Auf den Kopf gefallen
„Ich glaube, sie kommt langsam zu sich."
„Wie kommst du darauf?"
„Ihre Nase hat gewackelt."
„Ihre Nase hat gewackelt?"
„Ja, ich habe es genau gesehen, ihre Nase hat gewackelt."
Langsam sickerten Stimmen durch die Dunkelheit, drangen in Catreenas Bewusstsein ein. Sie bemühte sich, den Stimmen zu lauschen, sie zu erkennen, doch sie waren ihr völlig fremd. Der Versuch, die Augen zu öffnen, scheiterte – sie fühlte sich noch zu schwach – und so gab sie es auf und lauschte weiter dem Gespräch.
„Ich glaube, du hast mal wieder zu viel schlechtes Pfeifenkraut geraucht, Pip!"
Hatte der gerade wirklich Pfeifenkraut gesagt? Und Pip? Nein, unmöglich – mein Unterbewusstsein spielt mir einen Streich. Ich habe ‚Herr der Ringe' gelesen, daran muss es liegen ... er hat Pip gesagt!
Sie riss die Augen auf, blinzelte und hob den Kopf ein wenig. Vor ihr saßen zwei Hobbits!
„Siehst du, ich hatte Recht, Merry!"
Catreena stöhnte leise auf, verdrehte die Augen, ließ den Kopf zurücksinken und wurde wieder ohnmächtig.
„Das hast du ja toll gemacht, Pip!"
Langsam öffnete Catreena die Augen und das erste, was sie erblickte, war ein Dach aus Blättern, hohe Baumwipfel, durch die ein strahlend blauer Himmel schimmerte. Sie kniff die Augen zusammen, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, dann wendete sie den Kopf in alle Richtungen. Sie war alleine – im Wald. Auf die Hände gestützt richtete sie sich langsam auf.
Mein Gott, hatte ich einen verrückten Traum! Saßen da doch tatsächlich zwei Hobbits bei mir, Merry und Pippin! Ja natürlich, die beiden besuchen neuerdings unser Internat! Oh je, im Internat werden sie sich totlachen über mich, weil ich vom Pferd gefallen bin. Mein Pferd! Donner, wo ist Donner?
Hastig stemmte sie sich in die Höhe, doch schon im nächsten Moment begannen sich die Bäume um sie herum zu drehen. Sie griff sich an den Kopf und strauchelte, doch noch bevor sie fiel, griffen zwei Hände von hinten unter ihre Arme, hielten sie fest und ließen sie vorsichtig zu Boden gleiten.
„Du solltest noch nicht aufstehen!"
Catreena hob den Kopf – vor ihr stand ein Hobbit.
Keine Frage, es war ein Hobbit: Dunkelblonde Locken umgrenzten das schelmische Gesicht, ohne dabei die leicht angespitzten Ohren zu verdecken. Breite Hosenträger zogen sich über ein grünes Hemd, die braune Hose reichte gerade bis über die Knie, und die nackten Füße waren behaart – er war wirklich und wahrhaftig ein Hobbit!
Langsam schüttelte sie den Kopf, wischte sich über die Augen und sah ihr Gegenüber erneut an – er war immer noch ein Hobbit.
„Ja ich glaube wirklich, ich sollte noch nicht aufstehen", seufzte sie. „Ich muss immer noch ohnmächtig sein!"
Der Hobbit sah sie fragend an, ohne, dass dabei das Grinsen aus seinem Gesicht wich.
„Du hast da aber ein mächtiges Ding auf deiner Stirn!", sagte er schließlich.
„Was?"
Ruckartig hob Catreena den Kopf, was sie im selben Moment auch schon wieder bereute, als die Sterne vor ihren Augen zu tanzen anfingen. Aufstöhnend griff sie sich an den Kopf, und erst da fühlte sie die Beule, die der Hobbit meinte.
„Oh, eine Beule!"
Mitleidig blickte der Hobbit sie an. „Wie ist das passiert?", wollte er wissen.
Catreena legte den Kopf ein wenig auf die Seite und sah ihn nachdenklich an.
Ist das nun Pippin oder Merry? Er sieht nicht so aus wie im Film. Aber natürlich, im Film war es ja auch ein Schauspieler, und das hier ist ein echter Hobbit. Oh Gott, natürlich kein echter Hobbit – ich träume ja nur ...
„Kannst du dich nicht erinnern?"unterbrach die Stimme des Hobbits ihre Gedanken.
Etwas verwirrt blinzelte sie. „Wie bitte?"
„Kannst du dich erinnern, was passiert ist?"fragte er noch einmal.
Sie nickte vorsichtig. „Ich bin vom Pferd gefallen!"
„Vom Pferd?"Zweifelnd sah der Hobbit sie an, und Catreena war sich sicher, dass er ihren Worten keinen Glauben schenkte. „Und wie heißt du? Weißt du das?"
Catreena zog die Stirn in Falten – es war nicht zu überhören, dass er ihr nicht glaubte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt: Ein Hobbit, der an ihrem Verstand zweifelte.
„Ich heiße Cat!"
Das Grinsen kehrte auf das Gesicht des Hobbits zurück.
„Ein ungewöhnlicher Name!"
Tief durchatmend beschloss sie, ruhig zu bleiben, doch der schnippische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören: „Ist dein Name besser?"
„Ich heiße Meriadoc Brandybock", antwortete der Hobbit und fügte mit einem Grinsen hinzu: „Aber du kannst ruhig Merry zu mir sagen!"
Das also ist Merry. Das ist wirklich Merry aus dem ‚Herrn der Ringe'. Ich bin auf den Kopf gefallen und träume, das ist alles. Aber es ist ein guter Traum, wenn ich einem Hobbit begegne.
„Und wo ist Pi ... Pip... dein Begleiter?", fragte sie leise.
„Du meinst Pippin? Er ist zurückgelaufen, um ein Pony zu holen, damit wir dich nach Hause bringen können. Ich glaube, wir bringen dich zur alten Gertrud. Keine Sorge, Cat, auch wenn du dir den Kopf angeschlagen hast, die alte Gertrud kriegt das wieder hin. Sie hat bis jetzt jeden wieder gesund gekriegt."
Catreena verzog nur kurz das Gesicht, dann ließ sie sich auf ein Mooskissen sinken.
Ich bin bewusstlos, ich träume nur. Ich habe heute Nacht zu lange gelesen, jetzt träume ich, dass ich in Mittelerde sei. Aber ich kann mich nicht an eine alte Gertrud im Buch erinnern. Nein nein, es ist ein Traum. Wahrscheinlich steht Angel neben mir und lacht sich krank, weil ich vom Pferd gefallen bin.
„Angel!"
Mit einem Ruck war Catreena wieder hochgefahren, und erneut erinnerten sie die tanzenden Sterne vor ihren Augen an die Beule auf ihrer Stirn. Die Schmerzen dröhnten in ihrem Kopf. Aufstöhnend nahm sie ihren Kopf in beide Hände.
Merry wusste nicht, was er tun sollte, so tätschelte er ihr nur vorsichtig den Arm: „Wer ist Angel?"
„Meine Schwester! Sie war unmittelbar hinter mir, als wir über den Fluss gesprungen sind."
Entschieden schüttelte der Hobbit den Kopf. „Wir haben niemanden gesehen hier – außer dir."Dann sah er Catreena eindringlich an. „Und es gibt hier keinen Fluss. Nur den Brandywein, und der ist fünf Meilen entfernt. Mit so einem Ding da ...", er deutete auf ihre Stirn, „... kannst du nicht so weit gelaufen sein!"
Catreena sah ihn unglücklich an, und Tränen blitzten in ihren Augen auf.
„Keine Sorge, Cat, die alte Gertrud bekommt das wieder hin!"
Kann sie mich aufwecken und dafür sorgen, dass ich zu Hause in meinem Bett liege?
Kurz darauf waren Stimmen zu hören, in die sich das leise Getrappel von Pferdehufen auf dem Waldboden mischte. Dann rief eine fröhliche Stimme: „Merry, schau mal, wen ich mitgebracht habe?"
Merry sprang auf und blieb neben Catreena stehen: „Das ist Pippin, und er hat Frodo mitgebracht."
Er eilte ihnen ein paar Schritte entgegen. Catreena beugte sich vornüber und stützte ihren schmerzenden Kopf erneut in ihre Hände.
„Sie ist ja wach!", hörte sie Pippins freudige Stimme.
„Ja, aber sie erzählt komische Dinge. Sie glaubt, sie sei vom Pferd gefallen, als sie über einen Fluss gesprungen sei. Und ihre Schwester wäre auch dabei gewesen. Und sie sagt, sie heiße Cat!"
Er hatte leise gesprochen, aber Catreena hatte ihn trotzdem gehört. Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie schluchzte leise auf.
Plötzlich berührte eine warme Hand ganz sanft ihren Arm. Catreena hob den Kopf und blickte Frodo an. Er hatte sich vor sie hingehockt und blickte sie an, und aus seinem Blick konnte sie das Mitgefühl lesen, das sich seltsam beruhigend auf sie auswirkte.
„Wein' nicht, Cat!", sagte er leise. „Die alte Gertrud heilt dich!"
„Aber ich bin nicht krank!", erwiderte Catreena trotzig.
Ohne den Blick von ihr abzuwenden, antwortete Frodo: „Du hast eine Beule am Kopf."
„Aber ich bin ..."Sie zuckte mit den Schultern: „Ach egal, ihr glaubt mir ja sowieso nicht!"
„Ich glaube dir!", sagte er leise.
Erstaunt sah Catreena ihn an: „Wirklich?"
Frodo nickte, dann griff er nach ihrem Arm und zog sie langsam vom Boden hoch. „Aber jetzt bringen wir dich zur alten Gertrud. Sie kümmert sich um deinen Kopf, und dann erzählst du mir Alles. Und ich werde dir zuhören, das verspreche ich dir!"
Kaum, dass Catreena aufgestanden war, wurde ihr wieder schwindlig und bevor sie strauchelte, klammerte sie sich an Frodos Arm fest. Sofort waren auch Merry und Pippin zur Stelle und hielten sie fürsorglich fest. Schließlich hielt Pippin das Pony am Zügel fest, während Merry und Frodo Catreena beim Aufsteigen halfen.
„Das ist ja Lutz!", stellte sie plötzlich erstaunt fest.
Die drei Hobbits sahen sich erstaunt an, doch als Merry etwas sagen wollte, stieß Frodo ihn an und schüttelte mit dem Kopf.
„Gehen wir!", sagte er schließlich.
Pippin zog am Zügel, und der brave Lutz setzte sich in Bewegung.
Der Rhythmus des langsam schreitenden Ponys, die Nähe von Frodo, der sie fürsorglich festhielt, und die Stimmen von Merry und Pippin, die Lieder sangen, wirkten beruhigend und einschläfernd auf Catreena. Langsam glitt sie nach vorne, bis ihre Wange den Hals des Ponys berührte.
Das ist nur ein Traum! Ich bin auf den Kopf gefallen! Ich wache nachher auf und ...
