Kapitel 10
Der nächste Tag brach heran und das geschäftige Wuseln in der Festung ging weiter. Nachdem Élwen ihr Frühstück allein und schweigend eingenommen hatte, stieg sie auf den Wall über dem Haupttor. Es gab für sie nichts mehr zu tun und sie konnte die Gesellschaft der vielen Menschen nicht ertragen. Sie sehnte sich nach der Ruhe Bruchtals.
Nach einer Weile trat Éomer leise an sie heran, eine ganze Weile sagte er nichts, ließ seinen Blick nur über den Himmel schweifen.
„Seit wir hier sind, erlauben uns die Wolken keinen Blick auf die Sonne....Falls wir hier angegriffen werden sollten, sehen wir unsere Feinde erst, wenn sie bereits vorgerückt sind."
Sie standen eine Weile schweigend nebeneinander.
„Éomer....ich danke euch, wegen gestern, meine ich." Er schaute sie von der Seite an.
„Hätte ich geahnt, was diese arme Frau vorhatte, hätte ich euch nicht hinzugeholt, ihr solltet mir nicht danken."
„Vielleicht gab es einen Grund, dass ich dies miterlebte. Ich... es war befreiend, alles rauszulassen, was sich mit der Zeit immer tiefer in mich hineinreingefressen hatte.."
„Ich muss zugeben, dass ich mich schon gefragt hatte, wie ihr eure ganzen Gefühlen unterdrücken konntet. Euch ist viel passiert, selbst ich blieb all die Jahre nicht ohne eine Träne. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eure Seele das nicht mehr verkraften konnte."
„Es war töricht von mir,..."Élwen ärgerte sich über sie selbst. „So vielen fehlt der Respekt vor mir, weil ich eine Frau bin, trotz meines elbischen Blutes, irgendwie hatte ich gedacht, dass ich keine Schwäche zeigen dürfte."
„Ich sagte euch bereits, dass ich euch nicht für schwach halte, Élwen, ich habe Achtung vor jedem, der sein Land und seine Leute verteidigt,...ich....das ist doch... Aragorn! Öffnet das Tor!"
Von Éomers plötzlichem Aufschrei verwundert, sah auch sie in die Richtung, auf die er zuvor seine Augen gerichtet hatte und nahm wahr, wie sich ein dunkelbraunes Pferd auf Helms Klamm zubewegte. Das war doch nicht möglich!
„Aragorn!"
Sie lief direkt auf ihn zu, ohne auf seine Erschöpfung zu achten, fiel sie ihm um den Hals, als ob seine Rückkehr den unmittelbaren Sieg über Sauron ankündigte.
„Du glaubst gar nicht, was es für ein Glück ist, dich wohlauf zu sehen! Uh, du solltest dich bald reinigen, du riechst furchtbar!" Über den ungewohnten Redeschwall von Élwens Seite überrascht, begrüßte Aragorn sie, Éomer und Gimli, der ihm das gleiche über seinen Geruch mitteilte.
„Aragorn, euer Kommen bereitet den Leuten neue Hoffnung, die wir nicht in der Lage waren, ihnen zu geben..."Eine leichte Eifersucht schwang in Éomers Stimme mit, „ich meinerseits bin froh, dass unser Heermeister lebt."
„Danke, Éomer, doch ich glaube, ihr seid euch eurem eigenen Einfluss nicht bewusst, die Männer sehen in euch ihren künftigen König, nicht ihn mir. Doch ich habe wichtiges mit dem König zu bereden. Folgt mir..."
„Wie viele sind es?"
„Zehntausende, eine riesige Armee von Orks, Uruk-Hais und anderen Geschöpfen, die nur für diese Schlacht gezüchtet worden sind." Eine gespannte Stille trat ein, alle warteten nur auf die Antwort des Königs.
Élwen wusste, dass er nun nicht mehr die Gelegenheit hatte ,sein Volk sich verstecken zu lassen, aber würde er dieses riesige Gemetzel riskieren? Sie hatte bereits damit gerechnet, dass Saruman es auf sie abgesehen hatte, doch Zehntausend... das übertraf selbst ihre kühnsten Vorstellungen. Er wollte sie unverkennbar auslöschen.
„Lasst sie kommen!"
Sie folgten Théoden, der auf den Wällen Anweisungen gab, Aragorn gab sich nicht einfach damit zufrieden, er wollte ihn überreden, nach Hilfe schicken zu lassen. Élwen schritt neben ihm hinter dem König her.
„Ich muss ihm dieses Mal Recht geben, Aragorn, selbst wenn Gondor uns unterstützen wollte, wären ihre Truppen nie rechtzeitig hier, wenn die Orks nach deinen Angaben uns bereits in der Nacht erreichen."
„Diese Monster wollen nicht die Festung, sondern die Menschen vernichten, er ist zu überheblich, wenn er denkt, sie könnte jedes Übel aufhalten!"
„Was sollte er denn deiner Meinung nach tun? Helms Klamm ist der sicherste Ort in Rohan. Diese Menschen können sich nun mal nicht richtig verteidigen, dann lass sie doch wenigstens ihre Ehre wiedergewinnen, du weißt, dass ihnen das wichtig ist, wenn sie auch keine Chancen auf Überleben sehen!"
„Sprecht nicht so laut, die Angst in ihren Augen wächst dadurch nur noch ins Unermessliche..."Éomer beschwichtigte die beiden in ihrem Disput.
Auch Legolas mischte sich ein. „Sollen sie doch wissen, was ihnen bevorsteht. Sie müssen vorbereitet sein, sonst werden sich die ersten beim Anblick der Orks gleich von der Mauer zu stürzen anstatt zu kämpfen."
Élwen schluckte und spürte den Blick Éomers in ihrem Rücken.
Sie sah Legolas ins Gesicht. „Diese Leute haben mehr Mut, als du glaubst, Legolas, auch wenn sie sterblicher sind, als du es bist, vertraue einmal auf die Stärke der Menschen..."
„ Was ist los mit dir, Élwen?" Er blieb stehen. Sie hielt seinem festem Blick stand, sie kannte die Art von Legolas, sein Gegenüber zu fesseln.
„Wie meinst du das?"
„In letzter Zeit erweckst du immer öfter den Eindruck, dich gegen deine elbische Natur zu stellen. Warum verteidigst du plötzlich die Menschheit bei jeder Gelegenheit, statt dich auf deine vertrauten Sinne zu verlassen und auf die Stimme zu hören, die dir genau das sagt, was sie auch zu mir spricht?"
Élwen fühlte sich seltsam durchschaut, sie bemühte sich darauf ihr Gesicht ohne Regungen zu belassen. „Du irrst dich, Legolas, warum müssen Elben immer Recht sprechen und Menschen Unrecht behalten? Ich verleugne mein Volk dadurch nicht..."
Er seufzte.
„Selbst jetzt merkst du nicht, dass ich schon die ganze Zeit in Elbisch zu dir spreche und antwortest mir in der gemeinsamen Sprache..."
Mit einem weiteren enttäuschten Seufzer schritt er an ihr vorbei.
„Du irrst dich,..."konnte sie ihm nur noch nachflüstern. Éomer und Aragorn, die bei ihnen stehen geblieben waren, tauschten einen Blick aus. Éomer, der Legolas Worte nicht verstanden hatte, sagte nichts und ging zu seinem Onkel, der ihn gerufen hatte.
Kurze Zeit später folgten auch Aragorn und Élwen. Sie besprachen die Verteilung der Wachen, als Éowyn wütend auf sie zukam.
„Warum werde ich in die Höhlen geschickt, ich kann besser kämpfen, als viele der Männer!" Théoden wendete sich ihr zu.
„Éowyn, ich werde nicht schon wieder mit dir darüber diskutieren!"
„Éomer, kannst du mich nicht unterstützen, du weißt, wie sehr mich das belastet!"
„Nein, Éowyn, es ist das Beste für dich, mit den anderen Frauen und Kindern in den Höhlen zu bleiben, dort bist du sicher."
„Théoden, lasst eure Nichte doch kämpfen, wenn sie will, ihr habt an mir gesehen, dass Frauen auch kämpfen können und darum geht es doch, oder?" Théoden sah Élwen funkelnd an.
„Ich lasse es zu, dass ihr euch an den Kampfstrategien beteiligt, Frau Élwen, aber haltet euch aus unseren Familienangelegenheiten raus, wenn ich sage, dass Éowyn bei den Frauen bleibt, dann hat das auch zu geschehen, dies ist mein letztes Wort!" Éomer und er gingen rasch weiter, während Élwen bei der schnaufenden Éowyn blieb.
„Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte."
Éowyn zwang sich ein Lächeln auf.
„Du hast es wenigstens versucht, irgendwann werde auch ich meine Gelegenheit bekommen."Mit diesen Worten ging sie zurück, doch Élwen hatte ihren enttäuschten Ton nicht überhört.
