3. Kapitel

Briefe vom Ligusterweg

„AAAAARH!"

Harry fuhr aus dem Schlaf hoch. Er zitterte am ganzen Leib, sein Kopf dröhnte peinvoll und ein stechender Schmerz, von seiner Stirn ausgehend, verbreitete sich in seinem ganzen Körper. Vor seinen Augen war alles wie vernebelt, er konnte nicht erkennen, wo er war, und wollte an nichts zurückdenken, wollte sich nicht mit Gedanken an den schrecklichen Traum beschäftigen, aber die lebhafte, furchtbar reelle Erinnerung an diesen steckte noch tief in ihm. Er, Harry, hatte einen Mann gefoltert... aber eigentlich hatte er ja alles nur durch Voldemorts Augen gesehen, er war erneut in dessen Geist eingedrungen..., langsam lichtete sich der Nebel vor seinen Augen, er wusste nun wo er war, aber mit den Gedanken kehrten auch die Erinnerungen an seinen Traum um so stärker zurück. Der Schmerz in seiner Narbe loderte nochmals für einen kurzen Augenblick auf, er drang ihm durch alle Glider; Harry wusste, dass der Mann, wer immer es auch war, in diesem Moment den Rest seiner Bestrafung erhalten hatte.

Allmählich ließ das Brennen seiner Narbe nach, sie schmerzte nicht mehr, ziepte nur noch ab und zu. Harry setzte sich in seinem Bett aufrecht hin und zog sich die Decke weg, er brauchte nun frische Luft, um sich etwas abzukühlen und sich zu beruhigen. Das T-Shirt, das er anhatte, war von Schweiß durchnässt und klebte, genau wie seine Bettdecke, an seinem Körper. Kurz darauf hatte sich Harry endlich aus seiner Bettdecke gewurstelt und stieg aus seinem Bett heraus, trat auf den kühlen Parkettboden, und ging zum Fenster; vorsichtig stieg er dabei über die überall am Boden verstreuten Bücher und Pergamentblätter hinweg, dann öffnete er sein Zimmerfenster, das mit einem Quietschen aufging, und blickte, die Arme auf das Fensterbrett gelegt, hinaus in die dunkle, sternenklare Nacht.

Ein kühler Luftzug strich Harry über das Gesicht, es war ein wenig windig draußen, die Blätter und Äste der Bäume raschelten im sanften Wind und irgendwo weiter weg schuhute eine Eule. Harrys Eule hingegen, Hedwig, ein hübsches, schneeweißes Exemplar, war im Moment ausgeflogen, ihr Käfig stand leer, aber im baldigen Morgengrauen würde sie bestimmt mit einer Maus in den Fängen von ihrer nächtlichen Jagd zurückkehren. Während Harry ruhig an seinem Fenster stand, die sich langsam verziehende Nacht betrachtete, und versuchte seine Gedanken auf irgendetwas interessantes draußen zu lenken, nur um das Geschehene seines Traumes nicht noch einmal Revue passieren zu lassen, wurde es draußen immer heller. Bald aber konnte er nicht umhin, seine Gedanken kehrten zu seinem Traum zurück, Harry betrachtete eine Katze, die draußen auf dem Bürgersteig des Ligusterwegs seltsam steif umherstolzierte, aber nichts war an ihr sonderlich interessant, sodass es die Gedanken an die Vision verdrängen könnte. Sie kehrten zu Harry zurück und er sah die Bilder in seinem Kopf vor sich, wie bei einem Film...

Der Mann schlich langsam durch einen schwach beleuchteten Gang, die Wände und der Boden schienen aus massivem Stein zu sein, entlang. Harry folgte ihm, er wusste nicht genau wo er hier mit diesem Mann herumlief, aber er kannte diesen Ort irgendwie und irgendwoher... Es kam ihm vor, wie wenn er ihn schon so oft besucht hätte, obwohl er sich nicht erinnern konnte, aber er kannte ihn seltsamerweise...

Woher nur , dachte Harry angestrengt, er wollte es unbedingt wissen, was wollte Voldemort nur hier?

Es ging immer weiter hinein, bis sie vor der Tür stehen blieben... Sie glänzte silbern, ein großes Schlüsselloch war in der Mitte eingelassen, aber nirgends war ein Schlüssel zu sehen und zu finden...

Wo kann das nur sein? Und was ist da hinter der Tür, das Voldemort unbedingt haben will?

Harry dachte lange nach, aber er konnte keine Antwort auf die Fragen finden. Er kannte einfach keinen solchen Ort, auch wenn es ihm so vorkam, wie wenn er ihn kennen würde, und er könnte sich auch nichts vorstellen was dahinter sein könnte, nachdem Voldemort mit aller Kraft verlangt.

Und warum , erinnerte Harry sich, hat Voldemort einen Todesser oder was auch immer es war dort hin geschickt, wenn es doch so wichtig ist... Warum kommt er nicht selbst und holt es sich? Ist an dem Ort, wo es aufbewahrt wird, jemand den er fürchtet? Aber das glaubte Harry nicht, es gab niemanden den Voldemort fürchten würde, außer...

Während Harry so nachdachte, er war eigentlich froh darüber, dass er sich an diese Stelle seines Traumes erinnerte, und nicht an die, in der Voldemort den Mann grausam folterte, wurde es draußen jetzt immer heller, der Morgen war im Ligusterweg angebrochen, bald würden die ersten Autos die Straße hinunterfahren, die Leute würden zur Arbeit gehen, und Harry würde sich wahrscheinlich mal wieder den ganzen langen Tag langweilen. Wenn er nicht mal ab und zu ein paar Briefe von seinen Freunden Ron und Hermine oder Hagrid bekommen hätte, dann wüsste er nicht mehr was er hier nicht tun sollte. Es gab nichts, was er hätte machen können, denn:

Aber einfach abhauen kann und darf ich absolut nicht... Dumbledore hat ja gesagt, dass...

Dumbledore. Wenn Harry auch nur an ihn dachte, stieg ziemliche Wut in ihm hoch, Wut auf einen Mann, der ihm jahrelang den Grund, warum Voldemort ihn überhaupt töten wollte, verheimlicht und vorenthalten hatte. Harry wusste nicht was er machen würde wenn er Dumbledore in nächster Zeit wieder sehen würde, wie er sich verhalten sollte... Er vermochte es ja nicht, die ganze Zeit wütend auf ihn zu sein...

Aber ihm gleich verzeihen, so sehr Dumbledore sich auch entschuldigen würde, konnte Harry nicht.

Aber Ron und Hermine mussten von seinem Traum erfahren, auch wenn es schwer werden würde, ihnen davon zu berichten... , entschloss sich Harry kurz darauf.

Er suchte auf seinem Zimmerboden kurz nach einem Pergamentblatt das groß genug war, fand es gleich unter seinem Lieblingsbuch „Fliegen mit den Chuddley Channons", dieses hatte er einmal von Ron zu Weihnachten geschenkt bekommen und hatte es mittlerweile bestimmt schon hundertmal gelesen, kramte eine Feder von seinem Schreibtisch, tauchte sie kurz in sein Tintenglas, dessen Inhalt langsam zu Neige ging, setzte sie auf das Pergament und fing an zu schreiben.

Lieber Ron,

ich hatte heute mal wieder einen sehr seltsamen Traum.

Harry hielt inne. Klang das nicht irgendwie so, wie wenn er ständig diese doofen Träume hätte?

Also noch einmal neu, er strich den Satz durch und schrieb stattdessen:

Heute Nacht habe ich seit langem wieder einen sehr seltsamen Traum oder eine Vision, wie man es nennen will, gehabt. Ich war, wie damals, du weißt schon, im Kopf von Du-weißt-schon-wer, und habe genau alles mit angesehen. Er saß in einem komischen düsteren Raum, und hat mit einem anderen Mann, wohl einem Todesser geredet. Charles oder so ähnlich, hat er ihn genannt. Sie redeten über irgendetwas, was er unbedingt haben will, und was an einem Ort liegt, den dieser Charles auskundschaften sollte. Dann hab ich gesehen, wie er Du-weißt-schon-wer den Ort in seiner eigenen Erinnerung gezeigt hat. Es war in einem Steingang, dunkel, ich weiß nicht wo, aber ich glaube ich kenne den irgendwo her. Seltsam, findest du nicht? Auf jeden Fall hat dieser Mann Du-weißt-schon-wer den Gang entlang geführt, und irgendwann blieben sie vor einer großen Tür, die so silbern glänzte, stehen.

Und dann war's das fast, sie konnten nicht weiter, ich weiß nicht was dort hinter sein könnte, und dann hat Du-weißt-schon-wer den Mann noch gefoltert, und ich bin aufgewacht.

Komisch oder? Was hältst du davon? Ich werd Hermine dann auch schreiben, und gib mir bitte rasch Antwort.

Harry

Fertig. Er legte die Feder zu Seite und besah sich den Brief noch mal. Halt, da fehlte noch etwas.... Harry schnappte sich die Feder noch einmal und fügte hinzu:

PS.: Wie läuft es so bei euch? Verträgt sich Percy wieder mit euch? Was macht der Scherzartikelladen so?

Harry rollte den Brief zusammen, band ihn zu, und sah sich nach Hedwig um, sie müsste jetzt eigentlich von ihrer Beutetour zurückgekehrt sein. Ein kurzer Blick auf seinen Wecker, der auf seinem Schreibtisch stand, sagte ihm, dass es 8:24 war. Die Dursleys mussten jetzt langsam auch aufstehen, denn während so manch anderer heute arbeiten ging, hatte sich Vernon für zwei Wochen frei genommen. Dann fiel Harrys Blick auf den Käfig seiner Schneeeule, und jetzt war er nicht mehr leer. Hedwig saß stolz in ihm, heute war keine Maus, die sie sich gefangen hatte, zu sehen, und als Harry sich zu ihr wandte fiepte sie leise und blinzelte ihm mit ihren großen Bernsteinaugen freundlich zu. Froh darüber, dass sie jetzt endlich da war, ging er zu ihr hinüber.

„Da bist du ja, meine Süße... Na, war die Mäusebeute diese Nacht nicht so reichlich?"

Hedwig blickte ihn erneut an und fiepte nochmals, sie hatte wohl doch genug zu fressen gehabt, verstand Harry, und sagte zu ihr: „Also, hör mal zu, kannst du den Brief bitte schnell zu Ron bringen? Und einen anderen dann noch zu Hermine?"

Sie nickte leicht und schuhute kurz, wie wenn sie ihm damit sagen wollte, dass sie immer alle Briefe schnell und zuverlässig zustellte. Harry wusste das natürlich, auf seine Hedwig konnte er sich gut verlassen.

Er tauchte seine Feder erneut in die Tinte, und schrieb einen zweiten, besorgten Brief an Hermine, er schilderte ihr ebenso wie Ron, was er in der letzten Nacht geträumt hatte.

Etwa eine viertel Stunde später war Harry auch mit diesem Brief fertig und rollte ihn sorgfältig zusammen und band ihn fest zu. Er trat zu Hedwigs Käfig hinüber und lockte sie heraus, sie hüpfte ihm auf den Arm und streckte brav ihr Bein aus, sodass Harry die beiden Briefe leicht daran binden konnte, er streichelte Hedwig noch mal und trug sie dann zu seinem Zimmerfenster.

„Nun Hedwig, du weißt was zu tun ist, bring die Briefe zu Ron und Hermine!"

Hedwig kniff ihm leicht in den Finger, um ihre Zuversicht zu zeigen, und breitete ihre Flügel aus und flog majestätisch aus dem offenen Fenster hinaus, dem Sonnenaufgang entgegen. Harry blickte ihr nach, bis sie am Himmel verschwunden war. Sein Wecker zeigte 8:07, die Dursleys mussten jetzt wohl langsam aufgestanden sein, und unten in der Küche des Ligusterwegs Nr. 4 sitzen, und frühstücken.

Harry zog sich schnell um, alte Jeans und ein ebenso altes T-Shirt, räumte noch schnell seine Feder und die leere Tintenflasche weg und machte sich auf den Weg nach unten.

„Diese verdammten Trottel haben die Erdölpreise schon wieder erhöht", hörte Harry, der gerade die Treppe hinunterlief und über die dritte, knarrende Stufe hinweg sprang, Onkel Vernons Stimme aus der Küche kommen.

„So machen die es uns normalen Bürgern, die ihr Leben lang gearbeitet haben, noch schwerer, man sollte wirklich etwas dagegen unternehmen..." knurrte Vernon jetzt.

Harry lief durch den Flur, öffnete die Küchentür und sah die drei Dursleys mitten am Tisch sitzen. Onkel Vernon saß am Ende des Küchentischs, vor sich, wie jeden Morgen, die neuste Ausgabe der Zeitung ausgebreitet, die er jetzt genaustens studierte und dabei an jedem Artikel etwas auszusetzen hatte. Dudley saß rechts am Tisch, er stopfte sich gerade ein Brot mit viel Schinken in den Mund, etwas anderes tat er morgens beim Frühstück sonst nie. Dennoch war nicht mehr so dick und gewaltig wie vor einem Jahr, denn das Boxtraining in das er jetzt ging, hatte ihn verändert. Und sein Umfeld, jeder seiner gleichaltrigen Freunde hatte jetzt noch mehr Angst vor ihm, angesehen von Harry natürlich. Aber Harry war ja auch keineswegs Dudleys Freund. Petunia saß am anderen Ende des Tisches und aß ebenfalls ein Brot, mit sehr spitzen Lippen, so wie Harry sie eigentlich nur von seiner Lehrerin aus Hogwarts, Professor McGonagall kannte. Natürlich reagierte niemand darauf, dass Harry gerade in die Küche gekommen war, zwar hatten es die drei Dursleys wohl bemerkt, aber alle blieben ruhig sitzen und aßen und lasen weiter.

„Moin..." versuchte Harry es leise, aber im Grunde war es ihm egal ob sie auf ihn reagierten oder nicht.

Vernon räusperte sich „Wenn du schon so hier hereinplatzt, dann könntest du wenigstens etwas freundlicher ‚Guten Morgen' sagen, klar Junge?" schnauzte er Harry an, während Dudley breit in sein drittes Schinkenbrot hineingrinste.

„Jaah, morgen wird ich's versuchen, schon gut..." antwortete Harry, und holte sich einen Teller aus dem Küchenschrank, denn die Dursleys hatten ihm keinen auf den Tisch gestellt, und setzte sich Dudley gegenüber an den Küchentisch. Etwas Butter und Käse, zu mehr hatte Harry heute Morgen keine besondere Lust. Er erwartete nämlich bald die Posteule, die ihm seine abbonierte Ausgabe des Tagespropheten bringen sollte. Normalerweise müsste sie schon früher da sein, meistens fing er sie in seinem Zimmer ab. Harry hatte den Tagespropheten wieder bestellt nachdem das Ministerium und er aufgehört hatten Lügen und Gerüchte über ihn zu verbreiten, jetzt konnte Harry ihn wieder in Ruhe lesen ohne ständig über irgendwelche Anschuldigen und erfundene Lügen über sich selbst darin zu finden.

Nachdem er fertig gegessen hatte stand Harry vom Küchentisch auf. Die Dursleys hatten sich weiterhin über die Zeitung ausgelassen und Dudley weiterhin gegessen. Harry wollte grade zur Tür hinaustreten, da hörte er Onkel Vernons Stimme hinter sich.

„Junge, einen Moment noch."

„Was gibt's?" Erstaunt, was Vernon wohl von ihm wollte, drehte sich Harry zu ihm um.

„Du weißt was ich meine...du-" Vernon machte eine Andeutung, und langsam verstand Harry es. Vermutlich wollte Vernon ihm mal wieder sagen, er soll unbedingt an den Phönixorden schreiben, er sollte ihnen und besonders Moody, vor dem Vernon die meiste Furcht hatte, schreiben, wie gut es ihm hier gehe und wie gut sie ihn hier behandeln würden. Aber es gefiel Harry, dass Vernon sich mal wieder nicht traute dies vor ihm auszusprechen. Deshalb mimte er schön den Ahnungslosen.

„Was meinst du denn? Ich versteh nicht ganz..." lächelte Harry.

Vernon atmete tief durch.

„Also, du weißt doch was ich meine, schreib diesen- nun ja- Leuten" schnaubte er. „Schreib ihnen, dass hier alles gut läuft, klar?"

„Ach sooo, na dann, vielleicht mache ich das dann..." grinste Harry.

„D-Du-, Junge, du tust was ich dir sage, klar?"

„Jaah, schon okay" Harry lachte und immer noch mit einem Grinsen auf den Lippen stürmte er die Treppe wieder hoch, zurück in sein Zimmer.