22. Machtübernahme

Dunkelheit... Absolute, irritierende Schwärze.

'Ungewöhnlich', war sein erster Gedanke. Er tastete mit seiner (Würde hier besser schreiben: Er tastete mit der rechten Hand. Einfach aus dem Grund, weil sonst zweimal seine im gleichen Satz steht) rechten Hand in seine unmittelbare Umgebung. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn seine Hand, die sich auffallend schwer anfühlte, in nichts als reine Luft gegriffen hatte. Doch es war stattdessen schwerer, weicher Samt über den seine Hand langsam glitt. Samt von der Art, aus der auch die kunstvoll bestickte Tagesdecke auf seinem Bett gefertigt war. Dieser Samt war ganz kühl und weich und irgendwie beruhigend. Thranduil lächelte. Mailtheniel hatte diesen Stoff so sehr geliebt, denn er stammte aus ihrer Heimat Imladris. Sie hatte viele Dinge aus Imladris mitgenommen als sie ihm als seine Braut nach Düsterwald gefolgt war.

Er erinnerte sich, wie erschrocken sie gewesen war, als er ihr offenbarte, dass er der König des Düsterwaldes war. Es war allerdings nicht sein Königtum, das sie erschreckt hatte, sondern vielmehr der Gedanke daran, daß sie mit ihm in diesen, von Spinnen heimgesuchten, finstren, alten Wald gehen sollte. Thranduil war es schnell gelungen, ihr die Angst zu nehmen und als er sie schließlich in seinen Palast geführt hatte, hatte sie sich schnell eingelebt und hatte Licht und Leben mit sich gebracht.

Er wollte sich gerade umdrehen und weiter in Erinnerungen an seine schöne Gemahlin schwelgen, als er aus der rechten, hinteren Ecke des Raumes, dort, wo sein wertvoller Sekretär aus dunkelstem Ebenholz stand, ein leises, zischendes Flüstern hörte.

"Er kommt zu sich. Das sollte der Meister wissen!", sagte eine fremde, blechern klingende Stimme.

Diese Stimme ließ Thranduil einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Doch die krächzende Stimme, die der ersten nun antwortete, empörte ihn so dermaßen, daß er beinahe ohne zu überlegen aufgesprungen wäre. Der andere sprach nämlich die schwarze Sprache, die Sprache der Orks.

Ein Ork? Hier?

Das kam einer Entweihung gleich. Aber es brachte auch endlich die Erinnerung zurück. Da war ein gelblicher Nebel gewesen, der ihn fast erstickt hatte. Er hatte es bis gerade eben für einen schlechten Traum gehalten, den es schnellstens zu vergessen galt.

Wenn zwei Fremde in seinem Schlafgemach waren, einer davon offensichtlich ein Ork, dann würde er mit Sicherheit keine Gelegenheit mehr haben, den Dolch zu erreichen, den er für gewöhnlich an der rechten Seite seines Bettes in einem Nachtschrank aufbewahrte. Allerdings galt es auch zu bedenken, inwieweit seine Gemächer bereits von den beiden Eindringlingen durchsucht worden waren. Wie lange war er eigentlich bewußtlos gewesen? Tausend Fragen schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Sein Atem wurde langsamer und sein ganzer Körper war auf's äußerste angespannt. Er vernahm das scharrende Geräusch von Stuhlbeinen, die über den Boden gezogen wurden uind darauf das Geräusch eines Schwertgehänges, das gegen Leder schlug.

'Bewaffnet sind sie also auch', dachte Thranduil.

Das schmälerte seine Chancen, den beiden Fremden zu entkommen noch ein wenig mehr.

Die beiden näherten sich, der eine schlurfend - lahmte er? - der andere entschlossenen, schweren Schrittes.

Thranduil wagte es, seine Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Er mußte wissen, wer sich gewaltsam Zugang zu seinem unterirdischen Palast verschafft hatte. Was er erblickte, ließ ihm fast das Blut in den Adern gefrieren. Diese beiden Wesen waren weder Orks, noch Mensch oder Elb, sondern eine Perversion der Natur. Das waren albtraumhafte Gestalten, die es gar nicht geben durfte.

Der eine hatte blicklose Augen, die selbst im Halbdunkel milchig und fiebrig glänzten, wie bei einem Pestkranken. Der andere hatte zwar oberflächlich ein elbisches Aussehen, doch seine Haut war dünn und farblos wie abgenutztes Pergament und ließ seine Adern bläulich durchschimmern. Sein Haar war schwarz, doch nicht glänzend wie bei den Elben aus Bruchtal sondern schwarz und struppig.

Die beiden hatten Thranduils Bett erreicht. Der mit dem unheimlichen Augen beugte sich neugierig über ihn, wurde jedoch von dem anderen unsanft zurückgerissen. Der Struppige zischte den anderen wütend an. Thranduil hörte diesmal noch genauer hin, denn er war sich nun nicht mehr so ganz sicher, dass er zuvor die Orksprache gehört hatte. Immerhin handelte es sich bei diesem Wesen offensichtlich doch nicht um einen Ork. Tatsächlich schien es sich allerdings bei der Sprache um eine verquere Mischung aus Quenya und Khuzdul zu handeln. Er verstand nicht alles, doch er sagte etwas, das wie 'zurück auf deinen Platz, Toter' klang. Toter? Was sollte das nun wieder heißen?

Der König ließ seinen Kopf zur Seite sinken und gab vor, wieder in die Bewußtlosigkeit hinabgeglitten zu sein. Er brauchte mehr Informationen und hoffte, sie würden weiter miteinander reden.

"Geh, hol den Meister, der 'hohe Herr' ist bei Bewußtsein. Er versucht, uns zu täuschen, aber ich kann es sehen," flüsterte der Struppige ganz nahe bei seinem Gesicht und spie den Titel 'hoher Herr' mit der größten Verachtung aus, zu der er anscheinend fähig war.

Thranduil sank das Herz. Er hatte also anscheinend keine Möglichkeit, diesen beiden... Monstren - denn nichts anderes waren sie - zu entgehen.

Die Tür zu seinen Gemächern wurde von dem Schlurfenden geöffnet und kurz darauf wieder von außen geschlossen. Nun war er also mit dem Struppigen allein.

Ihm ging nicht aus dem Kopf, wie elbisch dieser aussah. Seine Kopfform, die Form seiner Ohren, seine mandelförmigen Augen mit den langen Wimpern, auch seine Bewegungen glichen einem gut ausgebildeten Elbenkrieger.

Der König fragte sich, ob es noch Sinn machte, den Bewußtlosen zu spielen, als ihn eine kalte, feuchte Hand plötzlich schraubstockartig am Kinn packte. Thranduil riß die Augen auf und blickte in die Augen seines Gegenübers. Es waren furchterregende, blutunterlaufene Augen, doch er hielt ihrem Blick stand.

"Ihr solltet euch schnellstens erheben, 'König'. Wenn ihr schon nicht in der Lage seid, mich zu täuschen, dann wird es euch bei unserm Meister erst recht nicht gelingen.", sagte dieses Zerrbild eines Elben.

Thranduil widerstand dem heftigen Drang, seinem Gegenüber ins Gesicht zu spucken.

Das dunkle Wesen sprach weiter:

"Ihr habt ja gar keine Vorstellung davon, was ich mit euch nur zu gerne anstellen würde, wenn mir der Meister nur die Erlaubnis dazu erteilen würde."

Thranduil wurde langsam aber sicher doch sehr wütend. Er befand sich immerhin in seinem eigenen Heim, in seinem Gemach und er wurde von einem fremden Eindringling bedroht. Diese Tatsache war mehr als empörend... und gleichzeitig wiederum beunruhigend, bedachte man den Traum, den er gehabt hatte. Thranduil ergriff die Hand des Fremden und drückte sie von sich fort. Dabei stellte er überrascht fest, dass das... Wesen ihm an Stärke fast ebenbürtig war. Es gelang ihm dennoch, mit ungeheurer Kraftanstrengung, sich langsam aufzurichten.

"Oh, was sehe ich?", höhnte der Bleiche, "Ein verzweifeltes Aufbäumen des hochmütigen Elbenkönigs?"

"Ich weiß nicht, wer du bist oder wie du hier hereingekommen bist. Ich weiß nur, dass Abschaum wie du es nicht einmal wert ist, die selbe Luft zu atmen wie jeder einzelne aus meinem Volk.", zischte Thranduil.

Die Tür öffnete sich und das schlurfende Wesen trat wieder ein, hinter ihm eine weitere Person, die Thranduil aufgrund des Halbdunkels in dem Raum zunächst nicht erkennen konnte.

"Mach dich fort, Coldar!", sagte der neu Hinzugekommene herrisch und unterstrich das Gesagte mit einer wegwischenden Handbewegung.

Coldar ließ sofort von Thranduil ab.

Die Stimme...

Sie war ihm so bekannt und es war fast so, als ramme man ihm einen unbarmherzig scharfen Dolch tief in sein Herz.

Die Stimme war so weich, so tief, seiner eigenen so ähnlich.

Er hatte diese Stimme lachend und weinend gehört. Diese Stimme hatte mit ihm gescherzt und bei ihm um Rat nachgesucht.

Der Besitzer dieser Stimme hatte einst während langer Ratssitzungen auf seinem Schoß gesessen und geduldig mit den Flechten seines langen Haares gespielt.

Jetzt stand der Mann, dem diese Stimme gehörte, direkt vor ihm und musterte ihn von oben bis unten, fast als hätte er ihn soeben das erste Mal in seinem Leben gesehen. Thranduil konnte den Gesichtsausdruck nicht einordnen, den das wohlbekannte Gesicht seines Gegenübers zierte. Was machte sein Sohn hier und warum gab er sich mit diesen Gestalten ab, die offensichtlich seinen Befehlen gehorchten?

Wahrscheinlich stand ihm diese Frage ins Gesicht geschrieben, denn Finlass wich seinem Blick aus und starrte angestrengt auf den Boden, als suche er dort irgend etwas.

"Ich denke, du würdest mit Sicherheit gerne wissen, warum du in deinem eigenen Palast wie ein Gefangener behandelt wirst.", meinte Finlass ohne aufzublicken.

"Das wäre tatsächlich etwas, was ich nur zu gerne erfahren würde.", erwiderte Thranduil und bemühte sich, seine Stimme besonders autoritär klingen zu lassen. "Wenn du die Güte hättest, mir das zu erklären und vor allem, welche Rolle du dabei spielst."

Coldar trat hinter Finlass und legte eine Hand auf dessen Schulter.

"Wieso laßt ihr euch diesen Ton gefallen, Herr? Seid ihr jetzt nicht der Gebieter in diesen Hallen?"

Finlass reagierte nicht und versuchte, dem bohrenden Blick seines Vaters standzuhalten. Dieser stand immer noch mit geradem Rücken und hocherhobenem Kopf vor ihm. Von einem gebrochenen Mann konnte kaum die Rede sein. Der Hochmut seines Vaters widerte Finlass an, aber er würde schon noch dafür sorgen, dass ihm dieser Hochmut verging. Merilwen, seine geliebte Magierin, hatte ihm gesagt, womit er seinem Vater das Herz würde brechen können.

"Sicher macht es dir nichts aus, wenn ich mich setze, denn meine Erklärung könnte ein wenig Zeit in Anspruch nehmen.", sagte Finlass und bemühte sich, sein Grinsen möglichst süffisant wirken zu lassen.

Es gelang ihm nicht ganz seine Unsicherheit zu verbergen.

Finlass ließ sich auf dem Scherenstuhl am Sekretär seines Vaters nieder und als weitere Provokation lehnte er sich lässig zurück und legte seine Füße auf die blankpolierte Oberfläche des Schreibtisches. Er wußte genau, daß seinen Vater dies aufregen würde, also beobachtete er aufmerksam dessen Gesichtszüge. Umso mehr frustrierte es ihn, keine Reaktion darin zu sehen.

"Wie dir sicher aufgefallen ist", begann Finlass, "hat dein geliebter, ältester Sohn und Nachfolger wegen einer jungen Halbelbe Hals über Kopf seine Heimat verlassen. Er hat sich über deinen Kopf hinweggesetzt... und allein dieser Grunde wäre für 'mich' schon ausreichend, um ihm die Thronfolge zu verwehren. Aber, wie es der glückliche Zufall will, hast du ja einen weiteren Sohn, der pflichtbewußt an deiner Seite geblieben ist und dem es überhaupt keine Probleme bereitet, die Verantwortung zu tragen."

Thranduil verschränkte die Arme vor der Brust und sagte:

"Du redest, als würde Legolas nicht zurückkehren. Ich zweifele keinen Moment daran, dass er wiederkehrt, wenn er Valshiya gefunden hat. Wie kommst Du also darauf, dass ich dir den Thron überlasse?"

Finlass' Rede irritierte ihn. Legolas hatte mit ihm nie über die Thronfolge gesprochen. Er hatte ihm ganz im Gegenteil immer gesagt, dass es noch Zeit hatte, bis er ihm den Thron überließ. Er hatte ihn immer wieder überzeugen können, daß (noch ein s mehr) er ein guter Herrscher war und das es nicht nötig war, über den Rücktritt nachzudenken.

Finlass riß die Füße vom Tisch, sein Oberkörper schoß nach vorn und er schlug wütend mit der Faust auf die Tischplatte.

"Bist du wirklich so blind? Oder willst du es einfach nicht wahrhaben? Denkst du, das habe ich bei meinem Plan nicht berücksichtigt? Ich werde schon dafür sorgen, dass er auf gar keinen Fall wiederkehrt. So weit ich weiß, müßte 'es' schon geschehen sein."

Finlass wußte genau, dass der Plan, den er mit Tarawyn ausgeheckt hatte, fehlgeschlagen war, doch er war zu neugierig, wie Thranduil wohl reagieren würde, wenn er erfuhr, dass sein Lieblingssohn nicht mehr lebte. Das war genau der Köder, den auszuwerfen Merilwen ihm geraten hatte.

Der König versteifte sich und sagte mit gefährlich leiser Stimme:

"Das ist nicht wahr! Du willst mir nicht allen Ernstes sagen, dass du zum Brudermörder geworden bist!"

Finlass sagte nichts und sein Schweigen machte Thranduil noch wütender. Er ging hastigen Schrittes auf Finlass zu. Obwohl dieser glaubte, immer noch die Oberhand zu haben, wirkte sein Vater auf ihn so bedrohlich, dass er aufsprang und vor ihm zurückwich.

Seine Augen - so blau und klar wie die Legolas' - blitzten wütend aber der Blick in ihnen verrieten auch, dass es Finlass gelungen war, mit der Behauptung, Legolas sei tot, seiner Selbstsicherheit einen gewaltigen Dämpfer zu geben.

"Sag sofort, dass das nicht wahr ist! Sag es, sonst erwürge ich dich mit meinen eigenen Händen, das schwöre ich dir."

Finlass lächelte süffisant und erwiderte:

"Wenn du mir nur ein Haar krümmst, werden meine Freunde deinem geliebten Volk etwas Furchtbares antun. Sie sind alle in meiner Hand, daran solltest du denken."

Thranduil blickte gehetzt von Finlass zu dem hohen Fenster, auf das Finlass gewiesen hatte. Er eilte dorthin und warf einen Blick nach draußen auf den Vorplatz des Palastes, zu der Terrasse, auf der sonst Feste gefeiert wurden. Dort waren die Frauen und Kinder seines Volkes wie Vieh zusammengetrieben worden. Sie waren von diesen bleichgesichtigen Elbenzerrbildern und mehreren dieser blicklosen Gestalten eingekreist.

Finlass trat ebenfalls ans Fenster und blickte seinem Vater grinsend über die Schulter, als würde sich draußen auf der Terrasse etwas besonders Erfreuliches abspielen, das er auf gar keinen Fall verpassen wollte.

"Auf ein kleines Zeichen von mir, werden sie alle auf der Stelle umgebracht. Alle Frauen und alle Kinder. Ich nehme an, du kannst dir ausmalen, was das für Auswirkungen auf das Fortbestehen der Sindar in Eryn Lasgalen hat, nicht wahr?"

Er sprach von der kaltblütigen Hinrichtung hunderter Elben, als ging es um etwas völlig Unbedeutendes und Nebensächliches.

Nur mit äußerster Selbstbeherrschung gelang es Thranduil, seine Tränen zurückzuhalten.

"Ich erkenne dich nicht wieder, Finlass.", sagte er mit leiderfüllter Miene.

Er wandte sich vom Fenster ab und ging taumelnd zurück zu seinem Bett, wo er sich schwerfällig niederließ. Der Verrat seines Sohnes ging so tief, dass es ihn jeglicher Gefühle beraubte. Er war nicht in der Lage, das zu verstehen... er konnte es nicht verstehen.

Finlass betrachtete die gramgebeugte Gestalt seines Vaters. Fast tat er ihm leid, doch andererseits war dieser Dämpfer für seinen Hochmut und seine Selbstgefälligkeit schon lange überfällig. Als ihm das Schweigen zu lange dauerte, stand er seufzend auf und ging, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, in dem Gemach auf und ab. Er gab dem König absichtlich ein wenig Zeit, damit er sich überlegen konnte, was es für Konsequenzen haben würde, wenn er nicht genau das tat, was er von ihm verlangte.

Thranduil verbarg sein Gesicht in den Händen. Er war wie betäubt.

"Nun, ich glaube, ich habe meinen Standpunkt nun mehr als deutlich gemacht. Es dürfte keine Probleme geben mit der Zusammenarbeit.", sagte Finlass.

Thranduil blickte seinem Sohn - war das wirklich sein Sohn? Er entschied, dass es nicht so sein konnte - ins Gesicht. Ihm war klar, was er wollte, doch er konnte immer noch nicht verstehen warum.

Hatte er bei der Erziehung von Finlass so sehr versagt? Hatte er Legolas tatsächlich so offensichtlich bevorzugt, dass er damit einen irreparablen Schaden angerichtet hatte?

Das war es auch, was er von Finlass letztendlich wissen wollte.

Finlass schüttelte den Kopf und setzte zu einer längeren Erklärung an:

"Vater, Vater, wieso fragst du mich das? Es ist doch offensichtlich. Die Zeit deiner Regierung ist vorüber. Du hast das Reich mit zu lockerer Hand geführt und einen weiteren nachlässigen König kann Eryn Lasgalen nicht gebrauchen. Unser Volk wird immer kleiner, viele gehen in den Westen. Ich sage: Wir sollten hier bleiben. Warum sollen wir Mittelerde den Menschen überlassen? Schau sie dir doch an. Sie werden sich mit ihrer Kleingeistigkeit bald selbst auslöschen. Du hast das nie erkannt. Es wird Zeit, dass jemand, der fähiger ist, das Volk führt. Was ich von dir will ist, dass du ihnen erklärst, warum du dich entschieden hast, zurückzutreten."

Thranduil hatte nicht geahnt, dass sich das Entsetzen, das er ohnehin schon verspürte, sich noch steigern ließ. Dennoch war es soeben geschehen.

"Du bist ja vollkommen wahnsinnig geworden. So sehr kannst du uns doch nicht hassen. Was, nur was haben wir dir getan?", wollte er wissen und seine Stimme klang verzweifelt.

Es schien fast, als wäre Finlass den Tränen nahe, als er antwortete:

"Was ihr mir getan habt? Es ist eine Schande, dass du es nicht einmal gemerkt hast. Du hast es nicht gemerkt, genausowenig, wie du mich jemals wahrgenommen hast. Immer nur hieß es Legolas hier, Legolas da. Alles war für den vollkommenen Prinzen reserviert, niemand beachtete den jüngeren Bruder. Nichts hat er sich selbst erarbeiten müssen. Alles ist ihm in den Schoß gefallen. Wie soll aus ihm ein guter Herrscher werden?"

Thranduil breitete in einer fast entschuldigenden Geste die Arme aus und erwiderte hilflos:

"Du weißt genau, dass das nicht wahr ist. Wieso nur belügst du dich selbst? Wie konnte ein so unseliger Neid deinen Geist vergiften? Dazu habe ich dich nicht erzogen."

Er fragte sich, warum er überhaupt versuchte, seinem Sohn in Erinnerung zu rufen, wie sehr er auch ihn geliebt hatte. Er hatte ihn niemals hinter Legolas zurückgestellt. Thranduil liebte alle seiner Kinder gleichermaßen. Tief in seinem Herzen wußte er jedoch, dass er Finlass für immer verloren hatte. Er hatte beide Söhne für immer verloren. Den einen auf die eine, den anderen auf die andere Art.

"Du glaubst nicht wirklich, dass du mit diesem irrwitzigen Plan durchkommen wirst, oder?", fragte Thranduil letztendlich.

Finlass warf seinen Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Halse. Es war ein spitzes, unheimliches Lachen, das Thranduil noch mehr entsetzte als das veränderte Aussehen seines Sohnes.

"Was glaubst du denn, wer mich aufhalten sollte? Du 'wirst' dir etwas einfallen lassen, du 'wirst' mich unterstützen. Wenn du immer noch Entscheidungshilfen brauchst, dann wirf doch einfach noch einmal einen Blick aus dem Fenster."

Thranduil wußte, dass er sich geschlagen geben mußte. Das Überleben seines Volkes stand auf dem Spiel. Wenn es nur um ihn gegangen wäre, dann hätte er keine Sekunde gezögert, sein Leben auf's Spiel zu setzen. Doch so...! Er befand sich in einer grausamen Sackgasse ohne erkennbaren Ausweg.

~*~

Der König schleppte sich nach ewig dauernden Besprechungen mit dem Mann, der einmal sein Sohn gewesen war, in seinen Thronsaal. Nun, es würde nicht mehr lange sein Thronsaal sein. Sein treuer Berater und Freund Amarayl, genannt die Schwarzeiche, der immer noch bekümmert war, wegen des Verschwindens seiner Tochter, eilte an seine Seite.

"Wo bist du nur gewesen? Drei Tage lang wurden wir von diesen... was immer sie auch sind gefangen gehalten. Sie sagten, es sei alles in Ordnung, doch wir durften Düsterwald nicht verlassen. Die Frauen und Kinder wurden von uns getrennt. Thranduil, ich mache mir Sorgen um Valshiya, wir..."

Thranduil fing Finlass' warnenden Blick auf und unterbrach Amarayl, indem er ihm seine Hand auf die Schulter legte.

"Amarayl... Legolas ist tot.", sagte er nur.

Amarayl schwieg sofort, doch der Blick in seinen Augen verriet pures Entsetzen und vollkommene Irritation.

Darauf achtend, seine königliche Haltung zu bewahren, raffte Thranduil sein Gewand und ging weiter auf seinen Thron zu, allerdings brachte er es nicht fertig, sich zu setzen, da er wußte, was für eine Farce ihm bevorstand.

Er hatte nun die Aufgabe, seinem Volk die Gründe darzulegen, warum er sich entschlossen hatte, auf den Thron zu verzichten und ihn seinem jüngeren Sohn zu überlassen.

423 erwartungsvolle Augenpaare richteten sich auf ihn. 423 Elben, deren Leben in seiner Hand lag. Die Kinder - er hatte nicht im Kopf, wie viele Geburten es in den letzten zehn Jahren gegeben hatte - waren noch gar nicht mitgezählt. Was für eine unerträgliche Last ruhte auf seinen Schultern. Einer solchen Herausforderung hatte er sich noch niemals stellen müssen. So mußte sich auch sein Vater Oropher gefühlt haben, als er die schwere Entscheidung getroffen hatte, das Heer vom Düsterwald von der Schlacht des letzten Bündnisses am Schicksalsberg abzuziehen. Er hatte damit das Überleben seines Volkes gesichert, doch er hatte sich damit auch den Zorn Gilgalads, Elronds, Celeborns und Galadriels auf sich gezogen. Letztendlich war dies der Grund, warum er, Thranduil, seinen Sohn nach Bruchtal geschickt hatte. Er verstand dies als eine Art Wiedergutmachung für den Fehler, den Oropher gemacht hatte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Elrond ihn als einen der neun Gefährten erwählen würde. Sein Sohn - der eine unglaublich treue Seele hatte und immer Freunden, die in Not waren zur Hilfe kam - hatte viele neue Freundschaften geschlossen. Besonders bemerkenswert war seine tiefe Freundschaft zu dem Zwergenfürsten Gimli Gloinssohn. Aber auch zu Aragorn, der immer sehr auf Legolas' Urteil vertraut hatte, verband ihn eine enge Freundschaft. Genau diesem war er letztendlich zur Hilfe geeilt, als er gerufen hatte. Wenn er also seinen geliebten Sohn niemals nach Bruchtal geschickt hätte, würde er jetzt noch leben. Es war eine sehr weit hergeholte Schlußfolgerung, doch sie reichte aus, um dem König ein schlechtes Gewissen zu machen.

Thranduil seufzte und begann stockend seine Rede:

"Volk von Eryn Lasgalen, etwas ist geschehen, daß mir das Herz hat gefährlich schwer werden lassen. Vor drei Tagen kehrte mein Sohn Finlass vom südlichen Rand Eryn Lasgalens mit einer betrüblichen Nachricht zurück. Legolas, mein geliebter Sohn und Erbe ist auf der Suche nach der Königin von Gondor ums Leben gekommen."

Ein bestürztes Gemurmel war zu vernehmen.

"Noch ist nichts über die näheren Umstände des Unglücks bekannt. Allerdings habe ich mich entschlossen - da ich mich nicht in der Lage sehe, weiter zu regieren - den Thron meinem Sohn Finlass zu überlassen. So spreche ich, Thranduil Oropherion o Eryn Lasgalen Aran Tawarwaith, und so soll es geschehen. Huldigt eurem neuen König Finlass Thranduilien o Eryn Lasgalen Aran Tawarwaith."

~*~

Finlass grinste breit, während sein Volk... 'sein Volk' - das klang sehr gut - ihm entgegenjubelte. Zunächst verhalten, immerhin war Legolas sehr beliebt gewesen, doch dann laut und überzeugend. Schließlich war auch er nicht minder beliebt gewesen... all die Jahre, doch immer Schatten seines älteren Bruders. 'Nun, sie werden sich noch wundern, welche Veränderungen ich einführen werde', dachte er. Doch die Aussicht auf eine Rebellion schien ihn nicht sonderlich zu beunruhigen. Finlass glaubte sich am Ziel seiner Träume. Er warf einen Blick auf die rothaarige Elbin an seiner Seite. Er würde sie belohnen. Er hatte es ihr versprochen. Ohne sie hätte er dieses Ziel nicht erreicht. Bald würde sein Volk wieder einen Grund zum Feiern haben, denn ehe der Tag vorüber war, wollte er Merilwen zur Gemahlin genommen haben. Im übrigen würde er noch am selben Tag eine Nachricht zu Osclyn schicken, ihm seine Treue schwören und ihm die Streitmacht Eryn Lasgalens rückhaltlos zur Verfügung stellen. In der Stadt lebten nur ungefähr 500 Elben, doch ganz Eryn Lasgalen hatte eine Streitmacht von fast 2.000 Bogenschützen und Schwertkämpfern. Obwohl Osclyn nicht damit einverstanden gewesen war, das Finlass nach Eryn Lasgalen aufbrechen wollte, würde er nun wohl mit ihm zufrieden sein.

~*~

Thranduil schloß leise die Tür hinter sich. Er wollte jetzt einfach nur allein sein. Finlass hatte ihm gestattet, die Räumlichkeiten, die er seit jeher in Besitz gehalten hatte, weiterhin zu bewohnen. Er durfte sich auch weitestgehend frei bewegen, doch sobald er den Palast verließ, spürte er die Blicke der Dunkelelben auf sich. Unsichtbar zwar, jedoch immer präsent. Dunkelelben nannte Finlass sie, anscheinend stolz darauf, zu ihnen zu gehören.

Thranduil blickte in den Spiegel. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie ähnlich er seinem ältesten Sohn sah. Er war heller als Legolas, dessen Augenbrauen dunkler waren und auch der Ansatz seines Haares, jedoch - seine Finger zogen nachdenklich seine eigenen Gesichtszüge im Spiegel nach - die Form der Augen, die Nase und der Mund, den immer ein leicht zynischer Ausdruck zierte, man könnte auch melancholisch oder verbissen sagen, waren sehr ähnlich. Etwas an seinem Spiegelbild veränderte sich plötzlich. Das Bild verschwamm. Thranduil preßte die Lippen fest aufeinander als er erkannte, was mit ihm geschah. Er weinte! Was daran so überraschend war, war die Tatsache, daß er seit fast 1.500 Jahren nicht mehr geweint hatte. Er konnte nicht einmal genau sagen, warum er weinte. War es der Verlust seines geliebten Sohnes? Genaugenommen hatte er an einem Tage beide Söhne verloren. War es, weil Mailtheniel in diesen schweren Stunden nicht bei ihm war? War es die Wut über das eigene Versagen? Als er sein eigenes Abbild im Spiegel nicht mehr ertragen konnte, ballte er die Faust und zerschlug mit der bloßen Hand den Spiegel. Die Splitter bohrten sich unbarmherzig in sein Fleisch und sofort begannen die tiefen Schnittwunden zu bluten. Wie betäubt und deshalb unempfänglich für den Schmerz öffnete Thranduil seine Hand und schaute mit einer gewissen Faszination auf das Blut, das in warmen Strömen über seine Haut lief und langsam auf den Boden tropfte.

'Unsterblichkeit?', dachte er verbittert. 'Wer uns darum beneidet sollte auch wissen, welch hohen Preis wir dafür zahlen, denn auch die Schmerzen, die wir an unserer Seele erleiden sind... unsterblich.'

~*~

Als auf sein Klopfen keine Reaktion erfolgte, trat Amarayl unaufgefordert ein. Thranduil war seit langem nicht nur sein König, sondern auch sein guter Freund und unnötige Formalitäten waren zwischen ihnen beiden nicht notwendig. Er fand Thranduil vollkommen in sich zusammengesunken in seinem kostbaren Scherenstuhl vor dem Fenster sitzend vor. Der König - denn für ihn war er es immer noch - saß vollkommen apathisch da und es hatte zunächst den Anschein, als nehme er ihn gar nicht wahr. Doch dann hob er langsam seine Hand und winkte ihn zu sich.

"Alter Freund, womit habe ich deinen Besuch verdient? Wer bin ich denn schon? Mit meiner Sturheit habe ich meinen Sohn vertrieben und ich bin schuld daran, daß er tot ist."

Amarayl kam zu ihm. Er bemerkte, daß die Hand, mit der einen gläsernen Weinpokal fest umklammert hielt, mit einer blutigen Bandage umwickelt war. Was hatte Thranduil sich bloß angetan?

"Hast du gehört, Amarayl? Legolas ist tot und ich bin daran schuld... ich!... ich!... ICH und niemand sonst!"

Amarayl war schockiert. Offensichtlich war Thranduil zu allem Übel auch noch betrunken. Das war zuletzt der Fall gewesen als eben der Sohn, den er jetzt betrauerte, zur Welt gekommen war. Er kniete vor seinem König nieder und nahm ihm sanft das Glas aus der Hand. Eigentlich sollte er mit ihm erst reden, wenn er wieder nüchtern war, aber was er ihm mitzuteilen hatte war einfach zu wichtig und duldete keinen Aufschub.

"Schau mich an und hör mir genau zu, Thranduil! Ich kann den Schmerz verstehen, den die Nachricht, die Finlass dir überbrachte, bei dir auslöste, dein Urteilsvermögen war getrübt und du hast nicht weiter nachgedacht. Aber tu mir den Gefallen und denke wenigstens jetzt nach. Finlass hat behauptet, Legolas sei tot. Woher will er das wissen? Er konnte dir nichts Genaues sagen. Von Alfiriel und Tarawyn hat er nichts gesagt und ich weiß zumindest von Alfiriel, daß sie ihren Bruder niemals aus den Augen lassen würde."

Thranduil blickte Amarayl erstaunt an.

"Was willst du damit sagen? Nach all den Jahren unserer Freundschaft... wieso machst du dich jetzt lustig über mich?", wollte er wissen.

Aber auch ein Hoffnungsfunken glomm in seinen Augen auf.

Amarayl nahm Thranduils Hände in die seinen und sagte leise:

"Ich kann nicht laut sprechen. Man weiß nie, wer einen belauscht. Glaube mir, es gibt noch Hoffnung. Finlass ist verunsichert. Es ist fast so, als rechne er mit Gegenwehr aus einer bestimmten Richtung. Ich denke, es ist nicht so wie er gesagt. Ich glaube nicht das Legolas tot ist. Aber wir wissen auch nicht, wo er ist."

Plötzlich, als wäre mit der Zuversicht seines Freundes auch sein Lebensmut zurückgekehrt, sprang Thranduil auf.

"Iluvatar! Ich hatte schon aufgegeben und nur deinem klugen Kopf ist es zu verdanken, daß ich wieder Hoffnung sehe. Wenn Legolas noch lebt, dann müssen wir ihn von den Vorkommnissen hier benachrichtigen. Er wird wissen was zu tun ist."

Amarayl stand ebenfalls mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht auf und meinte:

"Jetzt klingst du schon eher wieder wie der König, den ich zu schätzen gelernt habe. Du wirst auf Schritt und Tritt überwacht. Sag mir jemanden, der zuverlässig ist und den ich auf die Suche nach Legolas schicken kann. Ich werde ihn auf der Stelle losschicken."

Der König dachte einige Sekunden lang angestrengt nach. Es mußte jemand sein, den man nicht so schnell vermissen würde. Jemand, der allerdings auch die nötige Erfahrung hatte, mit brenzligen Situationen fertig zu werden.

"Dionoril! Er wird es schaffen!", sagte Thranduil leise.