Kapitel 6
Wie können Nächte so unterschiedlicher Natur sein? Wohl unter dem gleichen Himmel Mittelerdes, glich die Nacht unter dem dunklen Firmament in Rohan kein bisschen der, welche sie in Bruchtal immer aus dem Fenster beobachtet hatte. Oder war sie es, die sich verändert hatte? In ihrem Gemach sitzend, ihrer menschlichen Müdigkeit trotzend, hatte sie keine Ahnung gehabt von Leiden, von Schmerzen, von Tod. Sie hatte immer schon geglaubt, mit ihren drei Jahrtausenden vieles gesehen zu haben, aber jetzt musste sie sich eingestehen, dass ihr ungewöhnlich wenig in ihrem langen Leben widerfahren war. Zu welchem Zeitpunkt kann man behaupten, bewandert zu sein? Hörte das Lernen überhaupt jemals auf?
In der sicheren Dunkelheit der Nacht saß Élwen auf dem hohen Vorsprung Meduselds, ihre Beine gekreuzt, mit den Augen die Position der Sterne bestimmend. Sie kam sich klein vor,... und menschlich. Schmunzelnd dachte sie an die etlichen Nächte, in denen sie versuchte, krampfhaft wach zu bleiben, wie ihre Geschwister, nur das sie keinen Schlaf brauchten. Es war der einzige verlässliche Hinweis auf ihre sterbliche Seite, sie brauchte nicht viel, aber doch mehr Schlaf als zum Beispiel Legolas.
Doch jetzt konnte sie nicht ruhen, die Ereignisse des Tages gingen ihr durch den Kopf. Sie war eigentlich immer redegewandt gewesen, warum hatte sie Éomer nicht kontern können, als er sie beleidigt hatte? Und das hatte er, das war ihr nach einigem Überlegen klar geworden. Als er äußerte, dass sie nichts von Überlebenskämpfen wüsste, dass sie durch ihr Leben in Bruchtal verwöhnt sei, er hatte es nicht wörtlich gesagt, aber Élwen vernahm die Botschaft hinter den Sätzen. Sie hatte auch die Frauen Rohans gesehen, die für ihre Männer am Herd standen und putzten, glaubte er, dass sie nicht den Mut besaß, so übermächtigen Kräften entgegen zu treten?
Doch gleichzeitig kamen auch Zweifel in ihr auf, ja..., habe ich mir diese Frage jemals selber gestellt?
Die Orks hatten ihr keine Probleme gemacht, der erste Streich mit ihrem Schwert fiel ihr schwer und sie hatte seitdem nach jedem Kampf Gebete zu den Valar geschickt, sich ihrer Seelen anzunehmen, doch das war nach einer Weile zur Gewohnheit geworden, würde sie den gleichen Mut aufbringen, wenn Größeres, Gewaltigeres vor ihr stand, in der Lage, sie mit einem mal ausholen zu töten. Würde dann ihre menschliche Seite ihren Tribut fordern?
Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie zuerst die Gestalt nicht merkte, die sich ihr näherte, und überrascht ihren Dolch zog, als sie dann doch die Schritte vernahm.
„Wer ist da?"
„Beruhigt euch, hier in Edoras braucht ihr keine Furcht zu haben im Schlaf erstochen zu werden."Éomer blieb neben ihr stehen, den Blick in die Ferne schweifen lassend.
„Ich habe keine Angst."Élwen ließ ihren Dolch zurück in seine Scheide gleiten und setzte sich wieder hin.
„Das habe ich bereits gemerkt.... Anscheinend bin ich nicht der Einzige, der keinen Schlaf findet."Er ließ sich ebenfalls nieder , Élwen fiel auf, dass er seine schwere Rüstung abgelegt hatte und nun normale Kleidung trug, die Théodens sehr ähnelte.
„Ich bin eine Elbin, wie ihr bereits sicher wisst, brauche ich keinen Schlaf, mein Herr." Ungebrochener Stolz schwang in ihrer Stimme mit, Éomer wartete ein paar Sekunden, dann antwortete er in ungewohnt weichem Ton:
„Ich weiß, dass ich euch in eurer Ehre verletzt habe und es tut mir leid. Ohne euch und eure Gefährten wäre mein Onkel wahrscheinlich nie aus den Fängen Grimas entkommen. Selbst ich vermochte es nicht, ihm zu helfen..." Élwen blickte zur Seite, die Trauer in seiner Stimme hatte sie aufmerksam gemacht und es tat ihr leid, dass sie ihn so barsch angefahren hatte.
„Macht euch keine Gedanken,"antwortete sie leise, „ihr wart ja im Recht, eigentlich weiß ich nichts von der Härte des Lebens, selbst als Elbin. Ich musste nie darum bangen, meine Heimat zu verlieren....nein, anstatt mich zufrieden zu geben mit dem was ich hatte, wollte ich sie verlassen und hinter mir lassen. Mir wurde der Frieden zuwider,"ein spöttisches Auflachen entrang sich ihrer Kehle, „ paradox, nicht wahr?"
Éomer sah sie an.
„Warum?"
„Was meint ihr?"
„Warum seid ihr gegangen, warum habt ihr euch dieser Mission angeschlossen?"
Sie dachte kurz nach, bevor sie antwortete.
„Kennt ihr dieses Gefühl, wenn es euch in den Fingern kribbelt, wenn ihr ruhelos in euren Gemächern herumwandert, mit dem Gefühl, etwas tun zu müssen, etwas zu verpassen, woran ihr teilhaben müsstet, wenn euch das Gewohnte nicht mehr genug ist, weil ihr ahnt, dass es noch viel mehr gibt, was euch erwartet, und dass ihr gerufen werdet...."Sie stockte kurz, sie sprach etwas aus, woran sie vorher noch nicht gedacht hatte, sie hatte tatsächlich diesen Ruf vernommen....
„Und wenn ihr das Gefühl habt, das alle an eurem Leben teilhaben, nur nicht ihr selbst...", vollendete Éomer ihren Satz. Er blickte ihr in die Augen. Dann sah er wieder an den Horizont. „Manchmal erdrückt selbst mich dieses Gefühl. Ich, der als stärkster Mann der Riddermark gelte. Mein ganzes Leben habe ich nichts anderes gemacht, als dieses Land gegen Orks zu verteidigen, nichts anderes... ,und ab und zu kommt dieser Zweifel, ob es sinnvoll ist, noch weiter zu kämpfen, ob es nicht einfacher wäre, das Schwert beiseite zu legen und das Leben einfach zu genießen, der Tod kommt so oder so, ob ich ihn verleumde oder nicht..." Er senkte den Kopf.
Gedankenverloren sah Élwen in die Sterne, dann wieder zu dem Mann an ihrer Seite, der plötzlich gar nicht mehr so unverwundbar aussah, wie am Tage.
„Gibt euch euer Gewissen auch eine Antwort auf diese Fragen?"
Er schaute wieder auf und seine Gesichtszüge wurden energisch. „Weil ich es nicht zulassen kann, dass auch nur ein Einwohner Rohans leidet. Ich liebe dieses Land mehr als mein Leben und mein Herz leidet, wenn auch nur ein Busch zertreten wird, ein Haus brennt, ein Lebewesen getötet wird, dass von mir gerettet hätte werden können. Es ist mein Schicksal, ich kann mich nicht dagegen wehren und ich will es auch nicht, ich fand mich irgendwann damit ab..."
Zum ersten Mal empfand Élwen Zuneigung zu diesem Mann, den sie bisher für kalt und hart gehalten hatte. „Ob Mensch oder Elb, die wesentlichen Probleme des Lebens sind die gleichen... Mir geht es ähnlich wie euch, nur dass ich noch nicht weiß, wie mein Schicksal aussieht...auf jeden Fall nicht mich zu vermählen, wie es mein Vater am liebsten sehen würde..."
Éomer blickte sie überrascht an. „Ihr und den Bund eingehen, verzeiht, aber das könnte ich mir kaum vorstellen."Er lächelte zum ersten Mal, seit sie ihn kannte.
„Was ist daran so lustig, bin ich als Kriegerin nicht weiblich genug, als dass ich einen Mann glücklich machen könnte?"
„Nein, versteht mich bitte nicht falsch, ich denke einfach, dass ihr zu... stark seid, um lediglich hinter einem Gemahl zu stehen. Er würde Angst bekommen, dass ihr ihn einen Kopf kürzer machtet, wenn er seine Schale nicht leert."
Jetzt musste auch Élwen lachen. "Übertreibt ihr nicht etwas?"
„Oh, glaubt nicht, dass ich nicht mitbekommen hätte, wie ihr heute in Meduseld Grimas Schergen geschlagen habt, entsprach ganz und gar nicht meiner Vorstellung von elbisch."
„ Das seid ihr von den Frauen Rohans nicht gewöhnt, nicht wahr?"
„Nein, wahrlich nicht, die Tradition gebietet ihnen, früh zu heiraten und die Familie zu versorgen, die meisten sind noch nicht mal in der Lage, eine Waffe zu halten. Es ist... erheiternd zu sehen, dass auch furchtlose ,doch nicht minder weibliche Wesen existieren. Ihr werdet euch bestimmt gut mit meiner Schwester verstehen, sie ist es auch leid, die Maid spielen zu müssen. Doch als Mitglied der Königsfamilie wird sie höchstwahrscheinlich eine politische Verbindung eingehen müssen."Sein Lächeln erstarb. „Während des langen Weges heute werdet ihr genug Zeit dazu haben..."
Als er zuende gesprochen hatte, fiel Élwen auf, dass gerade die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages Edoras berührten.
