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Seto Kaiba verwirrte sie. Aber das Wetter in diesen letzten Tagen machte ihm glatt den Rang streitig in dem es fast noch unberechenbarer wurde als ihr Chef. Als Alex aus dem Hausflur auf die Straße trat empfingen sie Duke und Yami gleich mit einem riesigen Regenschirm unter dem sie alle drei Platz hatten. Genau wie sie hatten die Männer leichte Sommerkleidung an. Es regnete zwar in Strömen, nicht weiter ungewöhnlich für einen Sommeranfang in Japan, aber zur gleichen Zeit war es so schwül-warm, dass Alex sich nur einen Rock und ein Tangtop angezogen hatte. Die ersten Tage hatte sie sich von den rollenden schwarzen Regenwolken eine lange Hose und Pullover einreden lassen, doch nach zwei Tagen hatte sie sich eines besseren besonnen.

„Hi", begrüßte sie die beiden, als sie sich in Bewegung setzten, hinüber zum Stadtpark, der etwa einen Kilometer von ihrer Wohnung entfernt war. „Eigentlich sollte man bei diesem Sauwetter nicht einen einzigen Schritt vor die Tür setzen. Man wird von oben nass geregnet und von innen heraus schwitzt man sich klitschnass. Ist doch widerlich."

„Bist du fertig mit meckern?"fuhr Duke sie an. „Du tust doch sonst immer so kultur-begeistert, dann kannst du Tanabata nicht auslassen."

„Nach dem was du mir erzählt hast, ist es ein Jahrmarkt, Duke. So was haben wir zuhause auch."

„Aber es ist ein japanischer Jahrmarkt und den habt ihr zuhause nicht. Außerdem kannst du dir heute deine Wünsche Wirklichkeit werden lassen. Ist das nichts?"

„Überzeugt. Ich werde mir zehn Mal wünschen, dass du eine Stimmband Entzündung kriegst und nicht mehr so nervst."Damit wand sie sich an Yami, der bisher nur still neben ihnen hergegangen war und nur abwesend ins Leere gestarrt hatte. „Yami?"als wieder keine Reaktion zu erkennen war, wandte sie sich an Duke. „Was ist denn mit ihm los?"

Duke zuckte immer noch ein wenig beleidigt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er ist so seitdem ich ihn abgeholt habe. Meine Vermutung wäre, dass es ein Mädchen ist, aber das müsstest du mit deinem weiblichen Instinkt doch am besten wissen, oder?"

„Weiblich bin ich, aber Instinkt muss ich deswegen noch lange nicht haben!"entfuhr es Alexandra, worauf Yami kurz halbwegs belustigt schnaubt und sie sich beide wieder zu ihm umdrehten.

„Ich bin einfach nicht ganz da, Alex-san." Als er ihr verdutztes Gesicht sah, musste er beinahe gegen seinen Willen lächeln. Das Gefühl hielt sich jedoch nur kurz, bevor sich wieder die Dunkelheit über seine Gesichtszüge legte.

„Geht es um ein Mädchen?" fragte Alex nach einer Weile, als sie endlich den Mut aufgebracht hatte, die Frage laut auszusprechen. Normalerweise war sie nicht der Mensch der derartig frontal auf die persönlichen Probleme anderer ansprang, aber der Schmerz in Yamis Gesicht ließ sie die Zurückhaltung vergessen. „Oder willst du nicht darüber reden?"

Yami zuckte neben ihr beiläufig mit den Schultern. „Ich wüsste wirklich nicht, was ich dir erzählen könnte..." LÜGNER! Fuhr es ihm im gleichen Augenblick durch den Kopf. Es gibt so unendlich viel was du mit irgendjemandem besprechen willst, nur hast du Angst vor dem, was dabei rauskommt. „Ich möchte mich eigentlich nur ablenken."

„Ah!" entfuhr es Alex etwas fröhlicher. „Verstehe. Anti-Depressions- Programm. Da bist du bei mir genau an der richtigen Adresse. Meine Rundum- Packete gegen Liebeskummer und andere Wehwehchen sind bei meinen Freundinnen berühmt-berüchtigt. Gut... vielleicht eher berüchtigt, aber immerhin sind die meist auf andere Gedanken gekommen..."Bereits nach einigen Minuten waren sie im Stadtpark eingetroffen, der trotz des starken Dauerregens prall gefüllt war. Menschenmassen drückten sich zwischen hunderten bunten Ständen hindurch, so dass die drei unter ihrem Schirm noch enger zusammengedrückt wurden.

„Toll. Ich liebe Menschenmassen."Meckerte Alex, als eine Großfamilie sie anrempelte und mit dem Gesicht in Dukes Seite drückte.

„Dann hast du dir das falsche Land ausgesucht, um zu arbeiten", entgegnete Duke. „Und jetzt hör auf zu meckern. Ich gebe uns was zu essen aus und danach suchen wir uns einen ruhigen Ort um unsere Wünsche aufzuschreiben. Nein, Alex, versprochen, keinen Fisch für dich! Herrgott noch mal!"

„Wenn du das nicht ständig vergessen würdest, müsste ich dich nicht ständig damit nerven..."Alex unterbrach sich, als Yami einem kleinen Jungen zuwinkte, der kurz darauf auf sie zukam und Yami und Duke begrüßte. Nach einigen Sekunden hatte die driftende Menge sie wieder auseinander getrieben.

„Das war übrigens Kaibas kleiner Bruder." Meinte Yami schließlich erklärend. „Mokuba."

„Erstaunlich dass so eine Unerträglichkeit wie seine sich nicht durch die Familie zieht", brummelte Alex. „Der Kleine sah ja noch ganz nett aus."

Seto nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass Mokuba sich wieder an seiner Seite befand, zu angestrengt versuchte er sich nicht von der Menschenmasse stören zu lassen, die an allen Seiten um ihn herumwuselte. Ein kleiner Junge rempelte ihn plötzlich von der Seite an, steckte ihm einmal die Zunge raus und rannte dann weiter. „Kleine Mistkröte!", zischte Kaiba wütend, während er sich die Überbleibsel der klebrigen Zuckerwatte des Jungen von seinem Mantel klaubte und angeekelt wegschmiss. Warum war er überhaupt mitgegangen? Hatte er nichts Besseres zu tun?

„Hey Seto! Rate mal, wen ich gerade getroffen habe!"

Mokuba. Das war aber auch wirklich der einzige Grund warum er hier war, trotz der Menschenmassen, die er verabscheute. Er ignorierte seinen Bruder einen Moment lang um seinen Standpunkt zu unterstreichen, gab dann aber doch seinem Quengeln nach und machte ein halbwegs interessiertes Gesicht. „Wen denn?"

„Yami, Duke und noch so ein Mädchen, das ich schon irgendwo mal gesehen habe. Ich glaube sogar vor deinem Büro vor ein paar Tagen!"

Nun rüttelte sich Seto doch aus seinen wandernden Gedanken. „Mädchen?"

„Ja, da vorne stehen sie noch. Da! Bei den Tanabata-Bäumen!"

Unwillkürlich folgten seine Augen dem ausgestreckten Arm Mokubas. Ein trockenes Lachen entfuhr ihm, als er Yamis Haarpracht aus der Menge herausragen sah. Neben ihm stand Duke Devlin -immerhin nicht solch unerträgliche Nervensägen wie Wheeler oder ein anderes Mitglied des offiziellen Pharaonen-Fan-Clubs- und zwischen ihnen ein Mädchen, das er nicht gleich erkannte da sie ihm den Rücken zuwandte, obwohl ihm ihre Statur und Haltung vage vertraut vorkam. Sie trug einen halblangen, roten Rock und ein schwarzes ärmelloses Oberteil und hatte ihre Haare nachlässig mit ein paar Klammeren hochgesteckt. Er beobachtete weiter, wie Yami irgendetwas zu ihr sagte und sie sich vor Lachen zu schütteln begann, wobei sie sich zu ihrem Begleiter hindrehte und ihr Profil zeigte. Alexandra. Wie angewurzelt blieb er stehen und beobachtete die kleine Gruppe weiter. Wie zum Teufel schaffte es dieser Yami eigentlich, alle Leute so an sich heranzuziehen? Gab es niemandem auf dieser Welt, der ihm nicht hinterher rannte? Nicht einmal seine eigenen Angestellten? Menschen, die erst seit ein paar Wochen überhaupt in diesem Land waren? Und mussten sie dann auch noch so furchtbar kitschige Dinge tun, wie blöde Wünsche an Bäume zu hängen? Als ob irgendein Geist in einem Stern nichts anderes zu tun hätte als solche Wünsche zu erfüllen. Alles Ammenmärchen.

Allerdings musste er sich eingestehen, wie ihn die Neugier überkam, zu wissen, was dieses Mädchen für Wünsche hatte, die sie sich nicht selbst erfüllen konnte.

Ein paar Meter von ihm entfernt schob Devlin Alexandra und Yami von den Bäumen weg, wild gestikulierend und auf etwas deutend, das Kaiba nicht weiter interessierte. Ohne noch weiter zu überlegen oder auf seinen Bruder zu achten, schritt er durch die Menge auf die Tanabata-Bäume zu. Er suchte einen Moment lang mit den Augen die unzähligen Papierröllchen zwischen den bunten Schmuckbändern ab, griff dann nach einem und rollte es auf. Ein Blick auf die fahrigen Kanji-Zeichen, sagte ihm, dass er instinktiv richtig gelegen hatte. Er sah Yamis Namen, hinter dem sie sich eine glücklichere Zeit für ihn wünschte und dass er öfter lachen würde. Kaiba schnaubte. Pathetisch, dieses Mädchen. Duke. Für ihn wünschte sie sich mehr Zurückhaltung, weniger Selbstbewusstsein und ab und zu eine Pause von ihm. Wenigstens in dieser Hinsicht bewies sie Menschenverstand. Es folgten einige ausländische Namen in Katakana-Zeichen die sich vermutlich auf Familie und Freunde zuhause bezogen und dann, er blinzelte einmal. Nein, das waren eindeutig seine Namens-Kanji.

„Meinst du, dass du das tun solltest, Kaiba?"

Er wirbelte herum und sah mit einem Mal Yami neben sich stehen. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und sah ihn aus ernsten, lilanen Augen an.

„Meinst du, du kannst mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe?" fuhr Kaiba ihn mit tödlicher Kälte in seiner Stimme an.

Sein Gegenüber ließ sich nicht beeindrucken. Dafür waren sie schon viel zu oft aneinander geraten. „Ich hatte nicht gedacht, dass du es nötig hast, so in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen. Oft hilft es, einfach zu fragen, woran ein Mensch denkt oder was er sich wünscht."

„Nicht jeder ist so ein überdimensionales Kuscheltier wie du, Pharao!"Das letzte Wort troff nur so vor Sarkasmus.

Yami zuckte mit den schlanken Schultern. „Ich habe meine Pflicht als ihr Freund und dein Gewissen getan. Jetzt ist es nur noch an ihr, einzugreifen."

„Einzugreifen? Dieses schwache Ding?"entfuhr es Kaiba, obwohl ihm seine Wortwahl aus irgendeinem Grund heraus, sofort fast schon wieder... nicht wirklich leid tat, aber ihm zumindest nicht ganz richtig vorkam. Er wandte seinen Blick wieder auf den kleinen Zettel in seiner Hand. „Was zum..."nach seinem Namen kamen gleich mehrere Zeilen mit Text aber er konnte sie beim besten Willen nicht lesen. Die lateinischen Buchstaben machten ihm wenig Probleme, aber die Sprache war wohl Deutsch und das sprach er partout nicht. Wieso hatte sie das getan? Hatte sie gewusst oder geahnt, dass er es lesen würde? Unmöglich! Woher denn auch?

Yami grinste neben ihm sein furchtbares Lächeln, dass Kaiba jedes Mal in Rage brachte, wenn er es sah und in ihm den Wunsch weckte, es mit einer harten Rechten aus seinem ach so hübschen Gesicht zu schmettern.

„Du hast die scheinbar Schwachen schon immer unterschätzt, Kaiba. Vielleicht solltest du diese Einstellung noch einmal überdenken, was meinst du?"Er beobachtete, wie Kaiba stumm mit den Kiefern malmte und wie sich seine Fäuste krampfhaft öffneten und schlossen. Einen Augenblick lang starrte er Yami bitterböse an, bevor er herumwirbelte und mit einem letzten Bauschen seines langen Mantels in der Menge verschwand. Yami entfuhr ein kurzes trockenes Lachen. Wie er es auch drehte und wendete, vollkommen würde er Seto Kaiba wohl nie verstehen. Einen Augenblick lang reflektierte er, ob er Alex von dem Vorfall erzählen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Mit einer geschmeidigen Bewegung bückte er sich und hob den zerknitterten Wunschzettel auf, den Kaiba hatte fallen lassen und band ihn sorgsam zurück an einen Zweig, bevor er sich wieder auf den Weg zu Alexandra und Duke machte.