verschwinde, damit ich mich wenigsten vom Turm stürzen kann, ohne das Du Dich einmischst."

„Du wirst nichts dergleichen tun", entgegnete Lily energisch. „Ich habe Dir eben das Leben gerettet und ich werde es wieder tun. Und das da", sie zeigte auf das Todesserzeichen, „ist zwar abstoßend, aber es muss nicht für immer sein. Es bedeutet gar nichts."

„Du bist naiv, Gryffindor", blaffte Snape. „Es bedeutet alles. Es bedeutet Macht." Seine Stimme wurde leiser. „Und es bedeutet Tod. An dem Tag, als ich es bekam, wusste ich, es würde für immer sein. Damals erschien es ein überschaubarer Zeitraum. Doch mittlerweile habe ich erkannt, dass er zu lang ist. Das habe selbst ich mit meiner armseligen, wertlosen Existenz erkannt. Die logische Konsequenz ist daher dieses Leben auf das Minimum zu kürzen. Und wenn Du mich nicht gestört hättest, wäre es schon vorbei."

Lily stand auf und blickte entschlossen zu Snape, der immer noch auf dem Boden saß. „Nun, es ist nicht vorbei. Und es wird auch sobald nicht vorbei sein – nicht, wenn ich es verhindern kann."

Harry bemerkte, dass ihre ganze Körperhaltung den jungen Zauberer einschüchtern sollte.

Snape, ungerührt von ihrer Entschlossenheit, stand nun ebenfalls auf und rollte den Ärmel runter. „Verschwinde Evans. Ich brauche niemanden, weder Dich noch sonst einen Menschen."

Nachdenklich blickte sie ihn an: „Menschen kann man entbehren, Severus. Aber manchmal braucht man einen Freund. – Ich bin nicht so anmaßend zu glauben, dass Du mich als Freund akzeptieren würdest. Aber trotzdem bitte ich Dich, geh zu Dumbledore, rede mit ihm. Was kann schon groß passieren."

„In Ordnung", verkrampft blickte Snape Lily ins Gesicht, „und wenn ich mich dann immer noch umzubringen will, hältst Du mich nicht zurück."

Lily lächelte angespannt: „Das kann ich Dir nicht versprechen. Schon vergessen, ich habe Dir das Leben gerettet und das bedeutet, ich bin von jetzt an für dieses Leben verantwortlich." Sie ging zur Tür, die in das Turmzimmer führte, und machte in Snapes Richtung eine auffordernde Geste, ihr zu folgen. „Außerdem habe ich mich noch nie vor einer Verantwortung gedrückt."

Dieser Satz hing wie eine Drohung in der Luft, als die beiden in dem dunklen Raum verschwanden.

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TBC…