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Als Alex sich zwang den Kopf wieder zu heben, der ihr bereits vor Erschöpfung auf die Tischplatte gesunken war, zeigte die Uhr über ihrem kleinen Schreibtisch bereits kurz nach vier Uhr morgens an. „Na klasse", murmelte sie müde. Sie hatte noch bis spät in die Nacht an einigen Treatments und Präsentationen arbeiten müssen und war dabei wohl irgendwann aus purer Erschöpfung eingeschlafen. Mit einem riesigen Aufwand an Willenskraft stand sie auf, wobei ihr Rücken laut zu knacken begann und anschließend unheimlich wehtat. „Klasse", murmelte sie noch einmal. Jetzt nur noch ab nach hause ins Bett. Sie suchte ihre Jacke und Tasche und trat hinaus in den Flur, als ihr etwas einfiel, was sie innerlich zum Fluchen brachte. Es war vier Uhr in der Frühe. Morgen sollte sie schon um sechs Uhr anfangen, da bereits für sieben eine Präsentation angesetzt war. Mit der U-Bahn würde sie fast eine halbe Stunde bis nach hause brauchen. Fuhren um die Uhrzeit überhaupt noch welche?

„Klasse, klasse, klasse", murmelte sie weiter vor sich hin. Konnte sie sich wenigstens auf den bequemen Sofas im Konferenzraum zusammen rollen und ein bisschen schlafen? Wenn sie sich den Wecker auf halb sechs stellen würde, könnte sie aufgestanden sein, bevor irgendjemand anderes eintreffen würde. Aber selbst wenn sie schlafen könnte, das würde sie doch eigentlich nur noch müder machen oder?

Während sie weiter unentschlossen im leeren und dunklen Flur stand arbeitete sich ein Gedanke langsam durch ihr vernebeltes Hirn an die Oberfläche. Sie hatte doch gestern eine Delegation von britischen Geschäftsleuten durch das Gebäude geführt und ihnen unter anderem das luxuriöse Schwimmbad in der obersten Etage gezeigt. Das wäre jetzt genau das richtige. Entspannen aber doch noch weiter wach bleiben. Ob da oben jetzt wohl Wasser drin ist? Bevor ihr noch der Gedanke kommen konnte, dass bestimmt nur ein kleiner Personenkreis dort oben Zutritt hatte, war sie zu einem Aufzug geschlurft und in den obersten Stock unterwegs.

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Niemand war hier. Natürlich nicht. Um diese Uhrzeit. Beruhigendes blaues Licht, aus den Wasserbecken gab dem riesigen Raum mit seinen Marmorkacheln und Regenwaldpflanzen eine ungeheuer einladende Atmosphäre, so dass sie beschloss, kein weiteres Licht zu machen. Schnell hatte sie ein kleines, flaches Becken gefunden, dass ihr zusagte. Am Boden hatte es kleine Düsen und die Temperatur glich der einer Badewanne. Alex entledigte sich ihrer Kleider und legte sie ordentlich auf dem Boden zusammen. Sie würde sie morgen ja noch mal brauchen. Als sie sich langsam in das warme Wasser gleiten ließ, entfuhr ihr ein wohliges Seufzen und sie spürte, wie die Müdigkeit auf einmal ihren Körper verließ. Sie wählte ein interessant aussehendes Fläschchen aus einem Regal über dem Wannenrand und goss einen großzügigen Schluck davon in ihr Wasser, das Sekunden später von weichem, süß duftenden Schaum überzogen war. Herrlich, fuhr es ihr durch den Kopf. So würde es ihr in Zukunft weniger ausmachen, bis spät in die Nacht arbeiten zu müssen. Sie öffnete die Augen wieder und ließ ihre Blicke über die Pflanzen schweifen und blickte schließlich aus einem der riesigen Fenster hinaus auf die Lichter der Stadt. Mitten in der Nacht ein wunderschöner, friedlicher Anblick.

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Als das heiße Wasser über seinen Körper rann, spürte er, wie langsam das Leben in ihn zurückkehrte. Trotzdem lehnte er sich weiterhin kraftlos gegen die geflieste Wand der Dusche. Es war seine Art loszulassen. Sich einfach eine halbe Stunde oder vielleicht auch länger unter heißes Wasser zu stellen, sich von Wärme und waberndem Nebel einschließen zu lassen um nichts mehr von der Welt, die nichts weiter als Kontrolle von ihm verlangte, an sich heran zu lassen.

Ich werde wohl langsam weich, fuhr es ihm durch den Kopf. Vielleicht auch schon alt. Und das wo ich noch nicht mal dreißig bin. Unbewusst entfuhr ihm ein heiseres, kurzes Lachen. Schluss damit! Mit einer ruckartigen Bewegung fuhr seine Hand nach vorne und drehte das Wasser ab. Es war doch für ihn nichts Ungewöhnliches die ganze Nacht lang durchzuarbeiten. Warum stellte er sich heute so an? Ohne sich die Mühe zu machen, sich abzutrocknen wickelte er sich ein Handtuch um die Hüften und trat aus der Dusche in den Hauptbereich des Schwimmbades, das immer noch in blaues Dämmerlicht getaucht war. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen und alles würde wieder von neuem losgehen. Ein trostloser Tag nach dem anderen. Um ihn herum nur unfähige, kriechende Kreaturen... bis dahin würde er noch im großen Becken ein paar Runden drehen und dann runter in den Konferenzraum gehen und sehen, ob alle seine Angestellten auch pünktlich um sechs erschienen. Wenn ihm schon nichts anderes Freude bereiten konnte, dann doch wenigstens die Tatsache dass er sein Angestellten verunsichern konnte. Doch auch das verlor langsam seinen Charme. Falls es den jemals besessen hatte... das reichte nun aber wirklich!

Mit zielstrebigem Schritt bewegte er sich auf das Schwimmbecken zu, als er plötzlich innehielt. Irgendwo im Halbdunkel hatte er unbewusst eine Bewegung wahrgenommen. Eigentlich sollte doch jetzt niemand hier sein. Wer sollte außer ihm um diese Zeit noch in der Firma sein? Er ließ seinen Blick über den riesigen Raum schweifen und zuckte zusammen. Etwa zehn Meter von ihm entfernt, in einem kleinen, in den Boden eingelassenen Becken befand sich eine Person. Eine weibliche Person, korrigierte Kaiba sich, während er sich in den Schatten einer großen Palme zurückzog. Alexandra.

Einen Augenblick lang fragte er sich wütend, wie es sich das Mädchen erlauben konnte, einfach hier oben zu sein, doch er merkte wie seine Gedanken nicht lange mit Wut aufhielten und stattdessen abschweiften und nur noch an dem Bild fest hingen, das sich ihm hier bot. Sie hatte sich gegen den Wannenrand gelehnt und blickte unter halbgeschlossenen Lidern abwesend aus einem der großen Fenster. Ihr rechtes Bein war angewinkelt und auf den Rand der Wanne gelehnt, so dass Kaiba sehen konnte, wie das Wasser über ihrer hellen Haut verdampfte. Ihre rechte Hand spielte abwesend mit einer Haarsträhne, die sich aus ihrer verrutschten Hochsteckfrisur gelöst hatte und auf ihre nackten Schultern fiel. Gerade das war es, was Kaiba am meisten verstörte. Die hochgesteckten Haare enthüllten schmale, gerade Schulter und ein geradezu perfektes Dekoltée. Auf der glatten Haut hatte sich Schaum abgesetzt und ließ sie fast überirdisch glänzen.

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Alex spürte ganz deutlich, dass sie plötzlich von jemandem beobachtet wurde. In den letzten Tagen und Wochen hatte sie es gelernt, sofort zu spüren, wenn jemand die Augen derartig intensiv auf sie gerichtet hatte. Jedes Mal lief ihr ein kleiner Schauer den Nacken hinab, wenn es wieder passierte. Sie wusste auch ganz genau, wer sie beobachtete, ohne auch nur den Kopf in die entsprechende Richtung zu drehen und nachzusehen. So intensiv, so kühl lagen nur die Augen von Seto Kaiba auf ihr. Erst heute Nachmittag hatte sie es wieder gemerkt. Sie hatte eine kleine Präsentation über Absatzmärkte von verschiedenen Spiele-Arten in Europa gehalten und während der ganzen Zeit hatte Kaiba sie nicht ein einziges Mal aus den Augen gelassen. Während sie einen kurzen Film laufen ließ, hatte sie wieder und wieder nervös ihre äußere Erscheinung überprüft. Ein neuer, schlichter roter Rock, schwarze Schuhe mit Absätzen in denen sie sich gerade noch natürlich bewegen konnte, ein schlichtes schwarzes Top und einen dunklen Blazer. Keine Falten, keine Fusseln. Ein Seitenblick auf ihr Spiegelbild in einer Fensterscheibe sagte ihr, das auch ihre schlicht hochgesteckten Haare so saßen, wie es ihr die Friseurin vor einigen Tagen gezeigt hatte. War es das was sie sagte? Bestimmt nicht. Sie hatte es noch vor zwei Stunden mit Kaiba penibel durchgehen müssen, dass sich auch keine Fehler einschlichen.

Alex unterdrückte ein leises, ärgerliches Knurren, als ihr diese Erinnerungen ins Gedächtnis kamen. Es war so ungerecht! Was hatte sie denn getan, dass er sie ständig zu überwachen schien. Tag für Tag, wann immer sie sich auch nur im selben Raum befanden. Und dann kein Wort der Erklärung. Wenn ihm etwas nicht gefiel, dann sollte er es doch einfach sagen und sie nicht so durcheinander bringen.

Mit immer noch halb geschlossenen Augen, bewegte sie den Kopf ein wenig hin und her und konnte ihn schließlich sehen. Seine hoch aufgerichtete Figur spiegelte sich in einem der großen Fenster zu ihrer rechten. Unbewusst ertappte sie sich plötzlich dabei, wie sie ihn ebenfalls zu beobachten begann. Seinen langen, makellosen Körper, die vor der Brust verschränkten Arme, ein weißes Handtuch um die Hüften gewickelt, die Wassertropfen, die noch überall an seinem Körper hingen. Er stand ganz reglos dort, in einer Ecke in der er sich wahrscheinlich unbeobachtet vorkam und starrte zu ihr herüber.

Wieso? Schoß es ihr mit einem Mal durch den Kopf. Beruflich konnte es doch gerade jetzt wirklich nicht sein. Ein anderer Gedanke fuhr ihr plötzlich durch den Kopf, so aufdringlich, dass sie am liebsten aufgesprungen und in eins der eiskalten Saunabecken gesprungen wäre um ihn wieder loszuwerden. Dein Körper. Er WILL dich ansehen. Er findet dich anziehend.

Eine ganze Weile lang drehte Alex den Gedanken im Kopf hin und her und wusste nicht, ob sie ihn einfach als Blödsinn, der einem übermüdeten Hirn entsprang, abtun sollte oder nicht. Aber dort drüben stand er doch! Jetzt seit einigen Minuten, so dass ein Versehen ausgeschlossen war. Noch immer, ohne sich auch nur einen Zentimeter bewegt zu haben. Nun denn, beschloss sie letztendlich mit einem Anflug von Ruchlosigkeit. Wenn er denkt, dass man dieses Spiel nicht zu zweit spielen kann, dann werde ich ihm zeigen, wie falsch er da liegt! Soll er doch meinetwegen sehen, was er NICHT haben kann.

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In seinem Versteck hörte sich Kaiba scharf die Luft durch die Zähne einsaugen. Unbewusst trat er noch einen Schritt weiter in den Schatten der riesigen Pflanzen zurück um auch wirklich sicher zu gehen, nicht entdeckt zu werden. Wie hypnotisiert blickte er weiter auf diese junge Frau. Sie begann sich ein wenig zu bewegen. Nur wenige Zentimeter, aber der Effekt jagte Kaiba einen heißen Schauer durch den ganzen Körper. Ihr Oberkörper war noch ein Stück weiter aus dem Wasser aufgetaucht, so dass auch ihre Brust und ihr flacher Bauch sichtbar wurden, nur an den notwendigsten Stellen mit dickem weißem Schaum bedeckt. Du solltest gehen, fuhr es Kaiba durch den Kopf, jetzt. Das ist genau das, was du immer befürchtet hattest. Doch er war einfach nicht in der Lage sich abzuwenden. Im Gegenteil, immer stärker verspürte er das Verlangen, sich ihr weiter zu nähern, bis er sie endlich berühren konnte, ihren warmen, nassen Körper an seinem spüren konnte...

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Innerlich gratulierte sich Alex leise. Er hatte sich noch immer nicht bewegt, doch tief in ihrem Inneren wusste sie einfach, dass es ihn alles andere als kalt ließ. Ganz nebenbei, meldete sich plötzlich eine leise aber bestimmte Stimme aus ihrem Hinterkopf, bist du eigentlich immer schon so offenherzig gewesen? Du findest es genau so aufregend von ihm beobachtet zu werden.

Aufregend, wiederholte sie, nicht in der Lage den aufdringlichen Gedanken loszuwerden. Aber irgendetwas Wahres musste doch dran sein. Normalerweise sollte man in so einer Situation doch nach dem nächsten Handtuch hechten und sich aus dem Staub machen. Gut, dann finde ich es eben aufregend, gab sie vor sich selbst zu. Und? Er hat Spaß daran, mich zu beobachten, warum sollte ich dann keinen dabei haben, beobachtet zu werden. Von einem derartig gut aussehenden Mann.

Unauffällig drehte sie den Kopf etwas weiter zur Seite um ihn noch etwas besser sehen zu können, den athletischen Körper, das ebene Gesicht mit den alles dominierenden blauen Augen, die sie unter einigen Strähnen nassen, braunen Haars hervor ansahen und denen keine ihrer Bewegungen entgingen. Verdammt, welche Frau bei klarem Verstand würde das nicht aufregend finden? In Gedanken beobachtete sie, wie er schließlich aus seinem Versteck trat, sich neben dem Becken niederließ und sie weiterhin ansah während er seine Hand ausstreckte und sie endlich berühren; an den Schenkeln, hinauf zum Bauch, über ihre Brüste, Dekoltée, den Hals und dann in den Nacken glitt, sie langsam zu sich hochzog und schließlich mit heißen Lippen über die Haut ihres Halses fuhr, bis er schließlich ihre Lippen fand...

Ihr entfuhr ein Stöhnen, das ihm keinesfalls entgangen sein konnte. Mit Gewalt zwang sie sich zurück in die Realität. Gut, das geht nun wirklich zu weit. Ein Blick zum Fenster sagte ihr einerseits, dass er sich noch immer nicht bewegt hatte und dann auch, dass die Sonne aufgegangen war und es langsam Zeit wurde zu gehen. Noch ein letztes Mal sprach sie sich Mut zu. Los Alex, er ist dir nicht so überlegen, wie er dir immer einreden will. Das hast du gerade bemerkt. Jetzt kannst du ihm auch gegenübertreten... aber nicht länger als unbedingt nötig...

Sie stand langsam auf, versuchte nicht an ihre Nacktheit zu denken, nahm ein großes, weiches Handtuch aus einem Regal und wickelte es sich um den Körper. Dann nahm sie ihre Kleider auf den Arm und schritt auf den Ausgang zu den Umkleidekabinen zu. Als sie um eine Ecke trat, stand sie ihm plötzlich genau gegenüber. Mit einem Mal fiel ihr auf, dass er lange nicht so groß war, wie es ihr bis jetzt vorgekommen war. Höchstens einen Kopf oder etwas größer als sie, dennoch war er eine beeindruckende Gestalt, auch ohne Klamotten. Oder gerade ohne.

„Guten Morgen! Sie sind aber sehr früh hier, Sir."

Sie war sich sicher, dass sie ihn durch ihre Unverfrorenheit zumindest ein bisschen irritiert hatte. Genauso sicher war sie sich, dass er wusste, dass sie sich im Klaren darüber war, wie lange er hier gestanden hatte. Etwas in seinen Augen verriet ihr das.

„Sie genauso. Aber im Gegensatz zu Ihnen gehört mir dieses Bad."Seine Stimme klang so scharf wie immer, doch Alex hatte sich endlich vorgenommen, keine Angst mehr davor zu haben. Jetzt nicht mehr.

„Das ist wahr. Und sie könne hier machen, was immer Sie wollen."Sie unterstrich den letzten Teil des Satzes mit solcher Deutlichkeit, dass kein Zweifel mehr bestehen konnte, was sie gemeint hatte. „Dann sehen wir uns nachher, Sir."Damit drehte sie sich um und ging. Noch bis sich die Tür der Umkleidekabine hinter ihr schloss konnte sie seine Blicke auf ihrem Rücken spüren.