10
Dunkelheit schlug Yugi fast wie eine Welle aus Wasser entgegen, als er vorsichtig die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Auf den ersten Blick hin schien es vollkommen verlassen. Blasses Mondlicht das zum offenen Fenster herein kam warf kaum wahrnehmbare Schatten auf den Boden und ein kalter Windhauch strich über Yugis Wangen und ließ ihn zittern. Yami war wieder nicht da. Er wusste einfach nicht mehr, was mit seinem Freund los war... einen Tag bereitete er sich überschwänglich auf ein Date vor und kurze Zeit später zog er sich vollkommen aus dem Leben zurück. Ein leiser Seufzer entfuhr dem Jungen. Entmutigt trat er ohne Licht zu machen auf sein Bett zu, wechselte aus Jeans und T-Shirt in einen Schlafanzug, wickelte sich in die kühlen Bettlaken ein und starrte an die Decke. Er konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf Yami. Auch wenn der Pharao es nicht wollte und sich abkapselte, Yugi teilte sich mit ihm einen Körper und wusste ganz genau, wie sehr der Geist litt. Wieder strich ein kalter Windhauch über ihn und Yugi setzte sich auf mit dem Gedanken das Fenster einfach zu schließen. Er hielt jedoch in seiner Bewegung inne, als sein Blick auf den sich im Wind bauschenden, langen Vorhang fiel. Erst jetzt erkannte er im blassen Mondlicht einen Schatten, der sich kaum wahrnehmbar gegen den Stoff abzeichnete.
„Yami?"
Er bekam keine Antwort. Damit hatte er gerechnet.
„Warum sitzt du hinter dem Vorhang?"
Wieder antwortete ihm nur Schweigen.
„Kannst du mir sagen, was los ist?"
Wieder wartete Yugi vergebens. Der Geist schien ihn ignorieren zu wollen. Gegen seinen Willen verspürte der Junge, wie plötzlich starke Gefühle in ihm anschwollen und die Oberhand zu gewinnen drohten. Doch dieses Mal war es nicht Mitleid, das ihn durchströmte sondern Wut. Rasende Wut.
„Verdammt noch mal Yami! Du fängst langsam an, mir unheimlich auf die Nerven zu gehen! Glaubst du etwa, dass du der einzige in der Welt bist, der Probleme hat? Wenn du nicht reden willst, dann häng nicht ständig hier rum. Wenn du doch hier bist, dann nimm dich zusammen! Ich habe langsam einfach keinen Bock mehr auf dieses melancholische Herum-Geleide von dir!" Als all das aus ihm herausgesprudelt war bemerkte Yugi, dass er vor Erregung schwer atmete. Hatte er das eben wirklich gesagt? Fühlte er das wirklich? Gerade als sein schlechtes Gewissen wieder übernahm und er zu einer Entschuldigung ansetzen wollte, hielt ihn eine Bewegung am Fenster zurück. Yamis lange, schlanke Gestalt richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und trat ans Bett heran. Schweigend ließ sich der Pharao auf der Bettkante nieder, sah Yugi jedoch nicht an.
„Was ist los mit dir, Yami?"wiederholte Yugi seine Frage, dieses mal mit einem eindringlichen, ernsten Tonfall, der den Jungen selbst überraschte.
Der Pharao sah ihn nicht an, hatte seine Augen starr auf das Fenster gerichtet. Einen Augenblick lang herrschte Stille, bevor er langsam die Stimme hob. Sie klang belegt und die Verzweifelung in ihr jagte Yugi wieder Schauer über den Rücken. „Es ist Sakurai..."
Yugi verkniff sich einen Kommentar, dass er sich das auch selbst hatte denken können. Stattdessen fragte er weiter: „Möchtest du nun darüber reden oder nicht, Yami? Wenn du willst höre ich zu, aber dann habe ich keine Lust dir jeden zweiten Satz aus der Nase zu ziehen."
„Ich weiß, ich weiß", entfuhr es Yami resigniert. „Entschuldige bitte, Yugi. Ich schaffe es noch, den wichtigsten Menschen in meinem Leben mit meinen Launen zu vertreiben."
„Yami, lenk nicht ab. Es geht jetzt um Sakurai oder ich gehe Schlafen. Im Gegensatz zu dir muss ich nämlich morgen früh zur Schule."
„Sakurai..."Yami flüsterte den Namen unwillkürlich und verfluchte sich selbst innerlich für das warme Kribbeln das sich dabei immer noch in seinem Magen ausbreitete. „Es hat halt einfach nicht so geklappt, wie ich es mir vorgestellt habe, das ist alles. Sie ist einfach nicht der Mensch, für den sie sich ausgegeben hat..."
„Die ganze Geschichte?"
„Die könnte länger werden..."
„Dann fang schon endlich an. Du bist Vorgestern los um dich mit ihr zu treffen..."
Yami seufzte noch einmal schwer. „Ich bin zu ihr gegangen, aber sie hatte schon Besuch. Der Chaos-Magier war bei ihr und ich wollte die beiden nicht stören, da habe ich mitbekommen, wie die beiden sich unterhalten haben..."
„Du hast gelauscht?"entfuhr es Yugi ohne dass er es verhindern konnte.
Yamis Kopf schoss nach oben. „ICH HABE NICHT... ja, gut, ich habe gelauscht, es war nicht absichtlich, aber ich habe gehört, wie sie sich über mich unterhalten haben... es ging darum, dass sie sich nicht weiter mit mir treffen dürfte. Weil es nicht unser Schicksal wäre, zueinander zu finden. Das größeres auf mich warten würde. Verstehst du, Yugi, sie ist genau so wie alle anderen! Sie behandelt mich wie einen Menschen der vor über 5000 Jahren in Ägypten gestorben ist! Vielleicht sehe ich aus wie er, kann mich an Bruchstücke seines Lebens erinnern, aber das macht mich noch lange nicht zu diesem Mann! Einem Mann der ich ganz einfach nicht sein will und kann! Ich möchte ganz normal mein eigenes Leben führen, ohne dass Leute die ich nie gekannt habe vor mir auf die Knie fallen, mir sagen, dass ich die Welt retten soll und mir vorschreiben, wie ich mein Leben zu leben habe! Wenn ich mit einem Menschen zusammen bin, dann deshalb, weil ich mit ihm zusammen sein will und nicht weil es auf irgendeiner halb-verrotteten Steintafel steht."Yami atmete schwer. „Ich habe gedacht, Sakurai wäre anders. Sie kam mir genauso verloren vor wie ich mich gefühlt habe. Ich dachte, wenigstens sie kann mich so behandeln, wie der Mensch der ich bin... und nun stellt es sich heraus, dass sie genau so ist. Jemand sagt ihr, dass es nicht ihr Schicksal wäre, mit dem Pharao zusammen zu sein und sie akzeptiert es einfach... verstehst du Yugi, ich kann es einfach nicht mehr ertragen, ihr in die Augen zu sehen. Diese Einstellung macht mich einfach nur krank!"
Schweigen breitete sich zwischen den beiden aus. Der heftige Gefühlsausbruch hatte Yugi sprachlos gelassen, während Yami damit zu kämpfen hatte, seine Fassung wieder zu erlangen. Sein Herz raste, sein Atem ging stoßartig und nur mit äußerster Mühe konnte er sich wieder ein wenig zur Ruhe zwingen. Einen Augenblick lang hing jeder seinen eigenen Gedanken nach und blickte in eine andere Richtung.
Schließlich war es Yugi, der wieder die Stimme erhob. „Ich denke du bist zu hart gewesen."
Yami schnaubte ein wenig verächtlich was Yugi veranlasste schnell beschwichtigend hinzuzufügen: „Ich kann deine Beweggründe gut verstehen, Yami. Vollkommen. Aber versetz dich doch mal in ihre Lage."
„Genau das möchte ich gerade nicht, Yugi."
„Okay, okay. Dann muss ich das eben für dich machen. Du hast gesagt, sie hat selber keinen Schimmer, wer sie ist, wo sie herkommt oder sonst irgendetwas. Dann trifft sie plötzlich dich. Den Pharao. Alt, mächtig, geheimnisvoll, melancholisch, ich nehme auch mal an gut aussehend. Glaubst du allen ernstes das könnte irgendjemand erzählt bekommen ohne sich irgendwie davon beeinflussen zu lassen? Wie naiv bist du denn? Dann hättest du ihr erzählen sollen, das du Yami Mutou von neben an bis; Buchhalter, ledig, langweilig. So funktionieren Menschen einfach nicht. Und dann taucht noch jemand wie der Chaosmagier auf und sagt ihr, dass sie sich dem Schicksal entgegenstellt. Wie zum Teufel soll sie deiner Meinung nach darauf reagieren?!"
Yami antwortete nicht. Er blickte nur starr zum Fenster hinaus, doch Yugi war sich sicher, dass es hinter seiner Stirn angestrengt arbeitete.
„Wenn sie sich jetzt tatsächlich dafür entscheidet, sich einfach wegzudrehen, dann okay. Dann hast du jedes Recht enttäuscht zu sein. Aber du solltest sie vorher selbst nach ihrer eigenen Meinung fragen. Mein Gott, der Chaosmagier. Würdest du dem Typen widersprechen? Ich werde schon ganz klein, wenn ich ihn nur als Monster aufs Feld rufe. Rede mit ihr. Sag ihr, dass es so nicht weiter gehen kann, dass sie sich entscheiden sollte. Aber gib ihr die Chance sich zu entscheiden. Überrede sie einfach, wenn es nötig ist! Kämpfe um das Mädchen!... WAS?"
Yami starrte ihn unbewegt aus riesigen lila Augen an. „Wie alt bist du eigentlich genau, Yugi?"
„Bitte?"erwiderte Yugi verdutzt, doch dann bemerkte er, wie der Hauch eines Lächelns um die Lippen des Pharaos spielte. „Alt genug, um dir sagen zu können, dass jeder eine Chance verdient, seine Handlungen zu erklären. Und bei einem Mädchen, in das man derartig verliebt ist wie du, gilt das doppelt!"
Yami schloss die Augen. Er wusste nicht genau was er in diesem Moment denken sollte. Die Enttäuschung und die Wut nagten noch immer an deiner Seele, doch er konnte nicht anders, als Yugis Worten Recht zu geben. Er hatte es die letzten Stunden und Tage erfolgreich verdrängt, aber er WOLLTE dass Sakurai sich erklärte. Er wollte, dass sich alles irgendwie aufklärte...
„Jetzt lass schon dein gekränktes Ego unter den Tisch fallen und geh wieder zu ihr. Sonst wird das nie was! Dann kann ich auch endlich schlafen."Yugi sah ihn erwartungsvoll an. Yami richtete sich auf und nickte noch einmal, wie um sich selbst zu überzeugen.
„Ich bin ja schon weg. Schlaf gut, Yugi."
Der Junge beobachtete grinsend, wie sich der Geist langsam auflöste und dann schließlich vollkommen im Inneren des Milleniums-Puzzles verschwand.
Yami konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals so hilflos gefühlt zu haben. Duelle, Höhlen, holographische Gefahren, durchgedrehte Irre die die Welt beherrschen wollen... all dies erschien ihm unter Sakurais stummen Blick irgendwie unwirklich. Kleinigkeiten. Eigentlich war die Situation und wie heftig er darauf reagierte absurd. Er hätte darüber lachen sollen, wenn er nicht so mit anderen Emotionen beschäftigt gewesen wäre. Als er hergekommen war hatten sich in seinem Kopf die unterschiedlichste Gefühle gejagt. Noch immer waren Wut und Enttäuschung am prominentesten, doch seitdem er ihren unbewegten Blick auf sich ruhen fühlte, war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher.
Als er auf die Lichtung getreten war, hatte sie ihn sofort bemerkt. Sie war aufgestanden. Wartete darauf, dass er näher kam. Weiter nichts. Sie hatte ihn einfach nur angesehen. Und geschwiegen.
Die Stille begann ihm in den Ohren zu rauschen. Sein Blut pulsierte ihm durch die Adern in den Schläfen. Er wusste überhaupt nicht, mit was für Gefühlen er ihr gegenübertreten sollte. „Hallo," brachte er schließlich hervor. Es klang selbst in seinen eigenen Ohren kläglich. Er hätte sich von Yugi nie überreden lassen sollen, noch einmal herzukommen. Ein sauberer Schlussstrich war alles gewesen, was er gewollt hatte. Auch wenn es nicht fair gewesen wäre, wie Yugi ihm eingeredet hatte.
„Ich hatte nicht gedacht, dass du noch mal kommst."
Yami spürte, wie er das Gesicht verzog. Klasse. Vorwürfe. Gerade von ihr. Er zwang sich mit aller Selbstbeherrschung, die er zusammenkratzen konnte, ruhig zu bleiben. „Ich war hier. Aber du warst so... beschäftigt, dass ich es für das beste hielt, wieder zu gehen."
„Beschäftigt?"in ihrer Stimme klang Verwirrung mit. Ein verletzter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht, doch Yami war zu wütend um darauf zu achten. Konnte sie ihm nicht wenigstens klipp und klar sagen, dass sie ihn nicht länger sehen wollte? War das so schwer?
„Ja. Beschäftigt. Beschäftigt damit, mir klarzumachen, dass ich gar nicht wiederkommen brauchte. Beschäftigt damit, ein vollkommen anderer Mensch zu sein, als du es mir vorgespielt hast. Beschäftigt damit, alle meine Träume in ganz kleine Stücke zu reißen. Da du im Chaos-Magier dabei so gute Unterstützung hattest, kam ich mir überflüssig vor und bin wieder gegangen?"
„Chaos-Magier?"entfuhr es ihr verwirrt. „Yami, sag mir bitte einfach was genau du von mir willst, denn ich verstehe kein Wort." Sie schien langsam die Geduld zu verlieren. „Entweder das oder verschwinde!"
„Gerne!"Yami wusste, dass er sich nicht unter Kontrolle hatte, unüberlegt handelte, doch es ging nicht anders. Er wollte wütend sein. Auf sie. Sie hatte es nicht anders verdient. Jetzt, wo sie sich auch noch als unschuldig und unwissend hinstellte. „Gerne!"wiederholte er noch wütender und drehte sich ruckartig um und verschränkte die Arme vor der Brust. Doch zum Gehen konnte er sich aus irgendeinem Grund nicht durchringen.
„Yami", ihre Stimme klang wieder etwas weicher. „Bitte. Was ist los? Ich war wütend, enttäuscht, dass du nicht gekommen bist, aber... Sag mir doch bitte einfach, was los ist."
„Das hast du mir doch damals selbst gesagt,"entgegnete Yami trotzig, ohne sich umzudrehen. „Oder besser: du hast es dem Chaos-Magier gesagt. Erinnerst du dich nicht mehr? Du bist genauso wie alle anderen. Jemand sagt dir, dass ich der Pharao bin und du benimmst dich vollkommen anders mir gegenüber. Jemand sagt dir, du bist nicht für mich bestimmt und für dich ist das okay. So viel kann ich dir ja wirklich nicht bedeutet haben, wenn es dir so leicht gefallen ist!" In seiner Wut trat er nach einem herumliegenden Stein. „Ich war so blöd! Ich kenne dich doch kaum. Warum sollte es mich etwas angehen, dass du eine Heuchlerin bist? Du solltest mir genauso egal sein, wie ich dir egal bin! Ich..."Seine Stimme versagte.
„Denkst du das wirklich von mir?"Ihre Stimme klang erstickt. „Wenn du einen Menschen so schnell verurteilen kannst, dann geh jetzt, Yami! Geh!"Das letzte Wort schrie sie fast. „Aber denk daran, dass ich nicht der einzige Heuchler bin, Pharao!"
Er wäre am liebsten wütend geblieben. Stattdessen durchfluteten ihn mit einem mal schreckliche Schuldgefühle. Hatte er Yugi nicht versprochen, ihr zuzuhören? Stattdessen hatte er sie eine Heuchlerin genannt... Nur langsam konnte er sich umdrehen und der Anblick, der sich ihm nun bot, brach ihm beinahe das Herz. Sie war am Ufer des Sees zusammengesunken und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. „Erklär es mir, Sakurai. Bitte."
„Was soll ich dir da erklären. Du denkst doch schon alles zu wissen." Ihre Stimme klang tränenerstickt, aber dennoch abweisend. „Der Chaos-Magier hat mir gesagt, dass ich mich von dir fernhalten soll. Aber hast du mich jemals antworten hören? Hast du jemals daran gedacht, wie ich mich fühle? Dass es mir vielleicht nahe gehen könnte, dass man mir sagt, dass ich dich nicht mehr sehen dürfte? Ist dir irgendwann mal der Gedanke gekommen, dass du nicht das einzige Wesen auf dieser Welt mit Gefühlen bist? Das du nicht der Einzige bist, der verloren und enttäuscht ist?"
In seinem Kopf drehte sich alles. Hatte er sie je antworten hören? Natürlich hatte sie zugestimmt... oder etwa nicht? Yami stöhnte. Er war so ein Idiot. Er hätte sich am liebsten irgendetwas hartes über den Kopf gezogen für seine Dummheit, doch im Moment gab es Wichtigeres zu tun. Vorsichtig trat er an sie heran und ließ sich ein wenig von ihr entfernt auf den Boden sinken. „Nein. Dieser Gedanke ist mir nicht gekommen."
Sie hob den Kopf und sah ihn an. Sie hatte nicht geweint, dennoch war ihr Gesicht gerötet. „Du bist ein furchtbarer Egoist."
Yami zuckte mit den Schultern und versuchte es mit einem vorsichtigen Lächeln. „Aber immerhin ein ehrlicher, oder?"
Als er glaubte, ihrem durchdringenden Blick nicht länger standhalten zu können, zog sich auch der Hauch eines Lächelns um ihre schmalen Lippen. „Meinst du, das macht es viel besser?"
„Wahrscheinlich nicht", entgegnete Yami und fasste langsam wieder etwas Mut. „Aber ich würde dir versprechen, dass ich in Zukunft immer ehrlich mit dir bin. Das könnte uns einiges an Missverständnissen ersparen."
Sie nickte langsam. „Das heißt, wir würden uns in dieser Zukunft, von der du da sprichst, noch einige Male sehen?"
Yami zog eine Augenbraue so fragend hoch, dass Sakurai sofort wieder lächelnd einlenkte. „Ich hätte es nur noch mal gerne von dir selbst gehört."
„Meinst du, dann bist du sicherer vor meinen Dummheiten?" Er wurde ernster. „Sakurai. Es tut mir wirklich leid, wie ich mich benommen habe. Ich..."
Sie unterbrach ihn, in dem sie ihm sanft zwei Finger auf die Lippen legte und langsam den Kopf schüttelte. „Vergessen wir das."
„Ganz einfach vergessen?"
Sie nickte fest. „Ganz einfach vergessen."
Yami konnte sich nicht daran erinnern, sich je so erleichtert gefühlt zu haben. Indem er einem Gefühl nachgab rückte er ein Stück an Sakurai heran und legte ihr behutsam den Arm um die Schultern. Sie zuckte nicht zusammen, legte nur den Kopf auf seine Schultern. Das Gefühl sie endlich im Arm zu halten durchfuhr ihn wie ein Rausch. Durch seinen Kopf fuhren so unendlich viele Dinge die er ihr sagen wollte, doch er schwieg. Er hätte nicht gewusst, wo er hätte anfangen sollen und so sahen beide nur stumm auf den See hinaus und genossen das Gefühl, den anderen so nah bei sich zu haben.
„Yami?"Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, in der sich einfach so geschwiegen hatten. Es war ihm egal.
„Ja?"
„Ich..."Er drehte sich zu ihr um und beobachtete sie, während sie nach Worten suchte. „Ich..."Sie sah auf und bemerkte seinen interessierten Blick. „Ich... hab keine Ahnung, was ich gerade sagen wollte. Entschuldige bitte." Sie lächelte. „Vorhin ist so viel gesagt worden, dass ich immer noch nicht alles vollkommen aufgenommen habe."
Yami fühlte sich etwas unwohl. „Ich dachte, wir wollten es vergessen, was ich da für einen Blödsinn geredet habe..."
„Das schon", stimmte sie zu. „Aber... gleichzeitig hast du ja auch Dinge gesagt, die ich nicht vergessen will... dass ich dir etwas... bedeute, zum Beispiel..."
Ihre Stimme stockte. Das Blut stieg ihr ins Gesicht und sie wandte den Blick verlegen ab. Yami lächelte und beobachtete sie einen Augenblick lang. Sie sah unheimlich niedlich aus, wenn sie verlegen war. Schließlich hob er jedoch die Hand, legte sie sanft auf ihre Wange und drehte ihr Gesicht vorsichtig wieder in seine Richtung, so dass sie sich in die Augen sahen. Langsam bewegten sich ihre Gesichter immer weiter aufeinander zu. Wenn es ihm möglich gewesen wäre hätte er diesen Augenblick für immer in seinen Gedanken eingeschlossen. Er schloss die Augen und streckte die Hand nach ihr aus... doch er griff ins Leere. Verwirrt blinzelte er. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Hatte sie es sich doch noch einmal anders überlegt? Er öffnete die Augen. Er sah Sakurai genau vor sich, doch irgendwie auch wieder nicht. Yami riss die Augen auf, in der Hoffnung, dass ihm das Licht eine Streich spielen würde doch er sah sie vor sich. Blass, fast durchsichtig wie einen körperlosen Geist. Sie hatte die Augen geschlossen und die Lippen in Erwartung eines Kusses leicht geöffnet. Sie war wunderschön, doch schien sie in dieser Pose gefangen, unfähig sich zu bewegen, während ihr Bild sich langsam auflöste, während er noch zusah.
„Sakurai?"Sie antwortete ihm nicht; war schon fast verschwunden. „Sakurai!"
Sein Herz setzte einige Schläge aus während er beobachtete, wie auch der letzte Hauch ihres Abbildes vor seinen entsetzten Augen verschwand; sich in Luft auflöste als habe sie nie existiert. „Sakurai?" Seine Stimme brach.
Dunkelheit schlug Yugi fast wie eine Welle aus Wasser entgegen, als er vorsichtig die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Auf den ersten Blick hin schien es vollkommen verlassen. Blasses Mondlicht das zum offenen Fenster herein kam warf kaum wahrnehmbare Schatten auf den Boden und ein kalter Windhauch strich über Yugis Wangen und ließ ihn zittern. Yami war wieder nicht da. Er wusste einfach nicht mehr, was mit seinem Freund los war... einen Tag bereitete er sich überschwänglich auf ein Date vor und kurze Zeit später zog er sich vollkommen aus dem Leben zurück. Ein leiser Seufzer entfuhr dem Jungen. Entmutigt trat er ohne Licht zu machen auf sein Bett zu, wechselte aus Jeans und T-Shirt in einen Schlafanzug, wickelte sich in die kühlen Bettlaken ein und starrte an die Decke. Er konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf Yami. Auch wenn der Pharao es nicht wollte und sich abkapselte, Yugi teilte sich mit ihm einen Körper und wusste ganz genau, wie sehr der Geist litt. Wieder strich ein kalter Windhauch über ihn und Yugi setzte sich auf mit dem Gedanken das Fenster einfach zu schließen. Er hielt jedoch in seiner Bewegung inne, als sein Blick auf den sich im Wind bauschenden, langen Vorhang fiel. Erst jetzt erkannte er im blassen Mondlicht einen Schatten, der sich kaum wahrnehmbar gegen den Stoff abzeichnete.
„Yami?"
Er bekam keine Antwort. Damit hatte er gerechnet.
„Warum sitzt du hinter dem Vorhang?"
Wieder antwortete ihm nur Schweigen.
„Kannst du mir sagen, was los ist?"
Wieder wartete Yugi vergebens. Der Geist schien ihn ignorieren zu wollen. Gegen seinen Willen verspürte der Junge, wie plötzlich starke Gefühle in ihm anschwollen und die Oberhand zu gewinnen drohten. Doch dieses Mal war es nicht Mitleid, das ihn durchströmte sondern Wut. Rasende Wut.
„Verdammt noch mal Yami! Du fängst langsam an, mir unheimlich auf die Nerven zu gehen! Glaubst du etwa, dass du der einzige in der Welt bist, der Probleme hat? Wenn du nicht reden willst, dann häng nicht ständig hier rum. Wenn du doch hier bist, dann nimm dich zusammen! Ich habe langsam einfach keinen Bock mehr auf dieses melancholische Herum-Geleide von dir!" Als all das aus ihm herausgesprudelt war bemerkte Yugi, dass er vor Erregung schwer atmete. Hatte er das eben wirklich gesagt? Fühlte er das wirklich? Gerade als sein schlechtes Gewissen wieder übernahm und er zu einer Entschuldigung ansetzen wollte, hielt ihn eine Bewegung am Fenster zurück. Yamis lange, schlanke Gestalt richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und trat ans Bett heran. Schweigend ließ sich der Pharao auf der Bettkante nieder, sah Yugi jedoch nicht an.
„Was ist los mit dir, Yami?"wiederholte Yugi seine Frage, dieses mal mit einem eindringlichen, ernsten Tonfall, der den Jungen selbst überraschte.
Der Pharao sah ihn nicht an, hatte seine Augen starr auf das Fenster gerichtet. Einen Augenblick lang herrschte Stille, bevor er langsam die Stimme hob. Sie klang belegt und die Verzweifelung in ihr jagte Yugi wieder Schauer über den Rücken. „Es ist Sakurai..."
Yugi verkniff sich einen Kommentar, dass er sich das auch selbst hatte denken können. Stattdessen fragte er weiter: „Möchtest du nun darüber reden oder nicht, Yami? Wenn du willst höre ich zu, aber dann habe ich keine Lust dir jeden zweiten Satz aus der Nase zu ziehen."
„Ich weiß, ich weiß", entfuhr es Yami resigniert. „Entschuldige bitte, Yugi. Ich schaffe es noch, den wichtigsten Menschen in meinem Leben mit meinen Launen zu vertreiben."
„Yami, lenk nicht ab. Es geht jetzt um Sakurai oder ich gehe Schlafen. Im Gegensatz zu dir muss ich nämlich morgen früh zur Schule."
„Sakurai..."Yami flüsterte den Namen unwillkürlich und verfluchte sich selbst innerlich für das warme Kribbeln das sich dabei immer noch in seinem Magen ausbreitete. „Es hat halt einfach nicht so geklappt, wie ich es mir vorgestellt habe, das ist alles. Sie ist einfach nicht der Mensch, für den sie sich ausgegeben hat..."
„Die ganze Geschichte?"
„Die könnte länger werden..."
„Dann fang schon endlich an. Du bist Vorgestern los um dich mit ihr zu treffen..."
Yami seufzte noch einmal schwer. „Ich bin zu ihr gegangen, aber sie hatte schon Besuch. Der Chaos-Magier war bei ihr und ich wollte die beiden nicht stören, da habe ich mitbekommen, wie die beiden sich unterhalten haben..."
„Du hast gelauscht?"entfuhr es Yugi ohne dass er es verhindern konnte.
Yamis Kopf schoss nach oben. „ICH HABE NICHT... ja, gut, ich habe gelauscht, es war nicht absichtlich, aber ich habe gehört, wie sie sich über mich unterhalten haben... es ging darum, dass sie sich nicht weiter mit mir treffen dürfte. Weil es nicht unser Schicksal wäre, zueinander zu finden. Das größeres auf mich warten würde. Verstehst du, Yugi, sie ist genau so wie alle anderen! Sie behandelt mich wie einen Menschen der vor über 5000 Jahren in Ägypten gestorben ist! Vielleicht sehe ich aus wie er, kann mich an Bruchstücke seines Lebens erinnern, aber das macht mich noch lange nicht zu diesem Mann! Einem Mann der ich ganz einfach nicht sein will und kann! Ich möchte ganz normal mein eigenes Leben führen, ohne dass Leute die ich nie gekannt habe vor mir auf die Knie fallen, mir sagen, dass ich die Welt retten soll und mir vorschreiben, wie ich mein Leben zu leben habe! Wenn ich mit einem Menschen zusammen bin, dann deshalb, weil ich mit ihm zusammen sein will und nicht weil es auf irgendeiner halb-verrotteten Steintafel steht."Yami atmete schwer. „Ich habe gedacht, Sakurai wäre anders. Sie kam mir genauso verloren vor wie ich mich gefühlt habe. Ich dachte, wenigstens sie kann mich so behandeln, wie der Mensch der ich bin... und nun stellt es sich heraus, dass sie genau so ist. Jemand sagt ihr, dass es nicht ihr Schicksal wäre, mit dem Pharao zusammen zu sein und sie akzeptiert es einfach... verstehst du Yugi, ich kann es einfach nicht mehr ertragen, ihr in die Augen zu sehen. Diese Einstellung macht mich einfach nur krank!"
Schweigen breitete sich zwischen den beiden aus. Der heftige Gefühlsausbruch hatte Yugi sprachlos gelassen, während Yami damit zu kämpfen hatte, seine Fassung wieder zu erlangen. Sein Herz raste, sein Atem ging stoßartig und nur mit äußerster Mühe konnte er sich wieder ein wenig zur Ruhe zwingen. Einen Augenblick lang hing jeder seinen eigenen Gedanken nach und blickte in eine andere Richtung.
Schließlich war es Yugi, der wieder die Stimme erhob. „Ich denke du bist zu hart gewesen."
Yami schnaubte ein wenig verächtlich was Yugi veranlasste schnell beschwichtigend hinzuzufügen: „Ich kann deine Beweggründe gut verstehen, Yami. Vollkommen. Aber versetz dich doch mal in ihre Lage."
„Genau das möchte ich gerade nicht, Yugi."
„Okay, okay. Dann muss ich das eben für dich machen. Du hast gesagt, sie hat selber keinen Schimmer, wer sie ist, wo sie herkommt oder sonst irgendetwas. Dann trifft sie plötzlich dich. Den Pharao. Alt, mächtig, geheimnisvoll, melancholisch, ich nehme auch mal an gut aussehend. Glaubst du allen ernstes das könnte irgendjemand erzählt bekommen ohne sich irgendwie davon beeinflussen zu lassen? Wie naiv bist du denn? Dann hättest du ihr erzählen sollen, das du Yami Mutou von neben an bis; Buchhalter, ledig, langweilig. So funktionieren Menschen einfach nicht. Und dann taucht noch jemand wie der Chaosmagier auf und sagt ihr, dass sie sich dem Schicksal entgegenstellt. Wie zum Teufel soll sie deiner Meinung nach darauf reagieren?!"
Yami antwortete nicht. Er blickte nur starr zum Fenster hinaus, doch Yugi war sich sicher, dass es hinter seiner Stirn angestrengt arbeitete.
„Wenn sie sich jetzt tatsächlich dafür entscheidet, sich einfach wegzudrehen, dann okay. Dann hast du jedes Recht enttäuscht zu sein. Aber du solltest sie vorher selbst nach ihrer eigenen Meinung fragen. Mein Gott, der Chaosmagier. Würdest du dem Typen widersprechen? Ich werde schon ganz klein, wenn ich ihn nur als Monster aufs Feld rufe. Rede mit ihr. Sag ihr, dass es so nicht weiter gehen kann, dass sie sich entscheiden sollte. Aber gib ihr die Chance sich zu entscheiden. Überrede sie einfach, wenn es nötig ist! Kämpfe um das Mädchen!... WAS?"
Yami starrte ihn unbewegt aus riesigen lila Augen an. „Wie alt bist du eigentlich genau, Yugi?"
„Bitte?"erwiderte Yugi verdutzt, doch dann bemerkte er, wie der Hauch eines Lächelns um die Lippen des Pharaos spielte. „Alt genug, um dir sagen zu können, dass jeder eine Chance verdient, seine Handlungen zu erklären. Und bei einem Mädchen, in das man derartig verliebt ist wie du, gilt das doppelt!"
Yami schloss die Augen. Er wusste nicht genau was er in diesem Moment denken sollte. Die Enttäuschung und die Wut nagten noch immer an deiner Seele, doch er konnte nicht anders, als Yugis Worten Recht zu geben. Er hatte es die letzten Stunden und Tage erfolgreich verdrängt, aber er WOLLTE dass Sakurai sich erklärte. Er wollte, dass sich alles irgendwie aufklärte...
„Jetzt lass schon dein gekränktes Ego unter den Tisch fallen und geh wieder zu ihr. Sonst wird das nie was! Dann kann ich auch endlich schlafen."Yugi sah ihn erwartungsvoll an. Yami richtete sich auf und nickte noch einmal, wie um sich selbst zu überzeugen.
„Ich bin ja schon weg. Schlaf gut, Yugi."
Der Junge beobachtete grinsend, wie sich der Geist langsam auflöste und dann schließlich vollkommen im Inneren des Milleniums-Puzzles verschwand.
Yami konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals so hilflos gefühlt zu haben. Duelle, Höhlen, holographische Gefahren, durchgedrehte Irre die die Welt beherrschen wollen... all dies erschien ihm unter Sakurais stummen Blick irgendwie unwirklich. Kleinigkeiten. Eigentlich war die Situation und wie heftig er darauf reagierte absurd. Er hätte darüber lachen sollen, wenn er nicht so mit anderen Emotionen beschäftigt gewesen wäre. Als er hergekommen war hatten sich in seinem Kopf die unterschiedlichste Gefühle gejagt. Noch immer waren Wut und Enttäuschung am prominentesten, doch seitdem er ihren unbewegten Blick auf sich ruhen fühlte, war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher.
Als er auf die Lichtung getreten war, hatte sie ihn sofort bemerkt. Sie war aufgestanden. Wartete darauf, dass er näher kam. Weiter nichts. Sie hatte ihn einfach nur angesehen. Und geschwiegen.
Die Stille begann ihm in den Ohren zu rauschen. Sein Blut pulsierte ihm durch die Adern in den Schläfen. Er wusste überhaupt nicht, mit was für Gefühlen er ihr gegenübertreten sollte. „Hallo," brachte er schließlich hervor. Es klang selbst in seinen eigenen Ohren kläglich. Er hätte sich von Yugi nie überreden lassen sollen, noch einmal herzukommen. Ein sauberer Schlussstrich war alles gewesen, was er gewollt hatte. Auch wenn es nicht fair gewesen wäre, wie Yugi ihm eingeredet hatte.
„Ich hatte nicht gedacht, dass du noch mal kommst."
Yami spürte, wie er das Gesicht verzog. Klasse. Vorwürfe. Gerade von ihr. Er zwang sich mit aller Selbstbeherrschung, die er zusammenkratzen konnte, ruhig zu bleiben. „Ich war hier. Aber du warst so... beschäftigt, dass ich es für das beste hielt, wieder zu gehen."
„Beschäftigt?"in ihrer Stimme klang Verwirrung mit. Ein verletzter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht, doch Yami war zu wütend um darauf zu achten. Konnte sie ihm nicht wenigstens klipp und klar sagen, dass sie ihn nicht länger sehen wollte? War das so schwer?
„Ja. Beschäftigt. Beschäftigt damit, mir klarzumachen, dass ich gar nicht wiederkommen brauchte. Beschäftigt damit, ein vollkommen anderer Mensch zu sein, als du es mir vorgespielt hast. Beschäftigt damit, alle meine Träume in ganz kleine Stücke zu reißen. Da du im Chaos-Magier dabei so gute Unterstützung hattest, kam ich mir überflüssig vor und bin wieder gegangen?"
„Chaos-Magier?"entfuhr es ihr verwirrt. „Yami, sag mir bitte einfach was genau du von mir willst, denn ich verstehe kein Wort." Sie schien langsam die Geduld zu verlieren. „Entweder das oder verschwinde!"
„Gerne!"Yami wusste, dass er sich nicht unter Kontrolle hatte, unüberlegt handelte, doch es ging nicht anders. Er wollte wütend sein. Auf sie. Sie hatte es nicht anders verdient. Jetzt, wo sie sich auch noch als unschuldig und unwissend hinstellte. „Gerne!"wiederholte er noch wütender und drehte sich ruckartig um und verschränkte die Arme vor der Brust. Doch zum Gehen konnte er sich aus irgendeinem Grund nicht durchringen.
„Yami", ihre Stimme klang wieder etwas weicher. „Bitte. Was ist los? Ich war wütend, enttäuscht, dass du nicht gekommen bist, aber... Sag mir doch bitte einfach, was los ist."
„Das hast du mir doch damals selbst gesagt,"entgegnete Yami trotzig, ohne sich umzudrehen. „Oder besser: du hast es dem Chaos-Magier gesagt. Erinnerst du dich nicht mehr? Du bist genauso wie alle anderen. Jemand sagt dir, dass ich der Pharao bin und du benimmst dich vollkommen anders mir gegenüber. Jemand sagt dir, du bist nicht für mich bestimmt und für dich ist das okay. So viel kann ich dir ja wirklich nicht bedeutet haben, wenn es dir so leicht gefallen ist!" In seiner Wut trat er nach einem herumliegenden Stein. „Ich war so blöd! Ich kenne dich doch kaum. Warum sollte es mich etwas angehen, dass du eine Heuchlerin bist? Du solltest mir genauso egal sein, wie ich dir egal bin! Ich..."Seine Stimme versagte.
„Denkst du das wirklich von mir?"Ihre Stimme klang erstickt. „Wenn du einen Menschen so schnell verurteilen kannst, dann geh jetzt, Yami! Geh!"Das letzte Wort schrie sie fast. „Aber denk daran, dass ich nicht der einzige Heuchler bin, Pharao!"
Er wäre am liebsten wütend geblieben. Stattdessen durchfluteten ihn mit einem mal schreckliche Schuldgefühle. Hatte er Yugi nicht versprochen, ihr zuzuhören? Stattdessen hatte er sie eine Heuchlerin genannt... Nur langsam konnte er sich umdrehen und der Anblick, der sich ihm nun bot, brach ihm beinahe das Herz. Sie war am Ufer des Sees zusammengesunken und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. „Erklär es mir, Sakurai. Bitte."
„Was soll ich dir da erklären. Du denkst doch schon alles zu wissen." Ihre Stimme klang tränenerstickt, aber dennoch abweisend. „Der Chaos-Magier hat mir gesagt, dass ich mich von dir fernhalten soll. Aber hast du mich jemals antworten hören? Hast du jemals daran gedacht, wie ich mich fühle? Dass es mir vielleicht nahe gehen könnte, dass man mir sagt, dass ich dich nicht mehr sehen dürfte? Ist dir irgendwann mal der Gedanke gekommen, dass du nicht das einzige Wesen auf dieser Welt mit Gefühlen bist? Das du nicht der Einzige bist, der verloren und enttäuscht ist?"
In seinem Kopf drehte sich alles. Hatte er sie je antworten hören? Natürlich hatte sie zugestimmt... oder etwa nicht? Yami stöhnte. Er war so ein Idiot. Er hätte sich am liebsten irgendetwas hartes über den Kopf gezogen für seine Dummheit, doch im Moment gab es Wichtigeres zu tun. Vorsichtig trat er an sie heran und ließ sich ein wenig von ihr entfernt auf den Boden sinken. „Nein. Dieser Gedanke ist mir nicht gekommen."
Sie hob den Kopf und sah ihn an. Sie hatte nicht geweint, dennoch war ihr Gesicht gerötet. „Du bist ein furchtbarer Egoist."
Yami zuckte mit den Schultern und versuchte es mit einem vorsichtigen Lächeln. „Aber immerhin ein ehrlicher, oder?"
Als er glaubte, ihrem durchdringenden Blick nicht länger standhalten zu können, zog sich auch der Hauch eines Lächelns um ihre schmalen Lippen. „Meinst du, das macht es viel besser?"
„Wahrscheinlich nicht", entgegnete Yami und fasste langsam wieder etwas Mut. „Aber ich würde dir versprechen, dass ich in Zukunft immer ehrlich mit dir bin. Das könnte uns einiges an Missverständnissen ersparen."
Sie nickte langsam. „Das heißt, wir würden uns in dieser Zukunft, von der du da sprichst, noch einige Male sehen?"
Yami zog eine Augenbraue so fragend hoch, dass Sakurai sofort wieder lächelnd einlenkte. „Ich hätte es nur noch mal gerne von dir selbst gehört."
„Meinst du, dann bist du sicherer vor meinen Dummheiten?" Er wurde ernster. „Sakurai. Es tut mir wirklich leid, wie ich mich benommen habe. Ich..."
Sie unterbrach ihn, in dem sie ihm sanft zwei Finger auf die Lippen legte und langsam den Kopf schüttelte. „Vergessen wir das."
„Ganz einfach vergessen?"
Sie nickte fest. „Ganz einfach vergessen."
Yami konnte sich nicht daran erinnern, sich je so erleichtert gefühlt zu haben. Indem er einem Gefühl nachgab rückte er ein Stück an Sakurai heran und legte ihr behutsam den Arm um die Schultern. Sie zuckte nicht zusammen, legte nur den Kopf auf seine Schultern. Das Gefühl sie endlich im Arm zu halten durchfuhr ihn wie ein Rausch. Durch seinen Kopf fuhren so unendlich viele Dinge die er ihr sagen wollte, doch er schwieg. Er hätte nicht gewusst, wo er hätte anfangen sollen und so sahen beide nur stumm auf den See hinaus und genossen das Gefühl, den anderen so nah bei sich zu haben.
„Yami?"Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, in der sich einfach so geschwiegen hatten. Es war ihm egal.
„Ja?"
„Ich..."Er drehte sich zu ihr um und beobachtete sie, während sie nach Worten suchte. „Ich..."Sie sah auf und bemerkte seinen interessierten Blick. „Ich... hab keine Ahnung, was ich gerade sagen wollte. Entschuldige bitte." Sie lächelte. „Vorhin ist so viel gesagt worden, dass ich immer noch nicht alles vollkommen aufgenommen habe."
Yami fühlte sich etwas unwohl. „Ich dachte, wir wollten es vergessen, was ich da für einen Blödsinn geredet habe..."
„Das schon", stimmte sie zu. „Aber... gleichzeitig hast du ja auch Dinge gesagt, die ich nicht vergessen will... dass ich dir etwas... bedeute, zum Beispiel..."
Ihre Stimme stockte. Das Blut stieg ihr ins Gesicht und sie wandte den Blick verlegen ab. Yami lächelte und beobachtete sie einen Augenblick lang. Sie sah unheimlich niedlich aus, wenn sie verlegen war. Schließlich hob er jedoch die Hand, legte sie sanft auf ihre Wange und drehte ihr Gesicht vorsichtig wieder in seine Richtung, so dass sie sich in die Augen sahen. Langsam bewegten sich ihre Gesichter immer weiter aufeinander zu. Wenn es ihm möglich gewesen wäre hätte er diesen Augenblick für immer in seinen Gedanken eingeschlossen. Er schloss die Augen und streckte die Hand nach ihr aus... doch er griff ins Leere. Verwirrt blinzelte er. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Hatte sie es sich doch noch einmal anders überlegt? Er öffnete die Augen. Er sah Sakurai genau vor sich, doch irgendwie auch wieder nicht. Yami riss die Augen auf, in der Hoffnung, dass ihm das Licht eine Streich spielen würde doch er sah sie vor sich. Blass, fast durchsichtig wie einen körperlosen Geist. Sie hatte die Augen geschlossen und die Lippen in Erwartung eines Kusses leicht geöffnet. Sie war wunderschön, doch schien sie in dieser Pose gefangen, unfähig sich zu bewegen, während ihr Bild sich langsam auflöste, während er noch zusah.
„Sakurai?"Sie antwortete ihm nicht; war schon fast verschwunden. „Sakurai!"
Sein Herz setzte einige Schläge aus während er beobachtete, wie auch der letzte Hauch ihres Abbildes vor seinen entsetzten Augen verschwand; sich in Luft auflöste als habe sie nie existiert. „Sakurai?" Seine Stimme brach.
