Kapitel 6
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...denn es gibt keine Rettung - Sie kann nicht fliehn
Sie muss sich mit ansehn, wie die Tage des Donners
sie nun langsam überziehn
Diese Welt war verlogen - Diese Welt war nie rein
Sie liegt am Boden um zu Sterben,
und ich lass sie sterben, denn ich weiß, so soll es sein
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"Hermine!!!", vom Fuße der Treppe zum Mädchentrakt erklang Harrys Stimme - aufgekratzt - fast panisch. Selbst durch die geschlossene Türe, konnten Snape und Hermine ihn rufen hören. Wenn er noch einmal rufen würde, war es unvermeidlich, daß andere Mädchen wach würden - wenn es nicht jetzt sogar schon geschehen war.
Hermine hatte sich wieder soweit in der Gewalt, daß sie aufspringen und zur Türe laufen konnte, während Snape, auf dem Boden knien blieb, die Arme durchgedrückt auf die Knie abgestützt und kurz den Kopf hängen ließ um sich zu sammeln.
Sie öffnete die Türe und rief halblaut hinaus: "Was ist, Harry?"
"Hermine?! Ist mit dir alles in Ordnung?", er verschluckte sich fast vor Aufregung - und es kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, daß Snape und sie vielleicht nicht die Einzigen waren, die seltsam geträumt hatten.
"Ja, ich bin in Ordnung."
Erleichtertes Aufseufzen klang von unten zu ihr hoch.
"Kommst du bitte mal kurz herunter?"
Natürlich - er konnte nicht zu ihr hochkommen, weil den männlichen Gryffindors der Zugang zum Trakt der Mädchen durch Magie verwehrt war.
Sie hatte den Gedanken noch nicht ausgesprochen, als Snape hinter ihr stand, etwas murmelte und dann leise sagte: "Er soll hochkommen - es geht jetzt"
Sie überlegte nicht lange und rief Harry noch etwas leiser als gerade zu: "Du kannst hochkommen, der Bann ist im Moment aufgehoben."
Sofort klangen laufende Schritte auf der Treppe und Sekunden später stand Harry Potter vor Hermine. Es bedurfte nur eines einzigen Blickes in sein schneeweißes Gesicht, um zu wissen, daß er den gleichen "Traum" geträumt hatte. Und angesichts ihres verweinten Gesichts, brauchte auch sie ihm nichts weiter zu erklären. Er zog sie fest in seine Arme und hielt sie mit geschlossenen Augen an sich gedrückt.
Snape hatte sich sofort wieder in ihr Zimmer zurückgezogen, konnte aber durch die offene Türe hören, was draußen vor sich ging.
Daß Potter ebenfalls mit der Sache zu tun hatte, erleichterte ihn ungemein, denn es bestätigte, daß die Gefühle, die plötzlich zwischen Hermine und ihm herrschten mit großer Wahrscheinlichkeit keinen natürlichen Ursprung hatten. Allerdings... er zögerte innerlich... es fühlte sich so richtig an, so vertraut, so... gut...!
Er verdrehte die Augen zur Zimmerdecke und straffte seinen Körper. Himmel, Severus! Reiß dich zusammen! Scholt er sich selbst.
Dann ging er zur Tür und zischte durch den offenen Spalt: "Kommen Sie rein, bevor draußen doch noch jemand aufmerksam wird!"
Er brauchte Potters Gesicht angesichts seiner Stimme aus Hermines Zimmer nicht zu sehen, um es sich vorstellen zu können.
Und richtig. Als Harry, ohne Hermine dabei loszulassen, das Zimmer der Schulsprecherin betrat, war Fassungslosigkeit eine Untertreibung, wollte man seinen Ausdruck beschreiben.
"Was machen Sie hier, Professor?"
Snape seufzte innerlich. Diese Frage war zugegebenermaßen verständlich. Trotzdem beantwortete Snape sie nur mit eine Gegenfrage, während er die Ränder seiner Robe vor seiner Brust übereinanderschlug.
"Sie haben einen sehr, lebendigen Traum gehabt, Mister Potter?"
Harry nickte.
"Sie haben gesehen, wie wir alle in einem großen Kampf gegen den dunklen Lord agieren und - wenn ich sehe, wohin Sie nach dem Aufwachen gelaufen sind - vermute ich wohl richtig, wenn Sie ebenfalls gesehen haben, wie Miss Granger gestorben ist?" Es auszusprechen gab seinem Magen einen harten Stich und ihm wurde wieder leicht übel. Eine Reaktion die er auch in den Gesichtern der beiden vor ihm sehen konnte.
Harry nickte wieder.
"Ja, genau das habe ich geträumt. Es war so real, daß ich irgendwie das Gefühl hatte, daß mit Hermine etwas nicht stimmt. Und wenn ich sie mir so ansehe," er hielt sie auf Armeslänge von sich weg und sah sie an "... habe ich da wohl richtig gelegen. Aber Sie sagten 'ebenfalls', Professor. Heißt das...?"
Snape nickte und Hermine wandte sich, ebenfalls nickend, an ihren Freund.
"Wir haben alle dasselbe geträumt, Harry", erklärte Hermine, die sich die letzte Feuchtigkeit mit dem Ärmel ihres Nachthemdes aus dem Gesicht wischte.
"Er auch?", er deutete auf den Zaubertrankmeister.
Snape verschränkte die Arme auf die für ihn typische Art - diesmal allerdings in erster Linie, um die plötzliche Regung zu unterdrücken, Hermine wieder an sich zu ziehen.
"Ja, ich ebenfalls." in seine Stimme war der beißende Klang zurückgekehrt. Er hasste es, wenn man von ihm in der dritten Person sprach als sei er nicht im Raum. Allerdings schien sein Ton diesmal weder Harry noch Hermine zu beeindrucken. "Ich denke, wir sollten den Schulleiter zu dieser Sache hinzuziehen, um herauszufinden, was hier geschieht und ob eventuell noch andere Schüler oder Lehrer einbezogen sind."
Harry und Hermine nickten gleichzeitig und ein Hoffnungsschimmer blitzte in ihren Augen auf, als Albus Dumbledore erwähnt wurde.
Sie machten sich augenblicklich auf den Weg. Niemand hatte sie bemerkt, niemand sonst schien wach geworden zu sein. Und da es bereits wieder auf den Morgen zuging, waren auch die letzten Streuner aus den Gängen Hogwarts längst verschwunden, und sie erreichten unbehelligt den Trakt des Schlosses in dem der Schulleiter seine privaten Räume hatte. Auf dem ganzen Weg sprachen sie kein Wort, aber wie sie so mit großen Schritten die Gänge entlangliefen, konnte sich Snape des seltsamen Gefühls nicht erwehren, daß sie schon oft so nebeneinander gegangen waren, daß sogar noch jemand fehlte.
Er hatte für einen verwirrten Augenblick das Gefühl, die Erinnerungen eines anderen Mannes spukten in seinem Kopf herum.
Harry war zu einem jungen Mann herangewachsen, der beinahe so groß geworden war wie Snape selbst. Ein wenig dürr war er, aber das hatte seiner Ausstrahlung keinen Abbrucht getan, weil er durch das Quidditch-Spiel nie so schlacksig geworden war wie seine Altersgenossen.
Warum erkannte Snape ausgerechnet jetzt, so als habe er Potter seit Jahren nicht mehr gesehen, daß dessen frühere Unsicherheit offenbar einer recht starken inneren Ruhe gewichen war? Oder erschien er ihm nur so ruhig? Oder narrte ihn seine Phantasie, die durch den Traum verwirrt immer noch Bilder und Töne in sein Hirn sandte, die er lieber nicht sehen und hören wollte? Er schüttelte leicht den Kopf, als könne er damit die seltsamen Gefühle vertreiben und ein wenig gelang ihm das auch, denn er erkannte wieder den höchst nervösen Schüler neben ihm der gerade alles mögliche ausstrahlte, aber ganz sicher keine innere Ruhe.
Sie erreichten mit großen Schritten einen Gang, den Harry und Hermine noch nie betreten hatten.
Das Ende bildete eine große, dunkle Doppeltüre, vor der sie stehenblieben.
Snape klopfte mit Hilfe des koboldförmigen Türklopfers an. Sie mußten nicht lange warten, bis von innen Schritte erklangen und, ohne daß jemand von innen gefragt hatte, wer außen vor der Türe stünde, öffnete Albus Dumbledore den Dreien.
Sie erkannten sofort, daß er wußte, worum es geht - und als sie die privaten Räume des Schulleiters betraten, sahen sie, daß Professor McGonagall und Ginny Weasley bereits dort waren. McGonagall sah etwas blass aus, und Ginny hatte eindeutig geweint. Auf Ginnys Schulter saß erstaunlicherweise Fawkes, den Hermine noch nie außerhalb von Dumbledores Büro gesehen hatte. Er stupste sie mit dem Kopf immer wieder zärtlich an, als wolle er sie trösten und Ginny streichelte ihm übers Gefieder.
Als sie Hermine hereinkommen sah, lief sie zu ihr, während Fawkes sich in die Luft erhob und sich auf einem kleinen Sideboard niederließ. Ginny hielt Hermine für einen Moment im Arm. Die Umstehenden ahnten, was sie ihr erleichtert ins Ohr murmelte.
"Nun..." ergriff Dumbledore das Wort. "Dann sind jetzt wohl alle versammelt, die es angeht." Er deutete auf das Sofa vor dem Kamin: "Setzt euch..."
