Der letzte Todesser (Fortsetzung)
Harry folgte ihnen und stand plötzlich in einem anderen, hell erleuchteten Raum.
Ein überwältigendes Gefühl des Widererkennens schlug über ihm zusammen. An der Decke in der Nähe der Tür hing ein Eulen-Mobile, an der anderen Wand befand sich ein großer Schrank, daneben unter dem Fenster stand ein Gitterbett. – Dies war sein Kinderzimmer in Godric's Hollow.
Ein kleiner Junge – Harrys einjähriges Selbst – saß mit einer Decke in den Armen darin und betrachtete mit wachen Augen das, was im Zimmer passierte. Seine Mutter trat an das Kinderbett und hob ihn heraus.
Snape stand in der Mitte des Raumes. Er war älter als der, der eben noch mit Harrys Mutter auf dem Turm gewesen war. Dieser Snape hier trug den einschüchternden Kapuzenumhang der Todesser und die Maske, die normalerweise das Gesicht bedeckte, hielt er in der linken Hand. Mit der rechten umklammerte er seinen Zauberstab.
„Warum bist Du nicht verschwunden, als noch Zeit war?", flüsterte Snape und ging einen Schritt auf Lily zu.
„Was würde es bringen?", antwortete sie kaum lauter. „Soll ich denn ständig davonlaufen wie alle anderen?" Sachte verlagerte sie das Gewicht des kleinen Harrys auf ihrem Arm.
„Dann wird vielleicht Dein Sohn überleben." Snapes Stimme wurde lauter, aber die Sorge, die noch aus seinem letzten Satz herausgeklungen hatte, war einem kalten Tonfall gewichen.
„Für wie lange, Severus? Glaubst Du wirklich, Voldemort würde aufhören, nach ihm zu suchen?"
Harry registrierte mit Genugtuung, dass seine Mutter nicht vor Snape zurückwich, obwohl dieser bereits ziemlich dicht vor ihr stand.
„Verdammt noch mal, verschwinde, Lily!" Snape stand nun drohend vor ihr und starrte auf die gut einen Kopf kleinere Frau.
„Nein", sagte sie fest und hielt seinem Blick stand. Das Baby auf ihrem Arm gluckste und griff nach Snapes langen Haaren, die unter der Kapuze hervorkamen.
„Du sture Gryffindor! Wann kapierst Du endlich, dass Dein Mut hier unpassend ist!", zischte Snape wütend.
„Severus, ich werde nicht davon laufen", erwiderte sie und nahm das Baby auf den anderen Arm, damit sich Snapes Haare nicht in der Reichweite des Kindes befanden.
„Du vergisst, Evans", antwortete Snape in einem Tonfall, den Harry nur zu gut aus dem Unterricht kannte, „dass es hier nicht nur um Dich, sondern auch um Dein Kind geht."
„Nein, das habe ich nicht vergessen." Lily trat einen Schritt vor. Zwischen ihren beiden Körpern hätte man nicht einmal mehr ein Blatt Papier hindurchziehen können. „Severus, Du weißt genauso gut wie ich, dass Voldemort nicht eher ruhen wird, bis er Harry getötet hat. Und das werde ich nicht zulassen." Mit blitzenden Augen starrte sie hinauf.
Snape wandte den Blick ab und wich einen Schritt zurück. „Dann verschwinde", sagte er leise.
„Nein, das ist keine Option." Lily dämpfte ihre Stimme nun ebenfalls. „Severus, damals, als ich Dich auf dem Turm davon abgehalten habe, Dich umzubringen, habe ich Dir gesagt, ich sei von nun an für Dein Leben verantwortlich." Sie ging einen Schritt in Snapes Richtung, vermied es aber nun, zu dicht an ihn heranzutreten.
„Nicht, Lily, bitte."
Harry hatte Snape bisher nie so hilflos erlebt. Stolz blickte er zu seiner Mutter, die es geschafft hatte, diesen von allen gefürchteten Mann in die Defensive zu drängen.
„Ich gebe Dir Dein Leben wieder zurück", flüsterte sie und berührte sanft Snapes Wange – die gleiche Geste wie auf dem Söller. „Tu was Du willst, aber ich bitte Dich um eines, schütze Harry."
Harry hielt den Atem an. Doch auch hier entzog Snape sich dieser Berührung, zwar weniger heftig aber genauso nachdrücklich.
„Du weißt nicht, was Du da von mir verlangst", flüsterte er heiser.
„Doch, Severus." Lily ging zurück zum Kinderbett ohne den Augenkontakt mit ihm abzubrechen. „Ich weiß, was ich von Dir verlange. Aber Du kannst ihn schützen. Du bist dazu in der Lage." Sie setzte den kleinen Harry zurück in sein Bett, dann wandte sie sich wieder Snape zu: „Ich vertraue Dir", sagte sie schlicht.
„Du stellst mich vor eine Wahl, die ich nicht treffen kann." In Snapes Stimme schwang jetzt ein Hauch von unterdrückter Panik mit, als er vor ihr aus dem Zimmer durch die offene Tür in den Flur zurückwich.
Harry folgte ihm in den Gang.
„Die Entscheidung hast Du schon damals getroffen", antwortete Lily und ging ein paar Schritte bis sie wieder vor Snape stand, „als Du mit Dumbledore gesprochen hast."
„Lily, ich..." Sie legte ihm sanft den Zeigefinger auf die Lippen.
„Bitte, Severus. Rette Harry. Ich bitte Dich nicht, es wegen mir zu tun", flüsterte sie. „Lass es nicht zu, dass Voldemort Dich mit in den Abgrund zieht und Dich vernichtet. – Tu es für Dich, bitte."
Snape zog ihre Hand von seinem Mund weg. „Selbst wenn ich es wollte, ich besitze nicht annähernd die Macht, den Dunklen Lord aufzuhalten, geschweige denn zu töten."
„Bitte, Severus." Lilys Stimme, die bisher fest und sicher geklungen hatte, nahm nun einen verzweifelten Tonfall an. „Ich flehe Dich an, rette Harry."
Unten im Haus erleuchtete ein grüner Lichtblitz kurz die Dunkelheit. In diesem fahlen Licht sah Harry die Augen seiner Mutter. Sie blickten ängstlich zu dem Mann im Kapuzenumhang hoch.
Snape schob sie zurück ins Zimmer. Lily löste sich aus ihrer Erstarrung und lief zum Kinderbett. Schützend beugte sie sich über den kleinen Harry.
Der erwachsene Harry zitterte vor Anspannung. Er sah, wie Snape auf Mutter und Kind zutrat, seinen Zauberstab hob und „Cognatus obtego!" murmelte.
Dann befestigte Snape mit einer geschmeidigen Bewegung die Maske vor seinem Gesicht und hastete in Richtung Tür. Lily, die anscheinend die gemurmelten Worte nicht gehört hatte, rannte mit dem Baby auf dem Arm hinter ihm her.
„Severus! Bitte!", flehte sie.
Harry, der die letzen Ereignisse vom Gang aus beobachtet hatte, wandte sich in die Richtung, in der Snape verschwunden war und starrte plötzlich in die glutroten Schlangenaugen Voldemorts. Dessen dünner, schmaler Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen.
Hinter ihm, im Schatten erkannte Harry Snape, der in einer unterwürfigen Verbeugung verharrte. Lily wich zurück ins Kinderzimmer.
„Wie ich sehe, hat mein treuer Vasall dafür gesorgt, dass sich mein sehnlichster Wunsch erfüllt." Voldemorts Stimme wehte wie ein Eishauch durch das Haus. „Severus,–", kommandierte er.
In diesem Augenblick schlug Lily die Tür des Kinderzimmers zu. Voldemort lachte und hob seinen Zauberstab...
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Der helle Lichtblitz, der sich in Snapes Gedanken ausbreitete, als Voldemort die Zimmertür aufbrach, holte Harry wieder in die Realität der Krankenstation zurück. – Er hatte genug gesehen.
Snape lag mit geschlossenen Augen schwer atmend im Bett, so als ob er den Weg von Godric's Hollow nach Hogwarts zurückgerannt wäre.
Harry versuchte seine Gedanken zu ordnen. Der Cognatus-Zauber gehörte zur mächtigsten dunklen Magie, die es gab. Irgendwann im Laufe des vergangenen Schuljahres hatte Hermine ihn in einem uralten, verstaubten Buch der verbotenen Bibliotheksabteilung entdeckt. Damit hatten sie geklärt, wieso das Band des Blutes für Harry zu so einem starken Schutzschild geworden war. Es musste ein mächtiger Zauberer gewesen sein, der den Cognatus ausgesprochen hatte. – An Severus Snape hatten sie dabei nicht gedacht.
Alles was Harry in den letzten Jahren über seine Vergangenheit in Erfahrung gebracht hatte, fügte sich plötzlich zusammen. Jedes einzelne Teil lag auf seinem Platz und das Bild, das daraus entstand, war überraschend.
„Dann waren Sie es, der mir damals das Leben gerettet hat", keuchte Harry und fixierte mit den Augen seinen Lehrer.
Snape wurde unter diesem Blick unruhig. „Wenn Sie das unbedingt so sehen wollen", schnaubte er.
Harry erinnerte sich auf einmal an etwas, das seine Mutter zu Snape gesagt hatte. Zögernd stellte er fest: „Als Sie... mir das Leben gerettet haben,... da wurden Sie für mein Leben verantwortlich."
„Leider, Potter", antwortete Snape kühl, „Als mich Ihre Mutter darum bat, habe ich nur die Möglichkeit gesehen, mich aus dieser lästigen Bindung zu befreien. Dummerweise hatte ich nicht bedacht, dass ich dadurch Ihnen gegenüber eine Verpflichtung eingehen würde." Snape richtete sich etwas auf. „Ihre Mutter war eine kluge Frau, Potter. Durch ihre Bitte, Sie zu retten, hat sie nicht nur Sie am Leben gehalten."
Harry blickte seinen Lehrer unsicher an. „Sie hat damit Ihr Leben an meines gebunden", sagte er leise.
Snape nickte kaum merklich. Irgendetwas an dieser stillen Zustimmung verunsicherte Harry.
„Die vielen M-male", stotterte er, „als Sie mir das Leben gerettet haben, war das nur, weil meine Mutter Sie–"
Snape schnitt ihm das Wort ab: „Ich habe getan, was notwendig war."
„Nein", erwiderte Harry leise, „Sie haben mehr als das getan."
Er rutschte nervös auf dem Stuhl umher. Wie sehr hatte er diesen Menschen verkannt. Kein einziges Wort der Entschuldigung oder des Dankes würde auch nur annähernd ausreichen, um seine Schuld an diesem Mann abzutragen.
„Ich... bin mir im Klaren, dass ich nichts tun kann, um meine Taten... mein Verhalten Ihnen gegenüber ungeschehen zu machen. Aber ich kann Ihnen Ihr Leben zurückgeben."
„Da gibt es nichts zurückzugeben, Potter", zischte Snape, dem diese Situation offensichtlich sehr unangenehm war. „Ich habe vor zwanzig Jahren eine Entscheidung getroffen und wie ich Ihrer sich ständig einmischenden Mutter bereits damals erklärt habe, war es für immer. Der Dunkle Lord mag vielleicht tot sein, aber das hier –" und er deutete auf das Todesserzeichen „ist noch immer lebendig."
Snape ließ seinen Kopf wieder in die Kissen zurücksinken. Es wurde ruhig auf der Krankenstation. Nur seine Atmung, die sich langsam beruhigte, durchbrach die Stille.
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Harry senkte den Kopf und schloss die Augen. Wieder sah er die Bilder des heutigen Nachmittags. Severus Snape, blutüberströmt, der beinahe sein Leben verloren hätte, nur weil er, Harry, der Junge-der-Lebt, hochnäsig und selbstgefällig und eingebildet, geglaubt hatte, er könne es alleine mit allen Todessern der Welt auf einmal aufnehmen.
Snape hatte, trotz seines offen zur Schau getragenen Hasses auf Harry, ihn niemals im Stich gelassen. Und was hatte er für seinen Einsatz erhalten? Nichts. Selbst Harry hatte seinem Zaubertränkelehrer und Lebensretter weder die Achtung noch den Respekt entgegengebracht, den er verdiente. Da spielte es auch keine Rolle, dass Snapes ganze Art und sein Benehmen diese Missachtung geradezu herausgefordert hatten.
Harry hob den Kopf und blickte seinem Lehrer ins Gesicht. Es war Zeit erwachsen zu werden, und das bedeutete, dass er seine Gefühle für Snape überdenken musste. Hass verspürte er definitiv nicht mehr, welche Emotion dieses Gefühl ersetzen würde, musste die Zukunft zeigen.
Hermines Buch hatte neben dem Cognatus noch weitere mächtige Zaubersprüche enthalten. Einige davon hatten ihm heute während des Kampfes mit Voldemort gute Dienste geleistet. Vielleicht würde einer von ihnen auch nun nützen.
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Langsam beugte Harry sich vor und berührte Snapes Unterarm. Sanft strich er über die Tätowierung, die sofort dunkelrot zu glühen begann. Da Snape nur unmerklich zurückzuckte, musste sie ihm keine Schmerzen mehr bereiten.
„Ich werde Ihnen Ihr Leben zurückgeben, Sir", sagte Harry ruhig, „Das ist das Mindeste, was ich tun kann."
Er strich noch einmal mit seiner Handfläche über das Mal und flüsterte: „Vitae restituere!"
Die dunklen Linien leuchteten gleißend hell auf. Nach ein paar Sekunden verschwanden sie und auf Severus Snapes Arm blieb nichts weiter zurück als eine kleine, unförmige Narbe.
o x o x o ENDE o x o x o
A/N: Damit ihr mit meinem Küchenlatein zu Recht kommt:
Cognatus obtego – Blutsverwandte schützend bedecken
Vitae restituere – das Leben zurückgeben
