Kapitel 2

Seltsame Eröffnungen

„He, lasst mich hier gefälligst raus!"

Gil-Galad lief wie ein gefangenes Tier in dem kleinen Baumhaus auf und ab und warf hin und wieder den beiden Wachen, die vor der Tür standen, einen bitterbösen Blick zu, doch sie ignorierten sowohl ihn als auch seine Rufe. Nach seinem Zusammentreffen mit den beiden Bogenschützen hatte er ihnen sehr schnell eröffnet, wer er war und was geschehen war – mit der Konsequenz, dass er jetzt hier festsaß.

Sie hielten ihn offenkundig für geisteskrank und hin und wieder kam ihm der Gedanke, dass es so sein musste. Er erinnerte sich an sein Leben, sein ganzes langes Leben in dem geschmeidigen Körper eines Mannes mit flammenden Haaren und einer großen Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen. Er war ein Krieger gewesen – bis zu dem Moment, in dem Saurons Armee seinen sterblichen Körper niedergemäht hatte.

Und dann eine lange Zeit des Nichts. Er runzelte die Stirn. Warum war er wieder an diesem Ort? Hinter seiner Schläfe pochte ein Gedanke, drängend, doch der Gedanke lag verborgen wie ein Stein unter Wasser, auf den man blickt und den man mit einem geraden Griff doch nicht ergreifen kann, weil das Auge sich täuschen lässt.

War er wirklich geisteskrank? So etwas hatte er nur bei den Menschen und bei schwindenden Elben gekannt – doch der Körper, in dem er steckte, war elbisch und zudem, so wusste er, dem Tode geweiht gewesen. Doch er hatte das Messer des Orks aus seinem Leib ziehen und sie besiegen können, mit seinem Wissen aus dem alten und der jugendlichen Kraft seines neuen Lebens.

Er trat zu dem kleinen Tisch, auf dem neben Früchten und einem Krug mit klarem Wasser auch einige typisch weibliche Utensilien lagen. Ein widerwilliges Lächeln zuckte um seine Lippen, als er einen blankpolierten Spiegel aus Silber ergriff und hineinblickte. Fast hätte er gelacht – ein Teil seines Selbst hatte erwartet, rotes Haar und ernste, graue Augen zu sehen.

Doch die Iris war grün wie das Moos unter den Bäumen und sein Haar schwarz wie eine Krähenfeder. Nun lachte er wirklich. Er war zum Verlieben schön und er war sich sehr sicher, dass er sich selbst den Hof gemacht hätte, damals, vor vielen Jahren- . Vielen Jahren?

An der Tür entstand Bewegung und die Wachen wichen zur Seite. Er wirbelte herum und erstarrte in der Bewegung, als sich eine Elbin zur Tür herein bewegte, mit leisen Schritten wie ein Hauch von Wind und Licht. Gil-Galad stieß einen Seufzer aus. Er kannte dieses Gesicht, hatte es im Zweiten Zeitalter gesehen und nun erkannte er diesen Ort, zu dem man ihn geführt hatte.

Er war in Lothlorien und dies war Galadriel. Noldor, von seinem Blut. Und er war ihr König. Auf irgendeine seltsame Art, zugegebenermaßen.

„Galadriel", sagte er mit der seltsamen Frauenstimme, die aus seiner Kehle drang und an die er sich noch gewöhnen musste. Hinter ihr wurde er der zwei jungen Krieger gewahr, die er im Wald getroffen hatte. Die Herrin des Waldes lächelte ihn an.

„Die bin ich – und mit wem habe ich das Vergnügen?"

„Gil-Galad, aber das werden Dir Deine Krieger schon berichtet haben – nachdem sie mich in diesem Raum eingesperrt haben."

Kurzes Schweigen entstand und einer der jungen, blonden Elben scharrte verlegen mit dem Fuß. Galadriel trat weiter in den Raum hinein und verschränkte die Arme hinter dem schlanken Körper.

„Eine reine Sicherheitsmaßnahme", versicherte sie, weiterhin freundlich, doch Gil-Gald spürte, wie etwas, was weit hinter ihren Augen lag, ihn zu durchforschen begann. Er öffnete seinen Geist, da er ahnte, was mit ihm vor sich ging und bemühte sich, ihr Zutritt zu seinem Geist zu verschaffen. Einige Bilder drängte er bewusst in den Vordergrund. Die Schlacht mit Saurons Armee. Seine Rüstung, blau und silbern, funkelnd wie die Stern am Himmel. Und Galadriels Gesicht, das er bei einem Besuch in Lothlorien schon einmal gesehen hatte.

Dann war es vorbei und Galadriel taumelte einen Schritt zurück. Ihre blauen Augen weiteten sich erschrocken und fasziniert.

„Und, glaubst Du mir jetzt, Galadriel?"

„Ich kann kaum glauben, was ich sehe", murmelte sie leise und presste ihre Fingerspitzen an die Schläfen. „Ein Leben, das nicht in diesen Körper passt. Nur warum? Warum jetzt?"

„Was ist das Jetzt?", fragte Gil-Galad höflich.

„Das Dritte Zeitalter. Es mehren sich die Zeiten, dass -."Sie brach ab und schickte die Krieger sowie die Wachen mit einer jähen Handbewegung fort. Als sie alleine waren, ließ sich Galadriel auf der Kante des Bettes nieder, schön und königlich anzusehen. Ein Moment verging, in dem sie sich zu sammeln schien. „Die Zeit der Großkönige ist vorbei und die Zeit der Elben in diesen Gestanden ebenfalls. Und dich mehren sich Beweise dafür, dass Sauron zurückkehren wird. „ Sie machte eine Pause. „ Wenn Du der bist, der Du vorgibst zu sein, musst Du wissen, dass Sauron besiegt und gebannt wurde. Sein Ring ging verloren, aus Isildurs Händen, doch nun gibt es Grund zu glauben, dass er gefunden wurde – und dass erneut ein dunkles Zeitalter heranrückt. Vielleicht ist das der Grund -.?"

„Der Grund, warum ich hier bin? Ich weiß es nicht, Galadriel."Er hob die ungewohnt schmalen Schultern und trat zu ihr. „Aber ich werde es herausfinden."

Galadriel nickte kurz und erhob sich wieder. Sie reichte Gil-Galad die Hand, der sie vorsichtig in die seine nahm.

„Ich denke, wir sollten Elrond fragen", schlug sie vor. „Er wird wissen, was zu tun ist."

Bei dem vertrauten Namen hob sich Gil-Galads Herz wie bei keiner anderen Erinnerung zuvor. All die Bilder in seinem Kopf waren nicht von Emotionen begleitet gewesen, aber beim Klang von Elronds Namen war ihm, als sei jegliche Bürde auf ewig von ihm genommen. Er nickte. Ja, er wollte Elrond sehen.