Kapitel 20
„Guten Morgen, konntet ihr schlafen?"
Jeder andere wäre zusammen gezuckt bei der plötzlichen Unterbrechung der Stille, doch Élwens Ohren hatten bereits das Stapfen Éomers vernommen. So betrachtete sie weiterhin die frisch gebürstete Mähne ihrer Stute, während er seinen Sattel auf die Tür seiner eigenen Box legte.
„Viel zu gut..."Das Bildnis des alten Éomers auf dem Totenaltar trat wieder vor ihre Augen und sie schloss sie kurz. Als sie sie wieder öffnete, befand sich wieder Faire vor ihr und sie drehte sich um. Éomer war damit beschäftigt, sein Pferd aufzurüsten, er hatte seine Rüstung angelegt und ließ nichts von den Ereignissen am vorigen Abend erahnen.
Élwen fiel auf, dass nun Lärm im Stall herrschte und wunderte sich. Viele Rohirrim sattelten nun ihre Pferde.
„Reitet ihr aus?"
„Die Pflicht ruft, zu lange war ich mit meinen Éored außerhalb unterwegs, wenn es sich auch nur um ein paar Tage handelte. Viel Zeit haben wir nicht, aber der König will, dass wir in den umliegenden Gebieten nach dem Rechten sehen."
„Wann werdet ihr zurückkehren?"
„Im Bestfall heute Abend bereits, ansonsten spätestens morgen Mittag."Er musterte ihren neugierigen Blick.
„Das hört sich nach einem interessanten Ausflug an,"bemerkte Élwen mit einem Lächeln, „hättet ihr etwas dagegen, wenn ich euch begleiten würde?"
Er zögerte und schaute sie ernst an.
„So gern ich euch die Erlaubnis geben würde.... es ist leider nicht möglich, unterhaltet euch mit dem König, ich denke, er hat euch etwas zu sagen..." I
hr Lächeln erfror. Sie konnte sich bereits ausmalen, was sie zu hören bekommen würde. Éomers Meinung war wie üblich nicht aus seiner strengen Haltung zu erkennen, doch er versuchte nicht, sich länger aufzuhalten.
„Ich sehe euch spätestens morgen, meine Herrin..."Mit einem höflichen Nicken verabschiedete er sich und befahl seine Éored zum Aufbruch.
Die Halle war angenehm kühl, einzelne Strahlen fielen durch die unter dem Dach sitzenden Fenster, ansonsten lag Meduseld in schwachem Licht, an das sich die Augen jedoch rasch gewöhnten.
Der König war in ein Gespräch verwickelt, und Élwen wartete in angemessenem Abstand. Als er seinen Berater entließ, deutete er ihr mit einem Wink, ihm zu folgen. Sie betraten einen kleineren Raum neben dem Thron, in dem Bücherregale, ein großer Schreibtisch und einige gefüllte Truhen standen. Élwen vermutete, dass es sich hierbei um den Verwaltungsraum Théodens handelte.
„Mein König, Éomer ließ verlauten, dass ihr mir verbatet, die Éored für heute zu begleiten?" Er nickte.
„Meine Herrin, ihr wisst, dass ich viel von euch sowohl als Kriegerin, als auch als Strategin halte...."
„Warum muss ich dann hier bleiben, statt eurem Neffen zu helfen?"
„Wie ihr euch bestimmt schon gedacht habt, ist es der Fakt, dass ihr eine Frau seid. Nein... lasst mich aussprechen...", er gebot ihr mit einer Geste zu schweigen, da sie bereits den Mund zu einer Konfrontation geöffnet hatte.
„Es liegt nicht an euch selber, dass ich diese Bestimmung erlassen habe, sondern an eurem Einfluss, den ihr auf die Männer habt..." Er ließ sich von ihrem ungläubigem Blick nicht beirren und fuhr fort.
„Viele meiner Soldaten sind von euch fasziniert und dies ist eine gefährliche Sache. Besonders wenn es darum geht, mit vollster Konzentration beim Kampfe zu bleiben. Vor allem bei meinem Neffen habt ihr einen bleibenden Eindruck hinterlassen und er ist gern in eurer Umgebung. Normalerweise würde mich das erfreuen, wenn ich nicht aus eigener Erfahrung wüsste, was das für Nachteile einem Mann beschert. Ich will zum Punkt kommen, Élwen, Gefühle machen einen Krieger schwach und das ist das Letzte, was unser Reich in diesen schweren Zeiten verkraften kann. Vielleicht war euch das bisher nicht bewusst und ich will euch nicht verbieten, die Gesellschaft meiner Männer zu pflegen, doch lasst euch meine Worte durch den Kopf gehen, ihr wisst, wie es um Mittelerde beschert ist, ich brauche Éomer und er kann es sich nicht erlauben, von etwas abgelenkt zu werden..."
Lange Zeit herrschte Stille, Théoden schaute aus dem Fenster in die Ferne und stand mit dem Rücken zu ihr.
„Was habt ihr ihm erzählt?"
„Keine Sorge, ich sagte ihm nur, dass ich euch als meinen Gast nicht gefährden wolle, ob er es glaubt oder nicht. Aber die Wahrheit hat er wahrscheinlich selber noch nicht erfasst..."
Élwen war um Fassung in ihrer Stimme bewahrt.
„Ich danke euch um eure Aufrichtigkeit und ich werde über eure Worte nachdenken, doch Éomer trifft seine eigenen Entscheidungen und er ist stärker, als ihr denken mögt..."
Er drehte sich zu ihr um und blickte sie väterlich an.
„Ich halte Éomer sogar für den stärksten meiner Männer. Urteilt bitte nicht falsch über mich. Doch der Moment ist einfach zu unangebracht für Gefühlsangelegenheiten."
Da sie nichts erwiderte, erlaubte er ihr zu gehen und sie kehrte zurück in die Sonne. Als sie sich die Menschen unter sich auf der Straße betrachtete, wusste sie, warum sie nicht zornig auf Théoden sein konnte. Zum Ersten zeigte die Art, auf die er ihr das Gesagte mitgeteilt hatte, dass er es auch wirklich so meinte, und zum Zweiten... Er hatte Recht. Wenn Éomer sie mit diesem warmen Blick anschaute, lag gleichzeitig eine Verletzlichkeit in seinen Augen, die ihn leicht zum Opfer machen könnte. Zum ersten Mal dachte sie daran, dass Gefühle nicht nur Leben retten, sondern sie auch gefährden können...
Am nächsten Morgen traf Élwen in der Halle auf Éomer. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und nahm sich Brot. Er wirkte erschöpft und ausgelaugt, gerade erst zurückgekehrt, waren seine Haare noch unordentlich.
„Ihr hattet anscheinend viel zu tun. Sieht es so schlimm aus?"
„Durch Sarumans Fall hat sich die Lage bereits gebessert, doch diese Nachricht dringt nicht an alle Orks. Wir hatten ein kleines Aufeinandertreffen gestern Abend...", antwortete er kauend.
„Ein recht anstrengendes Aufeinandertreffen, scheint es mir, ihr könnt Schlaf gebrauchen."
„Ich bin es gewohnt, lange wach zu bleiben. In ein paar Stunden bin ich wieder wach. Wie war eure Unterredung mit dem König?"
Sie schwieg und blickte zu ihrer Schale auf dem Tisch.
„Das Übliche, nicht weiter erwähnenswert.... Entschuldigt mich, ich muss mich noch um mein Pferd kümmern..."Sie stand auf, im Begriff zu gehen.
„Ich werde später ausreiten gehen, würdet ihr mich begleiten?" Sie blickte ihn an, das Angebot kribbelte ihr in den Fingern, doch sie ermahnte sich.
„Ich fürchte, dass wird nicht möglich sein... ich...habe... noch einige Angelegenheiten zu regeln..."
„Oh, natürlich, ich will euch auch nicht aufhalten..."Er beugte sich wieder über seinen Eintopf und Élwen wollte etwas entschuldigendes hinzufügen, ließ es aber und verließ stattdessen mit einem beklemmenden Gefühl die Halle.
