Die Handlung dieses Kapitels habe ich bei einer eigenen Geschichte geklaut,
die ich vor ca. 8 Jahren angefangen und nie zuende geschrieben habe. Welch
eigenartige Wege die Kreativität doch manchmal geht!
Diesmal hat mich der Song "Child in time" von Gregorian inspiriert!
Kapitel 20 Das Netz zieht sich zu
Ein schwarzgekleideter Reiter jagte über die endlosen Weiten in der Nähe von Pardanor. Sein Pferd hatte schweißnasses, in der Winterkälte dampfendes Fell und es stand ihm Schaum vorm Maul. Der Mann mußte das Tier schon einige Zeit galoppieren lassen haben. Er zügelte das Tier, als er den Waldrand erreichte. Das Pferd rollte mit den Augen und warf wiehernd den Kopf in die Luft. Der finster wirkende Mann drehte sich im Sattel um, schien zu überprüfen, ob ihm niemand gefolgt war. Dann trieb er das Pferd tiefer in den Wald hinein, verschwand ganz plötzlich in einer dunklen Höhle.
Der Reiter sprang von seinem schwarzen Schlachtroß und nahm noch in der Bewegung seinen, mit fremdartigen Runen verzierten Helm ab. Sein langes schwarzblaues Haar fiel verschwitzt auf seine Schultern und sein Gesicht zeigte Spuren von Staub, der sich mit Schweiß vermischt hatte. Wütend herrschte er einen herbeieilenden Stallburschen an, daß er sein Pferd fortbringen und abreiben sollten. Dieses Pferd stammte noch aus den Ställen von Mordor, nicht auszudenken, wenn es erkranken sollte. Der Mann raffte seinen Mantel, der die Farbe getrockneten Blutes hatte, und gab den Soldaten, die ringsherum standen und eigentümlich milchige Augen hatten, ein herablassendes Zeichen, daß sie entlassen seien. Sie wankten wie in Trance von dannen.
"Osclyn!" rief eine schrille weibliche Stimme.
Der Mann drehte sich auf dem Absatz um und seine eisgrauen, fast weißen Augen blitzten in dem kantigen, unnatürlich schönen Gesicht auf, als er die Person sah, die aus den dunklen Tunneln auf ihn zugelaufen kam. Es war seine Schwester Colesta.
"Mein lieber Bruder, es ist schön, daß du endlich wieder hier bist. Kannst du dir vorstellen, daß man mir nicht sagen wollte, wohin du gegangen bist?!"
Sie machte Anstalten, ihren Bruder zu umarmen. Osclyn konnte sich zwar nicht erklären, warum das so war, doch in diesem Moment widerte ihn die durch Feuer zerstörte Gesichtshälfte seiner ansonsten wunderschönen Schwester plötzlich an. Dennoch küßte er sie kurz und heftig auf die Lippen und stieß sie dann bestimmt von sich fort.
"Was ist mit dir?" kreischte Colesta und hieb, auf ihre kindlich beleidigte Weise, mit ihren, mit langen Fingernägeln bewehrten Händen nach ihm.
Kurz bevor sie sein perfektes Antlitz verletzten konnte, fing Osclyn ihre Hand ab. Er drückte ihr Handgelenk, bis sie vor Schmerz quiekte und stieß sie ein weiteres Mal von sich fort. Er wisperte warnend:
"Jetzt nicht!"
In der Art, wie er es gesagt hatte, würde auch seine hysterische, halbwahnsinnige Schwester das verstehen.
Er brauchte jetzt dringend Ruhe zum Nachdenken und diese Ruhe fand er nur in seinem privaten Arbeitszimmer, weit, weit unter der Erde.
((
Der fensterlose Raum war stickig und düster, genau wie Osclyn es liebte. Vier schwarze Kerzen verbreiteten in jeder Ecke ein wenig unstet flackerndes Licht. Mit dicken, staubigen alten Büchern gefüllte Regale, die bis unter die Decke reichten standen an den Wänden. In einem anderen Regal, neben der einzigen schmalen Tür, die in den Raum führte - abgesehen von einer Geheimtür, von dessen Existenz nur Osclyn und Colesta wußten - lagen sorgfältig zusammengerollte Landkarten und Pläne.
Osclyn strich sich mit einer Hand sein langes, schwarzes Haar aus dem fast unnatürlich schönen Gesicht. Wie ein gefangener Löwe lief er von einem Ende des düsteren Raumes zum anderen und wieder zurück. Einer seiner dunkelelbischen Sklaven goß mit zitternder Hand dunkelroten Wein in den kristallenen Pokal seines Herrn. Osclyn hielt abrupt in seiner nervösen Wanderung inne und kehrte zurück zu dem Sekretär, auf dem sein Pokal stand. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Sekretär ab. Es war ein schönes, altes Möbelstück, welches, außer von der dunklen Farbe her, überhaupt nicht zu Osclyns Gemüt paßte. Osclyns eiskalter Blick traf seinen Sklaven. Dieser zitterte so sehr, daß er beinahe die Weinkaraffe hätte fallen lassen. Der Sklave drehte sich um und verließ hastig den Raum. Sein Herr brauchte kein weiteres Wort zu sagen. Hätte er den Raum nicht verlassen, wäre er wahrscheinlich zum Ventil für die Wut des dämonischen Halbelben geworden.
Ein sehr, sehr altes Buch, in dem er in der Nacht zuvor noch studiert hatte, lag aufgeschlagen auf dem Sekretär. Es störte ihn. Er fand plötzlich, daß dieses Buch hier nicht liegen sollte. Mit einem dumpfen Knall schloß er das Buch und feiner Staub wirbelte auf. Ärgerlich unterdrückte der Sohn Saurons ein Niesen. Dann beugte er sich über eine alte Karte, auf der der Schlachtplan aufgezeichnet war, der zur Machtübernahme in Gondor und schließlich in ganz Mittelerlde führen sollte. Jetzt schien es so, als würde er diesen Plan nicht durchführen können, wegen des irrwitzigen Ehrgeiziges eines einfältigen Sindar-Prinzen, dem er anscheinend zu sehr vertraut hatte, um zu bemerken, daß dieser nur seine eigenen Ziele verfolgt.
Osclyn warf den Kopf in den Nacken und stieß einen fast unmenschlichen Schrei aus, dann schlug er wutentbrannt auf die Oberfläche des Sekretärs ein.
An diesem Morgen hatte er von einem seiner seelenlosen Diener erfahren, daß sein neuer Verbündeter sich auf eigene Faust aufgemacht hatte, um seinen persönlichen Krieg mit seiner Familie auszutragen. Er hatte sogar 15 der besten untoten Krieger Osclyns, die der Priester Bhaaloch in seinem unterirdischen Labor "herstellte", zu diesem Zweck abgezogen, von der doppelten Anzahl Dunkelelben einmal ganz abgesehen. Das brachte Osclyn fast um den Verstand, denn gerade jetzt hätte er alle seine Krieger selbst gebraucht. Der König von Gondor würde es nie und nimmer zurück nach Minas Tirith schaffen, bevor er den Angriff auf die Hauptstadt begann. Allerdings hatte Aragorn einen nicht unfähigen Mann, nämlich Faramir, den Marschall von Gondor, zurückgelassen und im übrigen war da auch noch dieser ältliche Ehrenhauptmann Aegnor, der ständig hinter seinen Agenten herspionierte, die wiederum ihm hinterherspionierten, ohne daß er es bemerkte. Seine Spione versicherten ihm zwar, daß er keine Gefahr darstellte, doch nach dieser Enttäuschung durch Finlass wollte Osclyn ganz sicher gehen, daß ihm niemand bei seinen Plänen in die Quere kam. Er hätte Finlass dringend dafür gebraucht, all diese viel zu neugierigen Menschen zu beseitigen. Finlass wäre, da er ja der Bruder des Prinzen Legolas war, ohne Probleme in die Burg gelangt. Er hätte es so arrangieren können, daß sowohl der Hauptmann als auch Faramir einen tragischen... tödlichen Unfall gehabt hätten. Ohne die Stütze dieser beiden Männer wäre Aragorn kein wirklich gefährlicher Gegner mehr gewesen, auch nicht dem Zwergen und dem verdammten Elben an seiner Seite.
Es klopfte an der Tür. Der dunkle Prinz, so betitelte er sich selbst gerne, wollte gerade losbrüllen, daß er nicht gestört werden wollte, als ihm einfiel, daß es sein Hauptmann Armonis sein mußte, den er damit beauftragt hatte, Finlass zu verfolgen. Anscheinend war er nun endlich zurückgekehrt, um ihm Bericht zu erstatten.
"Tretet ein!", brüllte Osclyn mit herrischem Ton.
Es war tatsächlich Armonis. Anders, als es ihm bei seiner Schwester ergangen war, hatte Osclyn bei seinem Hauptmann das dringende Bedürfnis, diesen zu berühren. Er atmete zitternd aus, als seine Augen den perfekten Körper Armonis' musterten. Der gutaussehende Dunkelelb, sein bester, sein tödlichster... sein schönster Krieger, konnte ihn doch nicht enttäuscht haben. Er machte einen Schritt auf ihn zu, strich mit seiner rechten Hand sanft über seinen Oberarm hinauf zur Schulter, wo sie zum Liegen kann.
"Hast Du ihn gefunden?", fragte er leise.
Der Dunkelelb preßte die ohnehin schon schmalen Lippen fest aufeinander, so daß sie fast ganz in dem bleichen Gesicht verschwanden. Osclyn hielt die Luft an, denn er schien bereits zu ahnen, was dieser Blick zu bedeuten hatte. Er fragte sich, ob er die Antwort überhaupt hören wollte.
"Willst du damit etwa sagen, du hast diesen Sindar-Bastard nicht aufgespürt und an den Haaren hierher zurückgeschleift?"
Osclyn stand direkt neben Armonis und betrachtete dessen ungewöhnlich schönes Profil mit der hervorstechenden Nase. Obwohl der Hauptmann wohl ahnte, daß sein Herr und Gebieter ihm nichts antun würde - wie könnte er auch? - stand ihm dennoch die Angst ins Gesicht geschrieben. Es war faszinierend, wie die glitzernden kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn hervortraten, seine langen dunklen Wimpern nervös flatterten. Osclyn bemerkte, daß er sich bei dem Gedanken, den Schweiß von Armonis' Stirn zu küssen, mit der Zungenspitze über die Lippen gefahren war. Eigentlich müßte er den hochgewachsenen Elben dafür hassen, daß dieser es fertigbrachte, daß Osclyn sich beinahe vergaß. Er schüttelte den Kopf, um die erotischen Phantasien, die Armonis in ihm erweckte, abzuschütteln. Sein Kreuz versteifte sich und er herrschte den Hauptmann an:
"Was stehst du da? Hast du deine Stimme verloren?"
Armonis schüttelte langsam den Kopf.
"Antworte mir gefälligst! Du stehst hier nicht vor deinesgleichen!" brüllte Osclyn jetzt und sein blasses Gesicht rötete sich.
Es gefiel ihm nicht, Armonis so anschreien zu müssen. Doch er durfte nicht den Anschein erwecken, daß er sein Günstling war. Wie leicht könnte er selbst auf die Idee kommen, ihn zu benutzen, wenn er erst merkte, was er für Gefühle für ihn hegte.
"Es tut mir Leid, Herr, wir haben ihn bis zum Düsterwald verfolgt. Ich weiß nicht, was er dort wollte, doch wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, daß er sich letzten Endes doch eines anderen besinnt und uns verrät. Jedenfalls war es für ihn leicht, die Grenzen zum Reich Thranduils zu überqueren, immerhin ist er dessen Sohn....", erzählte Armonis.
Osclyn bemerkte, daß sein Hauptmann an dieser Stelle seiner Erzählung zu abrupt abbrach.
Er forderte ihn auf:
"Du verschweigst mir doch irgend etwas! Sprich weiter... nun brauchst du mich auch nicht mehr zu schonen."
"...nun, mir fiel auf, daß er sich am Waldrand mit der Elbin Merilwen traf. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Jedenfalls scheint es so, als hätte er nicht gemerkt, daß wir ihm gefolgt sind."
Wieder brüllte Osclyn unmenschlich auf. Bitte nicht auch noch die Magierin, dachte er. Er eilte mit wehenden Gewändern zurück zum Sekretär und fegte mit einer raschen Handbewegung den bis zum Rand gefüllten Weinkelch gegen die Wand. Dunkelrot wie Blut spritzte der Wein an die Wände und wie Myriaden glitzernder Kristalle fielen die Scherben des Kelchs klirrend zu Boden. Der Anblick des roten Flecks an der Wand, beruhigte Osclyn wieder ein wenig. Es sah wirklich fast aus wie Blut, nur das es nicht so dickflüssig war.
Die Augen des dämonischen Elben funkelten gefährlich wütend. Er schien mit ihnen eiskalte Blitze versprühen zu können.
Er konnte einfach nicht glauben, daß sein geliebter Armonis so schlampig arbeitete. Allerdings war es verständlich, daß er Finlass nicht bis in den Düsterwald hinein verfolgt hatte. Dennoch: Er konnte Armonis' Anblick im Moment nicht mehr ertragen.
"Raus! Raus, verschwinde jetzt! Ich brauche Zeit, um nachzudenken. Ich will alleine sein!"
Armonis machte drei Schritte rückwärts, verbeugte sich und verließ dann, wie ein geschlagener Hund, den Raum.
Osclyn genoß die Ruhe, als er wieder alleine war. Er versuchte das beklemmende Gefühl zu ignorieren, daß in ihm aufstieg. Er fragte sich, ob es sich so ähnlich anfühlte, wenn der Wahnsinn vom Verstand seiner Schwester Besitz ergriff.
Er ging schweren Schrittes zu der Stelle an der Wand, an der der Wein einen immer noch feuchten, wässrig roten Flecken hinterlassen hatte. Mit seinem rechten Zeigefinger schrieb er die Namen der drei Männer dort hinein, die er am meisten haßte. Osclyn hoffte, daß es bald tatsächlich deren Blut sein würde, mit denen er dies tat.
Er horchte auf. Da war ein leises, scharrendes Geräusch. Es kam von der Stelle, an der sich die Geheimtür in der Wand befand, die nur er und Colesta kannten. Osclyn seufzte. Er fragte sich, ob Colesta das war, was er jetzt brauchte.
Zunächst schob sich eine zierliche, bleiche Hand durch die Tür, die sich im rückwärtigen Teil des Raumes befand und durch ein Bücherregal getarnt war. Als nächstes kam die nicht zerstörte Gesichtshälfte Colestas ins flackernde Licht. Osclyn schnappte nach Luft. Seine Schwester war wirklich atemberaubend schön. Sie hatte die Eleganz und die Feingliedrigkeit ihrer elbischen Mutter geerbt. Leider hatte sie nicht den Geist und die Intelligenz ihres Vaters. Trotzdem konnte er nicht leugnen, daß sie ihn auf magische Weise anzog.
"Bruder, Bruder!", zischte sie, als sie aus der Geheimtür heraustrat.
Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen stand sie vor ihm und betrachtete aufmerksam, wie sich widerstreitende Gefühle auf seinem Gesicht zeigten.
Er bemühte sich, nicht auf ihre entstellte Gesichtshälfte zu schauen. Hin und wieder gelang es ihm, doch meist wurde er schmerzlich daran erinnert, wer ihr das angetan hatte. Die Elben... die Elben und die Menschen aus Gondor und Rohan waren daran schuld, doch ganz besonders die Elben. Derjenige, der ihr das angetan hatte, würde fürchterlich leiden. Osclyn malte sich aus, wie er seine Wut an dem Elben auslassen würde, der stellvertretend für sein ganzes Volk die Gemeinschaft des Rings von Beginn an begleitet hatte. Er würde tausendfach die Schmerzen zu spüren bekommen, die Colesta hatte ertragen müssen. Es spielte absolut keine Rolle, daß dieser Elb nicht einmal in der nähe gewesen war, als Colesta dieses Unglück passierte. Alle - und er dachte dabei wirklich an alle - Elben würden leiden, doch dieser ganz besonders. Osclyn erinnerte sich an seine elbische Mutter. Sie hatte fliehen können, nachdem sie festgestellt hatte, daß Sauron sie geschwängert hatte. Dankbar hätte die Schlampe dafür sein müssen, denn nicht jeder hat die Ehre, die Kinder eines Halbgottes zu gebären. Stattdessen hat sie sie verschleppt, noch bevor sie geboren waren, in der Hoffnung, bei ihrem elbischen Volk würden ihre Kinder niemals von dem finsteren Erbe erfahren, daß sie in sich trugen. Wie überrascht hatte sie ausgesehen, als Osclyn ihr den Dolch in den Leib rammte und das rote Lebenselixier aus ihrem Körper strömte. Deren Gefährte hatte Colesta und Osclyn immer mißtraut und tatsächlich ertappte er die Zwillinge bei ihrem blutigen Werk. Er hatte die Fackel, die er bei sich getragen hatte, in Colestas Gesicht geschleudert, damit aber auch selbst den Brand gelegt, bei dem die ganze Siedlung der Elben am Rande des Düsterwaldes bis auf die Grundmauern niedergebrannt war.
"Osclyn, du denkst wieder über Dinge nach, die du weit hinter dir lassen solltest, wenn du zu Ende bringen willst, was du angefangen hast."
Sie trat langsam auf ihn zu, berührte ihn ganz zart an der Brust. Colesta lächelte ohne den irren Glanz in den Augen. Mmhh, dachte Osclyn, hat sie also einen ihrer hellen Momente!
Colestas Blick fiel auf die Scherben des Kristallpokals. Sie rümpfte die Nase und meinte:
"Es läuft wohl nicht alles so, wie du es dir vorgestellt hast, Bruder!"
Es war eine nüchterne Feststellung, ohne die übliche Spitze, mit der sie für gewöhnlich ihre Bemerkungen versah, Wahnsinn hin oder her. Damit entzog sie ihm glichzeitig den Boden für einen weiteren Wutausbruch, nach dem ihm eigentlich gewesen wäre. Er seufzte tief und erwiderte:
"Wie recht du hast. Ich fürchte, mir mangelt es an dem nötigen Durchsetzungsvermögen. Kennst du das, wenn du das Gefühl hast, daß dir die Fäden aus der Hand gleiten... du beginnst, die Kontrolle zu verlieren?"
Colesta blickte ihn fragend an. Osclyn schüttelte resigniert den Kopf.
"Nein, natürlich nicht", fuhr er fort, "du trägst ja auch keine Verantwortung. Du wartest nur darauf, daß ich dir dein Spielzeug ausliefere."
Colesta trat näher an Osclyn heran. Sie wickelte eine Flechte seines langen Haares, das ihm über die Schulter gefallen war, um ihren Zeigefinger und zog ihn daran noch näher zu sich heran. Sie lächelte geheimnisvoll und flüsterte ganz nah an seinem Gesicht:
"Du brauchst doch niemanden. Du hast doch mich. Ich könnte deine Geheimwaffe sein."
Sie lächelte ihm noch einmal aufmunternd zu, da sein Gesichtsausdruck Irritation und Verunsicherung verriet, dann wandte sie sich einer der vier Kerzen zu. Sie preßte mit einer theatralischen Geste Daumen und Zeigefinger aufeinander und im selben Moment wurde die Flamme der Kerze immer kleiner, bis sie schließlich völlig verlosch.
"Wie hast du das gemacht?" wollte Osclyn wissen.
Colesta hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte, weil der Blick ihres Bruders nun vollständige Verwirrung ausdrückte. Sie riß sich zusammen und erwiderte:
"Ich kann es auch anders herum. Soll ich es dir demonstrieren?"
"Wo hat du das gelernt?" fragte Osclyn abermals.
Sein Gesichtsausdruck wechselte von Verwirrung über Überraschung zu Begeisterung. Vielleicht konnte Colesta ja tatsächlich noch zu seiner Geheimwaffe werden. Sie grinste und ließ mit einer weiteren, geheimnisvollen Geste die Kerzenflamme wieder aufflackern.
"Ich habe das nicht gelernt. Zumindest wenn du meinst, daß mir das jemand beigebracht hat. Eine Kerze in meinem Zimmer war ausgegangen, während ich schrieb und ich ärgerte mich, weil es mit einem Mal zu dunkel war. Ich weiß nicht, ob es wegen meines Ärgers war, jedenfalls passierte plötzlich dies."
Direkt vor Osclyns Gesicht öffnete sie ihre Hand und heraus sprang eine kleine Flammensäule. Osclyn wich erschrocken zurück. Beinahe wäre er über einen fadenscheinigen altern Teppich, der vor seinem Schreibtisch lag, gestolpert.
Dann breitete sich auf seinem Gesicht ein diabolisches Grinsen aus. Er betrachtete fasziniert das Feuer, daß auf der Handfläche seiner Schwester tanzte. Fast hätte er die Hand danach ausgestreckt.
"Kannst du... kannst du auch ein größeres Feuer entfachen?" stotterte Osclyn.
Colesta zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß nicht... ich kann es nicht richtig kontrollieren oder beeinflussen. Wenn du mir vielleicht Zugang zu den Büchern in der alten Bibliothek geben würdest...?"
Osclyn lachte laut auf.
Colesta war zwar seine über alles geliebte Schwester aber - das durfte man nicht vergessen... das durfte er niemals vergessen! - sie war auch wahnsinnig. Und er wäre selbst ebenfalls wahnsinnig, wenn er ihr tatsächlich Zugang zu diesen Büchern verschaffen würde.
Er blickte Colesta an und stellte fest, daß dieser irre Blick wieder in ihre Augen trat. Die wahnsinnige Hälfte ihres Wesens schien wieder Überhand zu nehmen.
"Ich kann dir aber nicht helfen, wenn du es mir nicht erlaubst."
Trotzig stampfte sie mit dem rechten Fuß auf. Osclyn verdrehte die Augen. Nicht wieder einer dieser irren Wutausbrüche! Bis gerade hatte er Colesta noch etragen können, nun wurde sie ihm schon wieder unerträglich.
Eigentlich wollte er keine voreilige Entscheidung treffen, doch andererseits wollte er auch dringend seine Ruhe haben.
Er mußte nachdenken. Also mußte schnell eine Lösung her.
"Sag endlich etwas!", kreischte Colesta. "Ich will in diese Bibliothek... WIE SOLL ICH DIR SONST HELFEN?"
Sie wollte schon wieder nach ihm schlagen. Osclyn fing ihre Handgelenke auf und schüttelte sie, bis sie aufhörte, um sich zu schlagen.
"Es reicht!", schrie er sie an, "Beherrsche dich! Ich werde mit Bhaaloch reden, daß du unter seiner Aufsicht und Anweisung in die Bücher sehen kannst, die du benötigst. Mir scheint, du mußt erst einmal herausfinden, was die Quelle deiner plötzlichen magischen Fähigkeiten ist."
Colesta spie zur Seite hin aus und sagte voller Verachtung:
"Bhaaloch! Dieser Möchtegern-Magier, der mit den Händen in der Luft herumwirbelt, um über seine offensichtliche Unfähigkeit hinwegzutäuschen. Sieh mich an, Osclyn, ich habe wahre Magie. Damit werde ich für dich die Mauern von Minas Tirith einreißen!"
Osclyn schob seine Schwester zurück zu der geheimen Tür und sagte entnervt:
"Ja, ja, geh nur! Du solltest schnell mit dem Lernen anfangen, denn in spätestens einer Woche will ich mit meiner Armee in Richtung Gondor aufbrechen. Wenn ich mit Aragorn fertig bin, werde ich mir den Verräter Finlass vorknöpfen."
Als Colesta verschwunden war, ließ sich Osclyn in seinen zerschlissenen aber dennoch bequemen Sessel vor dem Sekretär fallen.
Mmhh... ,sinnierte er, eine Magierin habe ich verloren und eine andere gewonnen.
Er war sich sicher, daß niemand sich seinem Plan, die Herrschaft über Mittelerde zu erlangen in den Weg stellen konnte. Nicht einmal seine vermaledeiten Halbgeschwister. Oh, er hatte so gehofft, daß wenigstens einer seiner Halbbrüder erkennen würde, welche Macht er besaß, doch was war von einem Sohn Thranduils auch anderes zu erwarten als Verrat. Thranduils Kinder waren schwach! Sie waren weichherzig und wankelmütig. Und beinahe hätte er einem von ihnen vertraut. Osclyn stellte sich schon jetzt das überraschte Gesicht von Legolas, Finlass und Alfiriel vor, wenn er ihnen offenbarte, daß sie die selbe Mutter hatten... und dann würde er sie einen nach dem anderen eigenhändig umbringen. Osclyn lächelte in sich hinein. Es schien, als würde sein Plan am Ende doch ohne Probleme aufgehen.
Kapitel 20 Das Netz zieht sich zu
Ein schwarzgekleideter Reiter jagte über die endlosen Weiten in der Nähe von Pardanor. Sein Pferd hatte schweißnasses, in der Winterkälte dampfendes Fell und es stand ihm Schaum vorm Maul. Der Mann mußte das Tier schon einige Zeit galoppieren lassen haben. Er zügelte das Tier, als er den Waldrand erreichte. Das Pferd rollte mit den Augen und warf wiehernd den Kopf in die Luft. Der finster wirkende Mann drehte sich im Sattel um, schien zu überprüfen, ob ihm niemand gefolgt war. Dann trieb er das Pferd tiefer in den Wald hinein, verschwand ganz plötzlich in einer dunklen Höhle.
Der Reiter sprang von seinem schwarzen Schlachtroß und nahm noch in der Bewegung seinen, mit fremdartigen Runen verzierten Helm ab. Sein langes schwarzblaues Haar fiel verschwitzt auf seine Schultern und sein Gesicht zeigte Spuren von Staub, der sich mit Schweiß vermischt hatte. Wütend herrschte er einen herbeieilenden Stallburschen an, daß er sein Pferd fortbringen und abreiben sollten. Dieses Pferd stammte noch aus den Ställen von Mordor, nicht auszudenken, wenn es erkranken sollte. Der Mann raffte seinen Mantel, der die Farbe getrockneten Blutes hatte, und gab den Soldaten, die ringsherum standen und eigentümlich milchige Augen hatten, ein herablassendes Zeichen, daß sie entlassen seien. Sie wankten wie in Trance von dannen.
"Osclyn!" rief eine schrille weibliche Stimme.
Der Mann drehte sich auf dem Absatz um und seine eisgrauen, fast weißen Augen blitzten in dem kantigen, unnatürlich schönen Gesicht auf, als er die Person sah, die aus den dunklen Tunneln auf ihn zugelaufen kam. Es war seine Schwester Colesta.
"Mein lieber Bruder, es ist schön, daß du endlich wieder hier bist. Kannst du dir vorstellen, daß man mir nicht sagen wollte, wohin du gegangen bist?!"
Sie machte Anstalten, ihren Bruder zu umarmen. Osclyn konnte sich zwar nicht erklären, warum das so war, doch in diesem Moment widerte ihn die durch Feuer zerstörte Gesichtshälfte seiner ansonsten wunderschönen Schwester plötzlich an. Dennoch küßte er sie kurz und heftig auf die Lippen und stieß sie dann bestimmt von sich fort.
"Was ist mit dir?" kreischte Colesta und hieb, auf ihre kindlich beleidigte Weise, mit ihren, mit langen Fingernägeln bewehrten Händen nach ihm.
Kurz bevor sie sein perfektes Antlitz verletzten konnte, fing Osclyn ihre Hand ab. Er drückte ihr Handgelenk, bis sie vor Schmerz quiekte und stieß sie ein weiteres Mal von sich fort. Er wisperte warnend:
"Jetzt nicht!"
In der Art, wie er es gesagt hatte, würde auch seine hysterische, halbwahnsinnige Schwester das verstehen.
Er brauchte jetzt dringend Ruhe zum Nachdenken und diese Ruhe fand er nur in seinem privaten Arbeitszimmer, weit, weit unter der Erde.
((
Der fensterlose Raum war stickig und düster, genau wie Osclyn es liebte. Vier schwarze Kerzen verbreiteten in jeder Ecke ein wenig unstet flackerndes Licht. Mit dicken, staubigen alten Büchern gefüllte Regale, die bis unter die Decke reichten standen an den Wänden. In einem anderen Regal, neben der einzigen schmalen Tür, die in den Raum führte - abgesehen von einer Geheimtür, von dessen Existenz nur Osclyn und Colesta wußten - lagen sorgfältig zusammengerollte Landkarten und Pläne.
Osclyn strich sich mit einer Hand sein langes, schwarzes Haar aus dem fast unnatürlich schönen Gesicht. Wie ein gefangener Löwe lief er von einem Ende des düsteren Raumes zum anderen und wieder zurück. Einer seiner dunkelelbischen Sklaven goß mit zitternder Hand dunkelroten Wein in den kristallenen Pokal seines Herrn. Osclyn hielt abrupt in seiner nervösen Wanderung inne und kehrte zurück zu dem Sekretär, auf dem sein Pokal stand. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Sekretär ab. Es war ein schönes, altes Möbelstück, welches, außer von der dunklen Farbe her, überhaupt nicht zu Osclyns Gemüt paßte. Osclyns eiskalter Blick traf seinen Sklaven. Dieser zitterte so sehr, daß er beinahe die Weinkaraffe hätte fallen lassen. Der Sklave drehte sich um und verließ hastig den Raum. Sein Herr brauchte kein weiteres Wort zu sagen. Hätte er den Raum nicht verlassen, wäre er wahrscheinlich zum Ventil für die Wut des dämonischen Halbelben geworden.
Ein sehr, sehr altes Buch, in dem er in der Nacht zuvor noch studiert hatte, lag aufgeschlagen auf dem Sekretär. Es störte ihn. Er fand plötzlich, daß dieses Buch hier nicht liegen sollte. Mit einem dumpfen Knall schloß er das Buch und feiner Staub wirbelte auf. Ärgerlich unterdrückte der Sohn Saurons ein Niesen. Dann beugte er sich über eine alte Karte, auf der der Schlachtplan aufgezeichnet war, der zur Machtübernahme in Gondor und schließlich in ganz Mittelerlde führen sollte. Jetzt schien es so, als würde er diesen Plan nicht durchführen können, wegen des irrwitzigen Ehrgeiziges eines einfältigen Sindar-Prinzen, dem er anscheinend zu sehr vertraut hatte, um zu bemerken, daß dieser nur seine eigenen Ziele verfolgt.
Osclyn warf den Kopf in den Nacken und stieß einen fast unmenschlichen Schrei aus, dann schlug er wutentbrannt auf die Oberfläche des Sekretärs ein.
An diesem Morgen hatte er von einem seiner seelenlosen Diener erfahren, daß sein neuer Verbündeter sich auf eigene Faust aufgemacht hatte, um seinen persönlichen Krieg mit seiner Familie auszutragen. Er hatte sogar 15 der besten untoten Krieger Osclyns, die der Priester Bhaaloch in seinem unterirdischen Labor "herstellte", zu diesem Zweck abgezogen, von der doppelten Anzahl Dunkelelben einmal ganz abgesehen. Das brachte Osclyn fast um den Verstand, denn gerade jetzt hätte er alle seine Krieger selbst gebraucht. Der König von Gondor würde es nie und nimmer zurück nach Minas Tirith schaffen, bevor er den Angriff auf die Hauptstadt begann. Allerdings hatte Aragorn einen nicht unfähigen Mann, nämlich Faramir, den Marschall von Gondor, zurückgelassen und im übrigen war da auch noch dieser ältliche Ehrenhauptmann Aegnor, der ständig hinter seinen Agenten herspionierte, die wiederum ihm hinterherspionierten, ohne daß er es bemerkte. Seine Spione versicherten ihm zwar, daß er keine Gefahr darstellte, doch nach dieser Enttäuschung durch Finlass wollte Osclyn ganz sicher gehen, daß ihm niemand bei seinen Plänen in die Quere kam. Er hätte Finlass dringend dafür gebraucht, all diese viel zu neugierigen Menschen zu beseitigen. Finlass wäre, da er ja der Bruder des Prinzen Legolas war, ohne Probleme in die Burg gelangt. Er hätte es so arrangieren können, daß sowohl der Hauptmann als auch Faramir einen tragischen... tödlichen Unfall gehabt hätten. Ohne die Stütze dieser beiden Männer wäre Aragorn kein wirklich gefährlicher Gegner mehr gewesen, auch nicht dem Zwergen und dem verdammten Elben an seiner Seite.
Es klopfte an der Tür. Der dunkle Prinz, so betitelte er sich selbst gerne, wollte gerade losbrüllen, daß er nicht gestört werden wollte, als ihm einfiel, daß es sein Hauptmann Armonis sein mußte, den er damit beauftragt hatte, Finlass zu verfolgen. Anscheinend war er nun endlich zurückgekehrt, um ihm Bericht zu erstatten.
"Tretet ein!", brüllte Osclyn mit herrischem Ton.
Es war tatsächlich Armonis. Anders, als es ihm bei seiner Schwester ergangen war, hatte Osclyn bei seinem Hauptmann das dringende Bedürfnis, diesen zu berühren. Er atmete zitternd aus, als seine Augen den perfekten Körper Armonis' musterten. Der gutaussehende Dunkelelb, sein bester, sein tödlichster... sein schönster Krieger, konnte ihn doch nicht enttäuscht haben. Er machte einen Schritt auf ihn zu, strich mit seiner rechten Hand sanft über seinen Oberarm hinauf zur Schulter, wo sie zum Liegen kann.
"Hast Du ihn gefunden?", fragte er leise.
Der Dunkelelb preßte die ohnehin schon schmalen Lippen fest aufeinander, so daß sie fast ganz in dem bleichen Gesicht verschwanden. Osclyn hielt die Luft an, denn er schien bereits zu ahnen, was dieser Blick zu bedeuten hatte. Er fragte sich, ob er die Antwort überhaupt hören wollte.
"Willst du damit etwa sagen, du hast diesen Sindar-Bastard nicht aufgespürt und an den Haaren hierher zurückgeschleift?"
Osclyn stand direkt neben Armonis und betrachtete dessen ungewöhnlich schönes Profil mit der hervorstechenden Nase. Obwohl der Hauptmann wohl ahnte, daß sein Herr und Gebieter ihm nichts antun würde - wie könnte er auch? - stand ihm dennoch die Angst ins Gesicht geschrieben. Es war faszinierend, wie die glitzernden kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn hervortraten, seine langen dunklen Wimpern nervös flatterten. Osclyn bemerkte, daß er sich bei dem Gedanken, den Schweiß von Armonis' Stirn zu küssen, mit der Zungenspitze über die Lippen gefahren war. Eigentlich müßte er den hochgewachsenen Elben dafür hassen, daß dieser es fertigbrachte, daß Osclyn sich beinahe vergaß. Er schüttelte den Kopf, um die erotischen Phantasien, die Armonis in ihm erweckte, abzuschütteln. Sein Kreuz versteifte sich und er herrschte den Hauptmann an:
"Was stehst du da? Hast du deine Stimme verloren?"
Armonis schüttelte langsam den Kopf.
"Antworte mir gefälligst! Du stehst hier nicht vor deinesgleichen!" brüllte Osclyn jetzt und sein blasses Gesicht rötete sich.
Es gefiel ihm nicht, Armonis so anschreien zu müssen. Doch er durfte nicht den Anschein erwecken, daß er sein Günstling war. Wie leicht könnte er selbst auf die Idee kommen, ihn zu benutzen, wenn er erst merkte, was er für Gefühle für ihn hegte.
"Es tut mir Leid, Herr, wir haben ihn bis zum Düsterwald verfolgt. Ich weiß nicht, was er dort wollte, doch wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, daß er sich letzten Endes doch eines anderen besinnt und uns verrät. Jedenfalls war es für ihn leicht, die Grenzen zum Reich Thranduils zu überqueren, immerhin ist er dessen Sohn....", erzählte Armonis.
Osclyn bemerkte, daß sein Hauptmann an dieser Stelle seiner Erzählung zu abrupt abbrach.
Er forderte ihn auf:
"Du verschweigst mir doch irgend etwas! Sprich weiter... nun brauchst du mich auch nicht mehr zu schonen."
"...nun, mir fiel auf, daß er sich am Waldrand mit der Elbin Merilwen traf. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Jedenfalls scheint es so, als hätte er nicht gemerkt, daß wir ihm gefolgt sind."
Wieder brüllte Osclyn unmenschlich auf. Bitte nicht auch noch die Magierin, dachte er. Er eilte mit wehenden Gewändern zurück zum Sekretär und fegte mit einer raschen Handbewegung den bis zum Rand gefüllten Weinkelch gegen die Wand. Dunkelrot wie Blut spritzte der Wein an die Wände und wie Myriaden glitzernder Kristalle fielen die Scherben des Kelchs klirrend zu Boden. Der Anblick des roten Flecks an der Wand, beruhigte Osclyn wieder ein wenig. Es sah wirklich fast aus wie Blut, nur das es nicht so dickflüssig war.
Die Augen des dämonischen Elben funkelten gefährlich wütend. Er schien mit ihnen eiskalte Blitze versprühen zu können.
Er konnte einfach nicht glauben, daß sein geliebter Armonis so schlampig arbeitete. Allerdings war es verständlich, daß er Finlass nicht bis in den Düsterwald hinein verfolgt hatte. Dennoch: Er konnte Armonis' Anblick im Moment nicht mehr ertragen.
"Raus! Raus, verschwinde jetzt! Ich brauche Zeit, um nachzudenken. Ich will alleine sein!"
Armonis machte drei Schritte rückwärts, verbeugte sich und verließ dann, wie ein geschlagener Hund, den Raum.
Osclyn genoß die Ruhe, als er wieder alleine war. Er versuchte das beklemmende Gefühl zu ignorieren, daß in ihm aufstieg. Er fragte sich, ob es sich so ähnlich anfühlte, wenn der Wahnsinn vom Verstand seiner Schwester Besitz ergriff.
Er ging schweren Schrittes zu der Stelle an der Wand, an der der Wein einen immer noch feuchten, wässrig roten Flecken hinterlassen hatte. Mit seinem rechten Zeigefinger schrieb er die Namen der drei Männer dort hinein, die er am meisten haßte. Osclyn hoffte, daß es bald tatsächlich deren Blut sein würde, mit denen er dies tat.
Er horchte auf. Da war ein leises, scharrendes Geräusch. Es kam von der Stelle, an der sich die Geheimtür in der Wand befand, die nur er und Colesta kannten. Osclyn seufzte. Er fragte sich, ob Colesta das war, was er jetzt brauchte.
Zunächst schob sich eine zierliche, bleiche Hand durch die Tür, die sich im rückwärtigen Teil des Raumes befand und durch ein Bücherregal getarnt war. Als nächstes kam die nicht zerstörte Gesichtshälfte Colestas ins flackernde Licht. Osclyn schnappte nach Luft. Seine Schwester war wirklich atemberaubend schön. Sie hatte die Eleganz und die Feingliedrigkeit ihrer elbischen Mutter geerbt. Leider hatte sie nicht den Geist und die Intelligenz ihres Vaters. Trotzdem konnte er nicht leugnen, daß sie ihn auf magische Weise anzog.
"Bruder, Bruder!", zischte sie, als sie aus der Geheimtür heraustrat.
Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen stand sie vor ihm und betrachtete aufmerksam, wie sich widerstreitende Gefühle auf seinem Gesicht zeigten.
Er bemühte sich, nicht auf ihre entstellte Gesichtshälfte zu schauen. Hin und wieder gelang es ihm, doch meist wurde er schmerzlich daran erinnert, wer ihr das angetan hatte. Die Elben... die Elben und die Menschen aus Gondor und Rohan waren daran schuld, doch ganz besonders die Elben. Derjenige, der ihr das angetan hatte, würde fürchterlich leiden. Osclyn malte sich aus, wie er seine Wut an dem Elben auslassen würde, der stellvertretend für sein ganzes Volk die Gemeinschaft des Rings von Beginn an begleitet hatte. Er würde tausendfach die Schmerzen zu spüren bekommen, die Colesta hatte ertragen müssen. Es spielte absolut keine Rolle, daß dieser Elb nicht einmal in der nähe gewesen war, als Colesta dieses Unglück passierte. Alle - und er dachte dabei wirklich an alle - Elben würden leiden, doch dieser ganz besonders. Osclyn erinnerte sich an seine elbische Mutter. Sie hatte fliehen können, nachdem sie festgestellt hatte, daß Sauron sie geschwängert hatte. Dankbar hätte die Schlampe dafür sein müssen, denn nicht jeder hat die Ehre, die Kinder eines Halbgottes zu gebären. Stattdessen hat sie sie verschleppt, noch bevor sie geboren waren, in der Hoffnung, bei ihrem elbischen Volk würden ihre Kinder niemals von dem finsteren Erbe erfahren, daß sie in sich trugen. Wie überrascht hatte sie ausgesehen, als Osclyn ihr den Dolch in den Leib rammte und das rote Lebenselixier aus ihrem Körper strömte. Deren Gefährte hatte Colesta und Osclyn immer mißtraut und tatsächlich ertappte er die Zwillinge bei ihrem blutigen Werk. Er hatte die Fackel, die er bei sich getragen hatte, in Colestas Gesicht geschleudert, damit aber auch selbst den Brand gelegt, bei dem die ganze Siedlung der Elben am Rande des Düsterwaldes bis auf die Grundmauern niedergebrannt war.
"Osclyn, du denkst wieder über Dinge nach, die du weit hinter dir lassen solltest, wenn du zu Ende bringen willst, was du angefangen hast."
Sie trat langsam auf ihn zu, berührte ihn ganz zart an der Brust. Colesta lächelte ohne den irren Glanz in den Augen. Mmhh, dachte Osclyn, hat sie also einen ihrer hellen Momente!
Colestas Blick fiel auf die Scherben des Kristallpokals. Sie rümpfte die Nase und meinte:
"Es läuft wohl nicht alles so, wie du es dir vorgestellt hast, Bruder!"
Es war eine nüchterne Feststellung, ohne die übliche Spitze, mit der sie für gewöhnlich ihre Bemerkungen versah, Wahnsinn hin oder her. Damit entzog sie ihm glichzeitig den Boden für einen weiteren Wutausbruch, nach dem ihm eigentlich gewesen wäre. Er seufzte tief und erwiderte:
"Wie recht du hast. Ich fürchte, mir mangelt es an dem nötigen Durchsetzungsvermögen. Kennst du das, wenn du das Gefühl hast, daß dir die Fäden aus der Hand gleiten... du beginnst, die Kontrolle zu verlieren?"
Colesta blickte ihn fragend an. Osclyn schüttelte resigniert den Kopf.
"Nein, natürlich nicht", fuhr er fort, "du trägst ja auch keine Verantwortung. Du wartest nur darauf, daß ich dir dein Spielzeug ausliefere."
Colesta trat näher an Osclyn heran. Sie wickelte eine Flechte seines langen Haares, das ihm über die Schulter gefallen war, um ihren Zeigefinger und zog ihn daran noch näher zu sich heran. Sie lächelte geheimnisvoll und flüsterte ganz nah an seinem Gesicht:
"Du brauchst doch niemanden. Du hast doch mich. Ich könnte deine Geheimwaffe sein."
Sie lächelte ihm noch einmal aufmunternd zu, da sein Gesichtsausdruck Irritation und Verunsicherung verriet, dann wandte sie sich einer der vier Kerzen zu. Sie preßte mit einer theatralischen Geste Daumen und Zeigefinger aufeinander und im selben Moment wurde die Flamme der Kerze immer kleiner, bis sie schließlich völlig verlosch.
"Wie hast du das gemacht?" wollte Osclyn wissen.
Colesta hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte, weil der Blick ihres Bruders nun vollständige Verwirrung ausdrückte. Sie riß sich zusammen und erwiderte:
"Ich kann es auch anders herum. Soll ich es dir demonstrieren?"
"Wo hat du das gelernt?" fragte Osclyn abermals.
Sein Gesichtsausdruck wechselte von Verwirrung über Überraschung zu Begeisterung. Vielleicht konnte Colesta ja tatsächlich noch zu seiner Geheimwaffe werden. Sie grinste und ließ mit einer weiteren, geheimnisvollen Geste die Kerzenflamme wieder aufflackern.
"Ich habe das nicht gelernt. Zumindest wenn du meinst, daß mir das jemand beigebracht hat. Eine Kerze in meinem Zimmer war ausgegangen, während ich schrieb und ich ärgerte mich, weil es mit einem Mal zu dunkel war. Ich weiß nicht, ob es wegen meines Ärgers war, jedenfalls passierte plötzlich dies."
Direkt vor Osclyns Gesicht öffnete sie ihre Hand und heraus sprang eine kleine Flammensäule. Osclyn wich erschrocken zurück. Beinahe wäre er über einen fadenscheinigen altern Teppich, der vor seinem Schreibtisch lag, gestolpert.
Dann breitete sich auf seinem Gesicht ein diabolisches Grinsen aus. Er betrachtete fasziniert das Feuer, daß auf der Handfläche seiner Schwester tanzte. Fast hätte er die Hand danach ausgestreckt.
"Kannst du... kannst du auch ein größeres Feuer entfachen?" stotterte Osclyn.
Colesta zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß nicht... ich kann es nicht richtig kontrollieren oder beeinflussen. Wenn du mir vielleicht Zugang zu den Büchern in der alten Bibliothek geben würdest...?"
Osclyn lachte laut auf.
Colesta war zwar seine über alles geliebte Schwester aber - das durfte man nicht vergessen... das durfte er niemals vergessen! - sie war auch wahnsinnig. Und er wäre selbst ebenfalls wahnsinnig, wenn er ihr tatsächlich Zugang zu diesen Büchern verschaffen würde.
Er blickte Colesta an und stellte fest, daß dieser irre Blick wieder in ihre Augen trat. Die wahnsinnige Hälfte ihres Wesens schien wieder Überhand zu nehmen.
"Ich kann dir aber nicht helfen, wenn du es mir nicht erlaubst."
Trotzig stampfte sie mit dem rechten Fuß auf. Osclyn verdrehte die Augen. Nicht wieder einer dieser irren Wutausbrüche! Bis gerade hatte er Colesta noch etragen können, nun wurde sie ihm schon wieder unerträglich.
Eigentlich wollte er keine voreilige Entscheidung treffen, doch andererseits wollte er auch dringend seine Ruhe haben.
Er mußte nachdenken. Also mußte schnell eine Lösung her.
"Sag endlich etwas!", kreischte Colesta. "Ich will in diese Bibliothek... WIE SOLL ICH DIR SONST HELFEN?"
Sie wollte schon wieder nach ihm schlagen. Osclyn fing ihre Handgelenke auf und schüttelte sie, bis sie aufhörte, um sich zu schlagen.
"Es reicht!", schrie er sie an, "Beherrsche dich! Ich werde mit Bhaaloch reden, daß du unter seiner Aufsicht und Anweisung in die Bücher sehen kannst, die du benötigst. Mir scheint, du mußt erst einmal herausfinden, was die Quelle deiner plötzlichen magischen Fähigkeiten ist."
Colesta spie zur Seite hin aus und sagte voller Verachtung:
"Bhaaloch! Dieser Möchtegern-Magier, der mit den Händen in der Luft herumwirbelt, um über seine offensichtliche Unfähigkeit hinwegzutäuschen. Sieh mich an, Osclyn, ich habe wahre Magie. Damit werde ich für dich die Mauern von Minas Tirith einreißen!"
Osclyn schob seine Schwester zurück zu der geheimen Tür und sagte entnervt:
"Ja, ja, geh nur! Du solltest schnell mit dem Lernen anfangen, denn in spätestens einer Woche will ich mit meiner Armee in Richtung Gondor aufbrechen. Wenn ich mit Aragorn fertig bin, werde ich mir den Verräter Finlass vorknöpfen."
Als Colesta verschwunden war, ließ sich Osclyn in seinen zerschlissenen aber dennoch bequemen Sessel vor dem Sekretär fallen.
Mmhh... ,sinnierte er, eine Magierin habe ich verloren und eine andere gewonnen.
Er war sich sicher, daß niemand sich seinem Plan, die Herrschaft über Mittelerde zu erlangen in den Weg stellen konnte. Nicht einmal seine vermaledeiten Halbgeschwister. Oh, er hatte so gehofft, daß wenigstens einer seiner Halbbrüder erkennen würde, welche Macht er besaß, doch was war von einem Sohn Thranduils auch anderes zu erwarten als Verrat. Thranduils Kinder waren schwach! Sie waren weichherzig und wankelmütig. Und beinahe hätte er einem von ihnen vertraut. Osclyn stellte sich schon jetzt das überraschte Gesicht von Legolas, Finlass und Alfiriel vor, wenn er ihnen offenbarte, daß sie die selbe Mutter hatten... und dann würde er sie einen nach dem anderen eigenhändig umbringen. Osclyn lächelte in sich hinein. Es schien, als würde sein Plan am Ende doch ohne Probleme aufgehen.
