Seit zwei geschlagenen Stunden saß Élwen nun am Bette Éowyns und hielt deren Hand. Der Lärm der Stadt drang gedämpft in die Häuser der Heilung, die sich hoch oben auf der letzten Ebene Minas Tirith befanden. Eine Ruhe ging von den weißen Mauern aus, die im Schein der Sonne schimmerten. Eine Ruhe, für die Élwen sehr dankbar war.
Als sie die Häuser erreicht hatten, konnte sie Éomer nicht finden. Es herrschte heillose Aufregung und die Heiler waren mit zahlreichen Verletzten ausgelastet. Eine ältere Frau mit gutmütigen Augen war auf sie aufmerksam geworden, als sie mit zwei Hobbits die Halle betreten hatten. Sie waren in einen abgelegen Flügel geführt worden, in dem der Sohn des Statthalters und auch Éowyn lagen. Merry bekam neben der Schildmaid ein Bett, in dem er sich nun unruhig hin und her wälzte.
Élwen warf dem Hobbit einen traurigen Blick zu. Die ältere Heilerin namens Ioreth hatte ihr Bestes für die beiden getan, doch gegen den Schatten des Nazgûls wusste auch sie keinen Rat. Bald wurde sie wieder im Hauptflügel gebraucht, so dass Élwen als einzige Besucherin verblieb, nachdem sie Pippin geschickt hatte, sich auszuruhen.
„Sei unbesorgt, Merry ist jetzt in Sicherheit und dank der Heiler wird er bald wieder gesund sein.", hatte sie ihm versichert, doch mittlerweile zweifelte sie selbst an ihren Worten.
Ein Stöhnen vom gegenüberliegenden Bett ließ sie aufblicken. Faramir, der Sohn Denethors, lag im Fieber. Sie setzte sich auf seinen Bettrand, legte eine Hand auf seine glühende Stirn und murmelte elbische Worte. Er beruhigte sich und schien endlich schlafen zu können, aber lange würde es nicht anhalten können.
Élwen seufzte leise und kehrte zu ihrer Freundin zurück, deren Zustand der gleiche war wie Merrys. Verzweifelt griff sie Éowyns Finger. Es musste doch etwas geben, dass ihr helfen konnte. Sie hatte schon früher an diesem Tag den Tod überwinden können, dessen war sie sich mittlerweile bewusst, warum war sie jetzt nicht dazu in der Lage? Éowyn stieß ein Stöhnen aus und Élwen konzentrierte sich wieder. Ich muss diese verhängnisvollen Gedanken beiseite schieben, dachte sie, so kann ich ihr wenigstens helfen, den Schatten hinauszuzögern. Während sie Éowyns Hand drückte, schien sie vor ihrem inneren Auge die Düsternis in ihrer Freundin selber zu erblicken. So hatte sie die letzten zwei Stunden verbracht und wenn es nötig wäre, würde sie es auch noch die nächsten tun. Ob Aragorn bereits in der Thronhalle angekommen war, wenn die Gondorianer ihn anerkannten, würde er von heute an als ihr König gelten. Nach und nach wurden Élwen die Auswirkungen dieser Schlacht bewusst. Die Aufregung hatte ihr keine Zeit gelassen, doch jetzt war ihr klar, dass Gondor gerettet war. Von den Heilern hatte sie erfahren, dass sich der Statthalter umgebracht hatte, das hieß, dass nichts mehr zwischen Aragorn und dem Thron stand. Traurig dachte sie an Faramir und was er erfahren würde, wenn er denn das Fieber besiegen würde. Erst verlor er seinen Bruder und jetzt auch noch seinen Vater. Niemand verdiente den Tod, selbst nicht jemand wie Denethor.
Noch konnte sie sich nicht über den Sieg freuen, zu nah war die Furcht über den Verlust ihrer Freunde und überhaupt, Frodo und Sam haben ihre Mission noch nicht erfüllt, was passieren würde, wenn sie scheitern, daran wollte sie erst gar nicht denken...
Sie nahm wahr, wie Gandalf und Ioreth den Raum betraten und spürte kurze Zeit später die Hand des Zauberers beruhigend auf ihrer Schulter. Schweren Herzens stand sie von Éowyns Bett auf und blickte in sein erschöpftes, doch zugleich auch erleichtertes Gesicht.
„Wie geht es ihnen?", fragte er mit gesenkter Stimme.
„Unverändert...Gandalf...", er schaute sie an, „werden sie es schaffen?"
Er seufzte schwer. Ein Teil der ungemeinen Bürde, welche auf ihm lastete, wurde mit der Schlacht von ihm genommen, trotzdem hatte auch er nicht vergessen, dass es noch nicht vorbei war.
„Selbst die stärkste Medizin kann nichts gegen diesen Schatten ausrichten und für elbische Arznei ist es , fürchte ich, auch zu spät. Uns muss so schnell wie möglich eine Alternative einfallen...".
Élwen nickte. „ Du bestätigst, was ich selber denke. Ich sah ihre Gedanken und sie weilten fast gar nicht mehr in unserer Welt..."
Die Heilerin stand hinter ihnen und hatte ihre Unterhaltung mit angehört. Jetzt räusperte sie sich.
„Wenn ich etwas anmerken darf, es gibt einen alten Spruch, der schon seit Generationen weitergereicht wird, man kann auch sagen, es handle sich um eine Prophezeiung. Sie heißt: Die Hände des Königs sind die Hände eines Heilers."
Gandalf nahm sich Zeit, bevor er antwortete.
„Ihr habt Recht, meine Herrin. Einen letzten Versuch ist es wert. Der zukünftige König Gondors ist zusammen mit dem künftigen König Rohans und dem Herrn von Dol Amroth noch auf dem Schlachtfeld zur ersten Musterung, aber es dürfte nicht mehr allzu lange dauern, bis sie sich auf den Weg hierher machen..."
„Ich kann zu Aragorn reiten und.."– „Nein, mein Kind,"unterbrach Gandalf Élwen, „du bleibst hier und hinderst unsere Freunde daran, schneller ins Schattenreich zu entschwinden, als sie es eh schon tun. Rede mit ihnen, ich werde die anderen holen."
„Wie du wünschst, Mithrandir...", er schmunzelte über den Namen, sie hatte ihn schon lange nicht mehr so bezeichnet. Sein Lächeln sah sie nicht, da Élwen wieder abwesend die Kranken betrachtete.
„Élwen, du hast dein Bestes getan, es steht nicht mehr in unserer Macht, ihnen zu helfen."
Sie zwang sich ein Lächeln auf, doch sie wusste, dass er in sie hinein blicken konnte.
„Ich weiß, Gandalf, doch ich kann doch nicht einfach tatenlos hier herumsitzen..."
„Mit Verlaub, meine Herrin", meldete sich Ioreth zu Wort, „es strömen immer mehr Verletzte in unsere Häuser. Wir wären über jede Hilfe dankbar."
Gandalf nickte. „Ich werde mich darum kümmern, dass Aragorn kommt. Sei unbesorgt, geh und hilf den Heilern."
„Ja... ja, ihr habt Recht. Weist mich ein, meine Herrin."
Mit einem letzten Blick auf Éowyn und Merry und der Hoffnung, dass es nicht ihr letzter auf sie war, folgte sie der alten Ioreth in den Hauptflügel.
