Eine Nacht im Wald

Unsanft landete Angelia auf dem Boden, konnte sich ein schmerzhaftes Aufstöhnen nicht verkneifen, doch rasch sprang sie wieder auf und wollte nach den Zügeln des panisch davon galoppierenden Pferdes greifen, doch sie glitten ihr durch die Finger.

„Nein, Blitz, bleib hier, alles ist okay, bleib hier, bitte!"

Ihre Worte verhallten ungehört im Wald, während der braune Hengst davon stob. Noch lange konnte sie die fliehenden Pferdehufe auf dem Waldboden schallen hören.

Seufzend klopfte sie sich das Gras von ihrer Reiterhose, dann sah sie sich um. Diesen Teil des Waldes hatte sie noch nie zuvor gesehen. Irgendwie erschien es ihr fremdartig, gerade so, als wäre sie in einer anderen Welt gelandet.

Cat und ihre Märchenwelt-Schwärmerei! Sie macht mich noch ganz verrückt damit. Jetzt glaubte ich doch tatsächlich schon, in einer anderen Welt gelandet zu sein. Wo steckt sie überhaupt?

Mit in Falten gelegter Stirn sah sie sich erneut um. Das letzte, was sie von ihrer Schwester gesehen hatte, war ihr Sprung über den Fluss. Und als sie ihr folgen wollte, hatte sie diese seltsamen Lichter gesehen und eine rasche Aufeinanderfolge von Kälte und Hitze gespürt. Und dabei hatte sie Catreena aus den Augen verloren.

„Cat? Cat, wo steckst du?", rief sie laut, während sie suchend ein paar Schritte umher lief. Dann blieb sie wieder stehen und sah sich erneut um.

Woher bin ich gekommen? Wo ist der Fluss? Wir sind doch über den Fluss gesprungen. Bin ich soweit davon abgekommen bei meinem Sturz, dass ich ihn jetzt nicht mehr sehe? Ich sollte nicht zu weit weggehen, damit Cat mich findet und wir uns nicht verlaufen.

„Cat!"

Angelias Stimme hallte durch den Wald, brach sich an den Bäumen und fiel als Echo von allen Seiten auf sie zurück. Einige Vögel flatterten erschreckt auf, das Trappeln kleiner Pfoten im Unterholz war zu hören, die panisch davon eilten.

Erschrocken von der Kraft der eigenen Stimme und dem vielfachen Echo war Angelia auf der Lichtung erstarrt, lauschte nur angestrengt, bis wieder Ruhe herrschte. Seltsam, so intensiv hatte sie noch nie die Geräusche des Waldes wahrgenommen.

Langsam setzte Angelia einen Fuß vor den anderen, sich immer wieder in alle Richtungen umsehend.

„Cat, wo bist du denn? Antworte doch!"Inzwischen klang leichte Verzweiflung in ihrer Stimme mit.

Sie war alleine, in einem Wald, der ihr so fremd war wie eine ganz andere Welt. Ihr Pferd war durchgegangen, ihre Schwester verschwunden, und zu allem Übel brach nun auch noch die Dämmerung über die Baumwipfel herein. Angelia kniff die Augen zusammen und starrte zum Himmel. Sie spürte, wie die Panik in ihr aufstieg.

Wir sind am Vormittag los geritten und nun dämmert es? Wie kann das sein? Was geschieht hier Seltsames?

„Cat, verdammt noch mal, ich habe keine Lust, die Nacht in diesem ... komischen Wald zu verbringen! Komm jetzt endlich her!"Sie dämpfte noch während des Rufs ihre Stimme, als erneut ihr eigenes Echo schallend laut über sie hereinbrach, dann schluckte sie.

Noch immer hatte sie sich nur wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem sie gestürzt war, doch nun musste sie einsehen, dass es keinen Sinn hatte, länger hier zu verweilen. Vielleicht war Catreena verletzt, ohnmächtig, deshalb antwortete sie ihr auch nicht.

„Ich muss zurück zum Fluss und sie finden!", sagte sie sich selbst.

Sie drehte sich nach allen Seiten, spähte durch die Bäume hindurch, suchte nach Anhaltspunkten, wo sie sich befand. Schließlich entdeckte sie etwas Schimmerndes. Das musste der Fluss sein. Hastig lief sie los, ohne das silberne Band aus den Augen zu lassen.

Heftig ging ihr Atem. Sie achtete weder auf Steine noch auf Wurzeln, stolperte immer wieder, fing sich ab, bevor sie fiel, und lief weiter, auf den Fluss zu, doch er kam und kam nicht näher. Schließlich blieb sie stehen, lehnte sich gegen einen Baum und rang nach Luft.

Der Fluss ist weiter weg, als ich dachte. Aber wie kann das sein? Ich kann ihn doch deutlich sehen. Er scheint mir so nahe zu sein, aber so weit ich auch laufe, er bleibt immer noch entfernt.

Nur eine kurze Verschnaufpause gönnte sie sich, dann lief sie weiter. Die Sorge um ihre Schwester und die aufkeimende Angst vor diesem seltsamen Wald trieb sie voran, immer schneller. Das silbern glitzernde Band war längst vor ihren Augen verschwommen.

Angelias Lauf wurde langsamer, müder, trotzdem gab sie nicht auf. Ihre Jacke blieb an einem Busch hängen und wütend zerrte sie daran. Plötzlich gab die Jacke nach, riss und sie stolperte vorwärts, blieb stehen und riss die Augen auf. Sie war am Fluss.

Es war bereits tiefste Nacht. Dunkelheit hatte sich über den Wald gelegt. Nur der Mond schimmerte hell, tauchte den Fluss in jenen silbrigen Glanz, dem Angelia gefolgt war, und warf gespenstige Lichter auf die umstehenden Bäume.

Angelia schluckte. Das war nicht der Fluss, über den sie und Catreena mit ihren Pferden gesprungen war. Er war viel breiter und gewundener, und auf der anderen Seite setzte sich der Wald fort, ebenso wild und fremdartig wie auf dieser.

Sie fühlte, wie heiß die Tränen aufstiegen. Verzweifelt rief sie: „Cat, wo bist du denn nur? Cat!", dann sank sie auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Noch einmal flüsterte sie leise: „Cat!"

Sie kam sich verloren vor. Irgendetwas war geschehen, als sie über den Fluss gesprungen waren, irgendetwas, dass sie weder benennen noch begreifen konnte. Alles, was sie wusste, war, dass sie in einer Gegend war, die sie nicht kannte, und dass ihre Schwester irgendwo war und vielleicht ihre Hilfe brauchte und sie konnte sie nicht erreichen.

Plötzlich war ihr, als hörte sie das helle, fröhliche Lachen ihrer Schwester. Sie riss den Kopf hoch, dann stand ruckartig auf. Das Lachen schien den Fluss hinabzugleiten, und Angelia lief am Ufer entlang.

„Cat, wo bist du?"Ihre Stimme klang nun sicher und bestimmt, kein Echo war zu vernehmen. Ihr Herz schlug heftig.

Erneut war das Lachen zu hören, dann wurde es schwächer, verflüchtigte sich in der klaren Nachtluft. Angelia blieb stehen. Hatte sie sich das nur eingebildet? Gerade, als sie zu zweifeln begann, fuhr ein Windhauch über ihre Haut, ließ sie erschauern.

„Angel, hilf mir! Finde mich! Ich weiß nicht, wo ich bin, und ich bin verletzt. Bitte hilf mir, Angel, hilf mir ... hilf mir!"

Es war Catreenas Stimme, die der Wind flüsterte, so als würde er ihre Worte gestohlen und davon getragen haben. Panisch drehte sich Angelia um sich selbst, ihre Augen suchten hektisch die Gegend ab.

„Hilf mir ... hilf mir ... hilf mir ... hilf mir!"

Schwächer und schwächer wurde die Stimme, bis sie gänzlich verschwand.

„Cat – nein!", schrie Angelia sich ihre ganze Angst vom Herzen.

Wieder sah sie sich um, und alles war beängstigend. Die Bäume bildeten eine bedrohliche Mauer, als wollten sie ihr sagen: Uns entkommst du nicht mehr. Ihr Blick schien Nahes und Fernes nicht voneinander unterscheiden zu können. Und noch dazu all diese Geräusche: Eulen und Uhus, die sich zuriefen; Fledermäuse, die auf Jagd gingen; Tiere, die durch Wald trabten; das Rauschen der Blätter; das Heulen des Windes; das Plätschern des Flusses. Angelia schien in einen Strudel der Wahrnehmung zu geraten. Alles um sie herum begann sich zu drehen und auf sie einzustürzen.

Wieder sank sie auf ihre Knie, dann presste sie die Arme um ihren zitternden Leib. Leise jammerte sie: „Cat, wo bist du nur? Cat, komm doch zurück zu mir – bitte!"Die Tränen brannten auf ihren Wangen, tropften in ihren Ausschnitt. Diese Nacht war furchtbar und noch nie zuvor hatte sie eine solche Angst empfunden wie in diesem Moment.

Und dann hörte sie Schritte. Noch waren sie weit weg, aber sie näherten sich rasch. Es waren leise Schritte, leicht und federnd, wie jemand, der kaum den Boden berührte.

„Cat?", wimmerte sie leise, dann gab sie sich selbst die Antwort, schüttelte den Kopf. Das konnte nicht Catreena sein, sie würde rufen, schreien, laufen, rennen, um sie zu finden.

Ein Schauer lief Angelia über den Rücken; die Angst kroch ihre Kehle hinauf, legte sich wie eine eisige Hand um ihren Hals; ihr Herz klopfte, als wollte es gleich zerspringen. Und die Schritte kamen immer näher.

Hastig sah sie sich um. Sie brauchte ein Versteck, ein gutes Versteck, und zwar schnell. Die Schritte waren bereits sehr nahe, sie dröhnten in ihren Ohren. Angelia lief ein paar Schritte, hielt inne, lief in eine andere Richtung. Ihre Augen zuckten durch die Dunkelheit, auf der Suche nach einem Versteck. Hier gab es nur Bäume, nichts als Bäume.

Dann eben auf einen Baum! Sie sprang in die Luft, hangelte nach einem Ast, bekam ihn auch zu greifen und zog sich daran hoch, genau in jenem Moment, als die Schritte die kleine Lichtung erreichten, auf der sie eben noch gestanden hatte. Leise, bemüht, keinen Ton von sich zu geben, hockte Angelia auf dem Ast, presste sich gegen den Baum, kniff die Augen zusammen und wagte nicht, zu atmen.

Minuten vergingen, in denen nichts geschah. Keine Schritte waren zu hören, weder näher kommende noch sich entfernende Schritte. Schließlich öffnete Angelia langsam die Augen. Obwohl sie sich kaum traute, sich zu bewegen, drehte sie schließlich den Kopf ein wenig und lugte am Baum vorbei zur Lichtung.

Dort stand jemand. Sie konnte eine schemenhafte Gestalt wahrnehmen. Dieser Jemand stand unbeweglich da und schien zu ihr hinauf zu starren. Auf seinem Rücken hing etwas, dass Angelia als einen Bogen ausmachte.

Er starrt mich an! Er kann mich sehen!

Ihr Atem stockte. Unwillkürlich krallten sich ihre Finger ins Holz, ihr Körper war angespannt, als erwartete sie jeden Moment einen Angriff. Doch nichts geschah. Die Gestalt stand einfach nur reglos da.

Weitere Minuten vergingen, in denen sich niemand rührte. Angelia war ratlos. Was sollte sie tun? Hier auf dem Baum saß sie in der Falle. Sie wusste nicht, wie lange sie es in dieser unbequemen Position noch aushalten konnte, ihr ganzer Körper schmerzte bereits. Wenn sie aber von Baum herunterklettern würde, würde diese Gestalt sie sehen. Sie konnte also nicht fliehen, sie musste hier verharren.

„Wie lange willst du dich dort auf dem Baum noch verstecken?"

Die Stimme war warm und freundlich, die Stimme eines Mannes. Angelia hielt erneut den Atem an.

Er mag freundlich klingen, aber tun Mörder das nicht immer!

Sie drückte ihre Wange gegen die Baumrinde und lugte erneut am Baum vorbei. Der Mann war ihr ein wenig näher gekommen, nah genug, um mit ihr zu sprechen, doch nicht nahe genug, um sie angreifen zu können.

„Du musst keine Angst haben – ich tue dir nichts!"

In der Stimme klang etwas Tröstliches mit; etwas, dass tief in Angelias Herzen Vertrauen erweckte, doch sie kämpfte dagegen an, redete sich ein, dass er ein gefährlicher Mörder wäre.

„Ich verspreche es dir!"Unbemerkt war die Person unter den Baum getreten und sah zu ihr auf.

Panik ergriff erneut Besitz von Angelia. Sie blickte nach oben, überlegte, wie sie fliehen konnte. Der nächste Ast war weit weg, doch eine andere Möglichkeit gab es nicht. Noch einen Moment lang zögerte sie, dann schnellte sie plötzlich in die Höhe.

Sie spürte die Baumrinde in ihrer Hand, hörte ein Knacken, als der Ast nachgab, dann griffen ihre Hände ins Nichts.