Kapitel 30

Leise näherte sich Élwen Éowyns Bett. Sie redete mit ihrem Bruder, der auf der anderen Seite saß und ihre Hand hielt. Ihr Anblick schmerzte Élwen, die immer noch mit den Tränen zu kämpfen hatte. Als Éomer zu ihr aufblickte, drehte auch Éowyn den Kopf und lächelte schwach. Élwen wurde es sofort schwer ums Herz und sie setzte sich an die Bettkante, die andere Hand Éowyns ergreifend.

Der Anblick Éowyns war schlimm für die Elbin. Ihre Freundin war von Natur aus blass, doch jetzt schien alle Lebendigkeit aus ihrem Gesicht verschwunden zu sein. Das leichte Blau, welches den Übergang in die Geisterwelt sowohl bei ihr, wie auch bei Merry gekennzeichnet hatte, lag noch immer schwach auf ihrer rechten Gesichtshälfte.

„Oh, Élwen, du tust, als würdest du eine Tote vor dir sehen.", sagte sie mit heiserer Stimme.

Élwen lächelte durch den Tränenschleier hindurch.

„Ich bin nur so glücklich, dich wohlauf zu sehen. Es...", Élwen zögerte, „ es ist meine Schuld, dass du hier liegst und ich wüsste nicht, was ich getan hätte, wenn du gestorben wärest..."

„Nein", sagte Éomer, „ wie kannst du daran Schuld sein, wenn ein Nazgûl sie verletzt?"

„Weil es meine Idee gewesen ist, Éowyn als Mann verkleidet, mitreiten zu lassen. Ich habe es ihr vorgeschlagen und ihr eine Rüstung besorgt", sie blickte ihm direkt in die überraschten Augen, als sie zugab, was sie ihm am liebsten verschwiegen hätte. Doch jetzt war es raus und nachdem die Überraschung aus seinem Blick gewichen war, zeichnete Enttäuschung sein Gesicht und er wandte es von ihr ab. Sie wusste, das sie ihn verletzt hatte, indem sie sein Vertrauen missbraucht und das Leben seiner geliebten Schwester gefährdet hatte.

„Es tut mir so leid. Ich... hätte das alles verhindern können.. es tut mir so leid..", sie brach in Tränen aus und sank auf Éowyns Bett.

„Nein, nein, Élwen...", Éowyn strich ihr durchs Haar, „mach dir bitte keine Vorwürfe."Sie hob Élwens Gesicht an und schaute dann zu Éomer, der sichtlich mit sich selber rang.

„Und du, Éomer, du machst ihr auch keine. Die Entscheidung, mitzureiten, traf ich und es war die beste meines Lebens. Es war mein Schicksal, hieran teilzunehmen und wenn ich mein Leben dabei gelassen hätte, hätte mich das mit Stolz erfüllt. Und ich habe immerhin den Hexenmeister von Angmar getötet, das dürft ihr nicht vergessen...", sie sah Éomer wieder an und bemerkte, dass sein Ausdruck sich nicht geändert hatte.

„Éomer, ich weiß, dass es schwer für dich ist, loszulassen, aber dieser Moment musste irgendwann kommen. Nicht Élwen trägt die Verantwortung für meine Taten, sondern ich selber. Ihr liebt euch so sehr, ich brauchte es nicht erst zu hören, um es wissen, lasst so etwas nicht zwischen euch stehen... und du...", sie schaute wieder in Élwens gerötetes Gesicht, „wenn du nicht gewesen wärst, würde ich immer noch ungeduldig in Edoras sitzen und mein Leben ohne Freude und Leidenschaft fristen. Außerdem warst du es, die mir stundenlang geholfen hat, nicht in die Schattenwelt zu gleiten, sonst hätte ich wahrscheinlich nicht mehr gelebt, als Aragorn eintraf."

Élwen nickt und sah fast flehend zu Éomer hinüber. Er erwiderte ihren Blick und der seine war weicher geworden, wenn auch noch Unsicherheit in ihm schwang.

„Und jetzt lasst mich bitte alleine. Ich bin sehr müde und ihr müsst euch bereit machen."

Mit einem letzten Kuss auf Éowyns Stirn standen sie auf und verließen wortlos den Raum.

Éomers Gesicht verriet kein Gefühl und Élwen ging mit zitternden Händen neben ihm her, als sie die Häuser der Heilung verließen. Sie sprachen beide kein Wort, bis Élwen endlich die Stille brach.

„Éomer..", flüsterte sie bittend und blieb stehen. Er ging noch zwei Schritte weiter und hielt dann mit dem Rücken zu ihr inne.

„ Du hast mich sehr verletzt..", sagte er ohne sich umzudrehen.

„Ich weiß..."

„Ich hatte dir vor einiger Zeit meine ganzen Ängste anvertraut, meine Familie und besonders meine Schwester betreffend..."

„Ich wollte dein Vertrauen nicht missbrauchen, aber ich habe es getan und kann es verstehen, wenn du...", er drehte sich plötzlich um.

„Wenn ich was? Wenn ich dich hassen würde?"Er kam auf sie zu und unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück.

„Ich weiß es nicht..", sie senkte den Kopf, um seinen Blick zu vermeiden.

„Ausnahmsweise weiß ich es aber an deiner statt.", er packte sie bei den Schultern und sie hob ihr Gesicht.

„Nichts könnte mich dazu bringen, dich nicht mehr zu lieben oder gar zu hassen. Éowyn hat Recht, sie kennt mich und weiß, dass meine Sturheit mir beizeiten die Sinne vernebelt. Über die Angst, Éowyn zu verlieren, hätte ich es riskiert, das wegzuschicken, was mir neben meiner Schwester mehr bedeutet, als mein Leben. Und das bist du."

Sie atmete erleichtert aus und umarmte ihn. Er strich ihr zärtlich über ihr Haar und löste sich dann von ihr.

„ Meine Schwester und mich verbindet ein Band, dass in unserer Kindheit zu etwas Unzerstörbarem geschmiedet wurde. Doch so sehr es uns zusammenhält, es engte sie in ihrer Freiheit ein, weil ihr als meinem letzten Familienmitglied mein ganzer Schutz galt. Éowyn denkt, dass ich mir über mein Verhalten nicht bewusst bin, aber da irrt sie sich..."

Auf dem Weg zu den Ställen von Minas Tirith kamen sie an einigen zerstörten Gebäuden vorbei. Die Geschosse der Feinde hatten teilweise ganze Türme mit sich gerissen und die Menschen arbeiteten schwer, um die Trümmer zu beseitigen.

„Ich muss zugeben, dass ich bei unserer ersten Begegnung nicht anders über dich gedacht habe, als von einem dickköpfigen Krieger Rohans."

Éomer lachte kurz auf, doch sie blieb ernst, so dass er wieder unmittelbar verstummte.

„Erst später wurde mir langsam klar, dass du über eine weit größere Weisheit verfügst, als viele unsterblichen Elben. Du besitzt nicht nur die Fähigkeit, in die Herzen anderer Menschen zu blicken, sondern du erkennst auch dein eigenes, mit seinen Fehlern und auch seinen Stärken, und glaube mir...", sie blieb stehen und näherte sich ihm, „ das zeugt von mehr Mut, als ein Schwert in die Hand zu nehmen...".

Er zog sich einen seiner Lederhandschuhe aus um ihre Wange zu berühren. Élwens Haut zitterte unter seinen Fingern. Plötzlich war es ihr egal, dass sie keine gemeinsame Zukunft erleben würden. Sie ersehnte das Gefühl, seine Lippen auf ihren zu spüren, nur um für einen Moment alles um sich herum zu vergessen. In dieser Erwartung hob sie ihm ihr Gesicht entgegen, doch Éomer zog seine Hand zurück und drehte sich wieder um.

„Komm, wir müssen unsere Pferde bereit machen.", flüsterte er und betrat vor ihr die Stallungen.