11
Die Hitze des Tages hatte endlich nachgelassen und eine angenehm frische Briese wehte durch die Straßen der Stadt. Der Himmel hatte angesichts der fortschreitenden Abendstunden bereits begonnen, sich dunkel zu färben, doch bis die Dunkelheit völlig hereinbrechen würde, war noch Zeit. Das Jahr bewegte sich auf seinen längsten Tag zu.
Alexandra hatte die Gelegenheit genutzt, um noch einen kurzen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Konferenzen waren einfach nichts für sie. Erst den ganzen morgen irgendwelche Präsentationen ausarbeiten, wobei ihr Kaiba die ganze Zeit über im Nacken saß und sich wie ein Greifvogel auf jeden noch so kleinen Rechtschreibfehler stürzte, und dann den Rest des Tages in einem stickigen Raum sitzen und wildfremde Menschen davon überzeugen, einem Geld für ein neues Produkt zu geben, für das sie sich gerade eben noch dumme Werbesprüche ausgedacht hatte. Vielleicht musste sie sich auch erst daran gewöhnen. Immerhin hatte sie ja den Vorteil auch mal mit einigen Gästen durch die Stadt gehen zu können. Oder auf ein Geschäftsessen eingeladen zu werden. Auch wenn das bedeutete, dass sie sich in der Umgebung von Seto Kaiba aufhalten musste. Sie hatte gehofft, dass es mit der Zeit einfach werden würde; dass sie sich an seinen Perfektionismus, seine Art, alles mit einem eiskalten Blick aus wachsamen Augen zu mustern, seine Vorliebe, plötzlich hinter ihr zu stehen und sie zu Tode zu erschrecken, gewöhnen würde. Doch dem war nicht so. Heute hatte sie einen zehn Zentimeter dicken Stapel Papier neu ordnen müssen, als er plötzlich vor ihr stand und mit schneidender Stimme angefahren hatte. Sie hatte ihre Last vor Schreck fallen gelassen hatte. Sie war aber auch zu dumm... spätestens dass sie seit einigen Tagen zusätzlich noch Herzrasen bekam, wenn sie seinen starren Blick auf sich ruhen spürte.
Mit einem leisen Seufzen blieb sie stehen und sah sich um. Ohne es genau wahrzunehmen war sie auf eine Brücke gekommen. Sie streckte sich nicht über einen Fluch sondern eine Hauptverkehrsader der Stadt. Unter ihr floss träge der Verkehr entlang. Irgendwie beruhigte sie der Anblick. Er war lange nicht so angenehm wie langsam vorbeiziehendes Wasser, dennoch konnte man in dem Bild versinken. Sie schloss eine Weile lang die Augen und achtete nur auf ihren eigenen Herzschlag und den kühlen Wind der ihr durch die Haare spielte und um die bloßen Beine fuhr und ihren weiten Rock in Wallung brachte. Es waren die kleinen Dinge im Leben, die einen plötzlich wieder spüren ließen, dass man noch am Leben war.
Ihr Blick wanderte gemütlich über den Horizont, bis er wieder bei der Brücke, auf der sie stand, angekommen war. Etwa hundert Meter neben sich sah sie eine weitere Gestalt, die sich wie sie an die Brüstung gelehnt hatte und sehnsüchtig in die Ferne starrte. Nur das ihr Körper in sich zusammengesunken war und nichts anderes als Hoffnungslosigkeit in die Welt sandte. Alexandra seufzte leise. Andere Leute hatten genau wie sie Probleme. Wahrscheinlich sogar schlimmere als sie. Warum sollte sie also melancholisch in die Ferne starren? Sie riss sich langsam aus ihren Tagträumereien. Es wurde auch langsam spät und so entschied sie sich dafür, die Brücke noch zu überqueren. Auf der anderen Seite gab es eine kleine U-Bahn-Station in der Nähe von der sie einen Zug nachhause nehmen konnte.
Erst als sie bis auf einige Meter an die andere Person herangekommen war, erkannte sie plötzlich Yami. Es schmerzte sie unheimlich, dass ausgerechnet er es war, der hier so vollkommen verlassen und resigniert in die Ferne starrte. Auch wenn es nicht sonderlich überraschend war. Er hatte die ganze Zeit versucht es zu verbergen, doch diese Stimmung hatte sich bei ihren letzten Treffen immer deutlicher gezeigt und konnte nun, da er sich alleine wähnte, vollkommen Besitz von ihm ergreifen.
Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie ihn vielleicht doch besser alleine lassen sollte, doch als sie sich gerade zum Gehen abwenden wollte, drehte er sich langsam zu ihr um, als hätte er ihre Anwesenheit gespürt.
„Alexandra", begrüßte er sie leise. Der Blick aus seinen riesigen, lilanen Augen ließ ihr einen Schauer den Rücken hinunter laufen. Sie fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare. „Hallo Yami. Äh... wenn du alleine sein willst, dann gehe ich..."
Anstatt zu antworten drehte er sich wieder dem Gelände zu und ließ seinen Blick über den immer dunkler werdenden Himmel gleiten. „Bleib ruhig einen Augenblick, wenn du Lust und Zeit hast."
„Gerne", entgegnete sie, ohne sich jedoch wirklich sicher zu sein. Sie wusste nie genau, wie sie mit Menschen umgehen sollte, die sich in einer vergleichbaren Stimmung befanden. Vor allem, wenn es Menschen waren, die sie gern hatte. Um ihre Ratlosigkeit einigermaßen zu überspielen kletterte sie über eine kleine Bank, die links neben Yami stand auf das breite Geländer und setze sich in einiger Entfernung neben ihn hin. Während sie ihre Beine über dem sich langsam vorwärts wälzenden Verkehr baumeln ließ breitete sich Schweigen über den beiden aus. Ihr fiel partout nichts ein, womit sie ein Gespräch hätte beginnen können, bis Yami ihr die Aufgabe abnahm.
„Es ist schön, mal nicht unbedingt reden zu müssen."
Alex musste sich ein Lächeln verkneifen, während sie versuchte, so zu tun, als hätte sie immer gewusst, dass Schweigen das war, was Yami wollte. „Das klingt, als hättest du in letzter Zeit viel zu viel gesprochen und wärst es leid."
„Vielmehr bin ich es leid, dass ich mich jedes Mal dazu überwinden musste und es dann doch allen umsonst war, "entgegnete Yami mit einem schweren Seufzen.
Alex nickte stumm. Sie wusste nicht genau, was er ihr sagen wollte, fragte aber nicht weiter nach. Aus den Augenwinkel beobachtete sie ihn und war überrascht, wie niedergeschlagen Yami aussah. Sein gesamter Körper schien in diese eine Emotion eingehüllt zu sein. Er hatte sich gegen das Geländer der Brücke gelehnt und stützte sich mit den Ellenbogen darauf ab. Einige Haarsträhnen hatten sich aus seiner Frisur gelöst und fielen ihm in die Stirn wenn der Wind nicht gerade mit ihnen spielte. Das Schweigen zwischen ihnen breitete sich wieder aus und eine Weile lang beschäftigte sich Alexandra nur damit in dem Gefühl ihres Beisammenseins zu schwimmen und die ersten sich zeigenden Sterne zu beobachten. Bis eben hatte sie es sich nicht eingestehen wollen, doch an manchen Tagen kam sie sich so weit weg von zuhause einfach nur furchtbar verlassen vor. Yamis Anwesenheit beruhigte sie ungemein, ließ die Distanz zu Familie und alten Freunden plötzlich unwichtig werden.
Mit einem Mal hörte sie von Yami ein trockenes Lachen. „Irgendwie bist du etwas besonderes, Alexandra."
„Ich? Woran machst du dass denn so plötzlich fest?"
Er zuckte mit den schlanken Schultern. „Muss ich dafür einen genauen Grund haben? Vielleicht weil du die erste bist, die sich zurückhalten kann zu fragen, ob es um ein Mädchen bei der ganzen Sache geht."
Sie lächelte. „Das wusste ich doch schon vorher."
"Wahrscheinlich. Vielleicht ist es deshalb so angenehm, dass du nicht noch mal danach gefragt hast."
„Das einzige, was ich nicht verstehen kann ist, dass du dabei so negativ klingen musst", fuhr Alex fort. „Sollte nicht wenigstens ein kleines Bisschen Hoffnung bleiben?"
Yami seufzte schwer. "Vermutlich schon, aber es ist so entmutigend, wenn du die eine Krise bewältigst und sich deine neuen Hoffnung dann sofort wieder... in Luft auflösen... im wahrsten Sinne des Wortes... dann beginnst du wirklich an ein dir übel gesinntes Schicksal zu glauben."
Sie wusste, dass sie nun endgültig den Halt in der Konversation verlieren würde. Wenn ihr Gegenüber derartig deprimiert war, fühlte sie sich einfach nur noch hilflos. Ratschläge wären hier vollkommen wirkungslos, selbst wenn sie noch so gut gemeint waren. „Ich habe in der Bücherei ein Buch über Japanische Traditionen gefunden und darin etwas über Tanabata nachgelesen, nachdem mir Duke seine Bedeutung neulich nicht erklären konnte. Möchtest du die Geschichte hören?"
Sie wartete ein fast unmerkliches Nicken von Yami ab, ordnete noch einmal kurz ihre Gedanken und begann zu erzählen. „Tanabata ist ja jedes Jahr am siebten Juli. Der Tag ist deshalb gewählt, weil sich an diesem Tag zwei der hellsten Sterne am Himmel über Japan so nahe kommen, wie sonst nie im Jahr. Das sind Vega und Altair. Die beiden befinden sich an den gegenüberliegenden Seiten der Milchstrasse. Das Buch war sich nicht ganz sicher, ob die Geschichte aus Japan stammt oder aus China importiert ist, auf jeden Fall erzählt sie von einem Mädchen auf dem Stern Vega. Sie war die Tochter eines Gottes und deshalb natürlich sehr hübsch, interessierte sich aber nicht für Jungen, sondern nur für ihre Arbeit als Weberin. Das fand ihr Vater sehr gut und deshalb hat er für sie einen Mann gesucht. Den fand er dann auf Altair in einem Nomaden. Der war auch ein sehr pflichtbewusster junger Mann. Die beiden wurden verheiratet und waren unheimlich glücklich zusammen. So glücklich, das sie darüber ihre Arbeit liegen ließen. Vor allem das Mädchen ließ ihre Webarbeiten vollkommen beiseite und das machte den Gott so böse, dass er die beiden trennte und auf die ursprünglichen, entgegen gesetzten Seiten der Milchstrasse verbannte. Nur wenn sie das ganze Jahr über hart arbeiten würden, dürften sie sich am siebten Juli jeden Jahres sehen, wenn sich ihre beiden Sterne am nächsten sind. Und weil es nun ihr sehnlichster Wunsch ist, zusammen zu sein, ihnen dieser Wunsch aber nie erfüllt werden wird, haben sie sich entschieden, wenigstens die Wünsche der Menschen wahr werden zu lassen, wenn sie am siebten Juli aufgeschrieben und an Bambus-Zweige gehängt werden."
Als sie eine kurze Pause machte, klang ihr ihre eigene Stimme noch seltsam in den Ohren nach. Sie war es einfach nicht gewohnt, sich selbst so lange sprechen zu hören. „Und weißt du, was das gemeinste an der Geschichte ist?"fragte sie während sie sich zu Yami umdrehte. Es überrumpelte sie ein wenig, als sie feststellte, das er sie direkt ansah, doch sein leises Kopf schütteln ließ sie fortfahren: "Jedes Jahr kommen die beiden also ans Ufer des breiten Stroms der Milchstraße um sich aus der Ferne sehen zu können. Wenn auf der Erde schönes Wetter ist, können sie sich zuwinken und miteinander sprechen. Aber wenn es bewölkt ist, können sie sich noch nicht einmal an diesem Tag sehen und müssen wieder ein ganzes Jahr warten."Sie nahm sich kurz die Zeit um durchzuatmen und verlegen mit der rechten Hand durchs Haar zu fahren. „Ich bin eine ziemlich miese Geschichten-Erzählerin, oder?"
„Nur in der Hinsicht, dass du das wichtigste vergessen hast", entgegnete Yami ruhig. „Die Moral."
Sie zog eine Augenbraue hoch. „Wenn du unbedingt darauf bestehst, kann ich dir davon gleich eine ganze Reihe anbieten. Such dir die aus, die dir am besten gefällt: Also 1. Traue niemals einem Gott der dich verkuppeln will, selbst wenn er dein Vater sein sollte; 2. Vertraue ihm ERST RECHT NICHT, wenn er dein Vater ist; 3. Verlass dich nie auf das Wetter bei einem Date denn Murphys Gesetz schläft nie; 4. Brenn mit deinem Geliebten durch, so lange du die Chance dazu hast; 5. Lies niemals japanische Mythen, wenn du ein Happyend haben möchtest; 6. Genug Leute schmeißen uns Steine in den Weg, da müssen wir nicht extra noch ans Schicksal glauben."
Sie überlegte einen Augenblick lang, ob sie nicht noch etwas vergessen hatte, entschied dann jedoch dagegen und ließ sich von der Mauer gleiten. „Ich sollte jetzt nach Hause. Kaiba will mich morgen schon um halb sieben da haben, der Sklaventreiber."
Yami nickte langsam, scheinbar tief in Gedanken.
„In Ordnung, wir sehen uns dann irgendwann."
Sie war bereits einige Meter gegangen, als sie sich noch einmal umdrehte. „Yami? Ich bin sonst die letzte, die man in solchen Dingen um Rat fragen sollte, aber in einer Sache bin ich mir vollkommen sicher: Es gibt kein Schicksal. Lass dir nie etwas anderes einreden. Du alleine bist verantwortlich dafür, wenn etwas in deinem Leben schief geht. Aber dafür kannst du alleine es dann auch wieder gerade drücken."
Sie lächelte ein letztes Mal schief, als sie sein verwundertes Gesicht sah und wandte sich dann endgültig von ihm ab.
Der Pharao schüttelte den Kopf und versuchte seine Gedanken wenigstens einigermaßen zu ordnen. Kein Schicksal. Diese Worte hätten ihn wohl am meisten berühren sollen, doch stattdessen war es ihr Lächeln am Schluss gewesen, dass ihn nicht mehr los ließ. So schlicht. Ihr Gespräch hatte ihm keine neuen Erkenntnisse gebracht. Sakurai war immer noch verschwunden und ihre Abwesenheit riss noch immer sein Herz entzwei, doch Alexandras Lächeln gab ihm die Hoffnung, dass es noch nicht vorbei sein konnte.
Ohne dass er genau wusste warum, begann er zu lächeln. Sie war tatsächlich etwas Besonderes. Nicht auf irgendeine außergewöhnliche, spektakuläre Art und Weise aber da war etwas. Etwas das tief unter ihrer Nervosität und Unsicherheit verborgen war, aber eben für einen Augenblick so hell durchgeleuchtet hatte, dass es ihn beinahe geblendet hatte. Dem Schicksal konnte er laut ihrer eigenen Worte nicht mehr danken, dass er Alexandra hatte treffen dürfen. Stattdessen, würde er Duke wohl irgendwann mal danken müssen, dass er sie ihr vorgestellt hatte. Mit diesen Gedanken richtete er sich schließlich auf und streckte sich ausgiebig. Die Kühle des Abends war ihm langsam aber sicher in sämtliche Knochen gekrochen. Er machte sich in dieselbe Richtung auf, in die Alexandra verschwunden war, konnte sie jedoch nicht mehr entdecken. Es war schon spät geworden und einzig eine große, schwarze Limousine war noch unterwegs. Als Yami genauer hinsah fiel ihm auf, dass er sie vorhin schon aus den Augenwinkeln auf der Brücke hatte stehen sehen. Es war irgendwann gekommen während Alexandra über Tanabata erzählt hatte und eben erst wieder angefahren. Grübelnd blieb Yami stehen und sah dem Wagen mit vor der Brust verschränkten Armen hinterher. Wie viele Menschen in der Stadt, die er kannte, konnten sich so einen Wagen leisten und hätten Interesse daran, Alexandra und ihn zu beobachten? Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er sich ernsthafte Sorgen machen sollte, doch dann schüttelte er energisch den Kopf. Sie mochte es sich selbst vielleicht nicht eingestehen, aber sie würde selbst mit Kaiba fertig werden. Da war er sich sicher. Der Gedanke ließ ihn lächeln und gab ihm Hoffnung. Dann machte sich auf den Weg nach Hause.
