Kapitel 24
Warnung vor der Gefahr - Teil 2

Legolas hatte einige wirklich wütende Worte mit seinem Onkel gewechselt. Es war in dem Gespräch darum gegangen, dass er es noch niemals hatte leiden können, wenn Dionoril so plötzlich und unerwartet irgendwo auftauchte. Valshiya konnte sich ein amüsiertes Lächeln einfach nicht verkneifen. Es war erfrischend, mitanzusehen, dass auch bei Legolas, der immer so unerschütterlich wirkte, Situationen gab, die ihnen völlig aus der Bahn warfen. Dionoril hatte sich die Vorwürfe seines Neffen mit gleichmütiger Miene angehört. Er wußte schließlich, dass dies nur Legolas' Art war, seiner Verlegenheit Ausdruck zu verleihen. Alfiriel hingegen war ihrem Onkel freudestrahlend um den Hals gefallen, als hätte sie ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Auch an ihrer Reaktion las Valshiya ab, dass auch hinter ihrer selbstsicheren Fassade alles ein wenig verwirrt war. Schließlich hatten Dionoril und Legolas ein Lagerfeuer angezündet um welches sie nun alle saßen und mit Kräutern gewürzten, heißen Wein tranken.

"Nun sag mir, wie die Lage in Eryn Lasgalen ist. Ohne Grund bist du sicherlich nicht hier, du erwähntest so etwas," brach Legolas schließlich das Schweigen.

Das schelmische Lächeln verschwand auf der Stelle aus dem Gesicht des älteren Elben. Das unruhige Flackern des Feuers verlieh seinen dunklen Augen einen geheimnisvollen Schimmer, als er langsam und bedächtig den Becher mit dem heißen Wein abstellte, ohne den Blick von seinem Neffen zu nehmen. Es schien, als erzählte er eine besonders interessante Geschichte und wollte durch sein theatralisches Schweigen die Spannung bis ins unermeßliche steigern. Anschließend blickte er in die Runde und begann dann zu erzählen.

"Natürlich komme ich nicht ohne Grund. Die Dinge in Eryn Lasgalen stehen denkbar schlecht. Dein Bruder, der einige Tage verschwunden war, kam plötzlich zurück, nachdem er ebenso plötzlich für einige Zeit verschwunden war, und hat die Macht übernommen und wenn es Amarayl und mir nicht gelungen wäre, deinen Vater zu überzeugen, würde er immer noch glauben, du wärest gar nicht mehr am leben. Dieses Gerücht streute Finlass unter die Bevölkerung. Vielen leuchtete es ein, dass er von deinem Verbleib wußte, denn sie glaubten, er wäre dir und Tarawyn gefolgt."

Überrascht blickte Legolas auf.

"So weit geht Finlass' Verrat tatsächlich? Ich kann es einfach nicht glauben."

Dionoril schüttelte den Kopf und lächelte. Offensichtlich lachte er seinen Neffen aus.

"Die Art und Weise, wie du denkst ist fern jeglicher Realität. Verrat und Betrug hat es schon immer gegeben, nicht nur unter den Menschen. Dies ist eine Eigenschaft, die wir mit ihnen gemein haben," er zwinkerte schelmisch, "nur ist es uns anscheinend besser gelungen, dies über die Jahre zu verbergen. Im übrigen - auch dies ist eine Eigenschaft die wir mit den Menschen gemein haben - will man sich auch nicht gerne an schlimme Dinge erinnern. Aber du bist noch jung und du wirst dies alles noch erfahren. Oh, verzeih'... du bist ja gerade dabei dies zu erfahren."

Valshiya bemerkte das sich Legolas' Hand um seinen Becher verkrampfte. Es mußte unglaublich schmerzhaft für ihn sein zu erfahren, dass die perfekte Welt der Elben, die Welt, in der er bisher gelebt hatte, eben doch nicht so perfekt war, wie sie schien.

"Aber ihr sagtet, König Thranduil hielte Legolas für tot. Warum?", fragte sie Dionoril.

Dionoril hob seinen Becher wieder auf und nippte an dem Wein ohne Legolas aus den Augen zu lassen.

"Langsam, langsam. Eines nach dem anderen. Einige Wochen nachdem du, Legolas, aufgebrochen warst, um dieses hübsche Halbelbenwesen hier zu befreien, tauchte Finlass also wieder auf, in Begleitung eigenartiger Wesen, die sich selbst Moredhel nennen. Auch eigenartige, scheintote Kreaturen waren unter ihnen, die selbst mir einen kalten Schauer über den Rücken jagten und wie du weißt, bin ich ja mit allen Wassern gewaschen. Finlass erzählte Thranduil, du seist nicht mehr am Leben. Er erzählte ihm auch von einem wahnsinnigen Traum, den er hatte, dass er nämlich die Menschen aus Mittelerde vertreiben und die Macht an sich reißen wolle. Finlass wußte, dass Thranduil in seiner Trauer schnell nachgeben und die Herrschaft an ihn übergeben würde. Erst Amarayl konnte deinen Vater davon überzeugen, dass du auf gar keinen Fall tot sein kannst. Schließlich baten sie mich um Hilfe. Sie wußten, dass du in großer Gefahr sein würdest, wenn du Eryn Lasgalen betrittst. Finlass wird wissen, dass du noch lebst und alles daran setzen, diesen Umstand schnellstmöglichst zu ändern. Deshalb bin ich hier. Vor dieser Gefahr wollte ich dich warnen."

Legolas stand auf und blickte zu den Sternen, als suche er dort eine Antwort auf all die Probleme. Sprachlos blickte er von einem zum anderen in der Hoffnung, einer von ihnen hatte einen Rat für ihn. Dann ging er einige Sekunden lang auf der Lichtung auf und ab. Er spürte Dionorils neugierigen Blick auf sich. Der wartete nun gespannt darauf, was Legolas entschied als nächstes zu tun. Abrupt blieb Legolas stehen und deutete mit dem Zeigefinger auf den völlig perplexen Tarawyn.

"Sag mir, hast du davon auch gewußt? Hast Du gewußt, das mein Bruder einen Krieg gegen die Menschen plant?" wollte er wissen.

Tarawyn schüttelte heftig den Kopf und erwiderte:

"Nein, ich bin immer davon ausgegangen, dass es sich um einen - bitte verzeih' mir das Wort - gewöhnlichen Bruderzwist handelt. Was ich meine ist, dass eben nichts gewöhnliches an dem Streit ist, den du mit Finlass hast. Ich glaubte, er wollte dich nur aus dem Weg haben und damit wäre diese Angelegenheit erledigt. Von den Moredhel und den anderen Verbündeten ahnte ich nichts."

Alfiriel warf Tarawyn einen vernichtenden Blick zu, der ihn augenblicklich zum Schweigen brachte, obwohl er eigentlich noch etwas hatte sagen wollen, dann wandte sie sich an ihren Bruder.

"Was hast du vor, nun zu tun?"

Dionoril schloß sich ihrer Frage an:

"Das würde ich auch zu gerne wissen. Thranduil schickte mich zwar aus, um dich zu warnen aber, wie ich dich kenne, wirst du auch einer Konfrontation zwischen dir und Finlass nicht aus dem Wege gehen. Andererseits: vielleicht kann ich eine Entscheidung deinerseits auch ein wenig beschleunigen, wenn ich dir sage, dass ich finstere Gestalten in Richtung Minas Tirith habe marschieren sehen."

Valshiya hatte den Eindruck, Legolas wirke irgendwie gehetzt. Er suchte offensichtlich nach Antworten in den Gesichtern seiner Begleiter.

"Wieso muß ich die Entscheidungen treffen?", er blickte Alfiriel an und fuhr dann fort, "Es ist auch deine Heimat, dein Vater, dein Bruder. Warum kannst nicht du zur Abwechslung einmal die Entscheidungen treffen. Ich habe es so satt. Ich habe doch gerade erst einen Krieg hinter mir. Warum kann nicht endlich wirklich Frieden sein? Beim Licht der Valar, ich weiß nicht, was ich tun soll."

Alfiriel senkte betroffen den Blick bevor sie erwiderte:

"Du bist nun einmal der älteste Sohn. Ich bin es nicht gewohnt Entscheidungen zu treffen," sie schluckte hart, "nicht einmal für mich selbst."

Legolas überging die Bemerkung seiner Schwester, wahrscheinlich hatte er sie nicht einmal gehört, doch Tarawyn hatte den Kummer in Alfiriels Stimme sehr wohl vernommen. Er war sich allerdings nicht ganz sicher, was sie damit meinte.

Valshiya, die sich bis zu diesem Zeitpunkt im Hintergrund gehalten hatte - immerhin glaubte sie nicht, dass es notwendig war, sich an solchen schwerwiegenden Entscheidungen zu beteiligen - trat an Legolas Seite und meinte:

"Was immer du dich entscheidest zu tun, es wird schon richtig sein und ich werde an deiner Seite stehen."

Legolas wandte sich ihr zu und legte ihr die Hände auf die Schultern.

"Nein, gerade du wirst mich nicht begleiten. Einer solchen Gefahr werde ich dich auf gar keinen Fall aussetzen. Wenn es zum Schlimmsten kommt, das heißt, wenn es wirklich zu einer Auseinandersetzung zwischen mir und meinem Bruder kommt, dann will ich dich weit, weit weg von Eryn Lasgalen wissen. Dionoril sollte dich am besten nach Imladris begleiten."

Valshiya blickte ihn ungläubig und mit großen Augen an. Sie war davon ausgegangen, dass er ihr gestatten würde, ihn zu begleiten. Hatten sie denn nicht eigentlich ein Abkommen geschlossen? Doch dann erinnerte sie sich, dass sie schon einmal versucht hatte, mit ihm über dieses Thema zu sprechen. Nachdem er sich allerdings bereit erklärt hatte, ihr Kampfunterricht zu geben, war sie eigentlich davon ausgegangen, dass sie ihn wirklich nach Eryn Lasgalen begleiten würde.

"Schau mich nicht so an! Du wirst bei Elrond sicherer sein. Wenn ich nicht innerhalb von zehn Tagen nach deiner Ankunft in Imladris ebenfalls dort ankomme sorge dafür, das Elrond mit seinen Kriegern nach Minas Tirith aufbricht, um Aragorn zu helfen. Er wird alle Hilfe brauchen, die er kriegen kann, denn er ahnt ja noch gar nichts von der Gefahr... und ich werde dann vielleicht selbst nicht mehr in der Lage sein, ihn zu warnen."

Der Blick in seinen Augen ließ keinen Widerspruch zu. Valshiyas Augen blitzten und ihr Kinn schnellte trotzig vor. Sie kam sich abgeschoben vor, dabei hatte sie auf eine Gelegenheit gehofft, ihm endlich beweisen zu können, dass sie kein verzärteltes Mädchen mehr war, das um jeden Preis beschützt werden mußte.

Alfiriel stand etwas abseits und grübelte. Sollte sie Legolas vorschlagen Dionoril und Valshiya zu begleiten? Wenn sie mit ihnen nach Bruchtal aufbrach, bestand die Möglichkeit, Elladan wiederzusehen. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie sehnte sich nach einem Wiedersehen mit Elladan. Andererseits hegte sie immer noch die Hoffnung, dass sie vielleicht die Macht besaß um Finlass von seinem falschen Weg abzubringen. Er war ihr Bruder und sie wollte nicht, dass es zu einer Tragödie kam. Sie glaubte einfach nicht, dass er die treibende Kraft hinter all dem war. Im übrigen, auch wenn sie versuchte, sich das Gegenteil immer wieder einzureden, traute sie Tarawyn immer noch nicht. Alles an ihm sprach dafür, dass er loyal zu seinem Prinzen stehen würde. Dennoch begann die empfindliche Haut in ihrem Nacken an zu kribbeln und die feinen Härchen stellten sich auf, wenn sie ihn anschaute. Nein, so gerne sie Elladan wiedersehen würde, so sehr wollte sie auch ihren Bruder nicht im Stich lassen, weder den einen, noch den anderen. Vielleicht würde es eine Möglichkeit geben... vielleicht.

Tarawyn legte noch einige Holzscheite in das Feuer und meinte:

"Also werden wir uns auf den Weg nach Yst Tewair machen und dort für Ordnung sorgen. Ich kann es kaum erwarten, Finlass gegenüberzustehen und ihm zu sagen, dass ich mich nicht an seinem Mordkomplott beteiligen wollte."

Dionoril erklärte:

"Es wäre allerdings besser, wenn ihr einen kleinen Umweg macht und euch Yst Tewair von Norden nähert und nicht von Süden, wie es Finlass wohl erwarten würde. Ich muß davon ausgehen, dass er mein Fehlen vielleicht schon bemerkt hat und den Grund meiner Abreise auch weiß. Dann wird er damit rechnen, dass du kommst, um deinen Vater zu befreien."

Legolas nickte. Er nahm einen kleinen Ast zur Hand, glätte mit der anderen Hand die Erde vor der Feuerstelle und zeichnete dann mit dem Ast den Weg auf den Boden, den er vorgesehen hatte. Dabei erklärte er:

"Wir werden also am westlichen Rand des Düsterwaldes, zwischen dem Wald und dem Nebelgebirge, bis zu seiner nördlichen Grenze gehen und dann von dort aus südlich auf Yst-Tewair zumarschieren... marschieren, ich wünschte, ich hätte eine Armee mit der ich marschieren könnte. Aber so wie es aussieht, müssen wir unsere Armee wohl vor Ort aufstellen."

Dionoril nahm Legolas den Ast aus der Hand und nahm ein paar Veränderungen an der geplanten Route vor, wobei ihm Legolas aufmerksam zuschaute.

"Nun, es wird einige geben, die sich auch bereitwillig anschließen werden, sobald ihr Yst Tewair erreicht habt. Allerdings müssen alle Aktionen möglichst ohne Aufsehen durchgeführt werden. Finlass darf bis zum Ende nicht erfahren, dass sich ein Aufstand gegen ihn zusammenbraut. Wirst du das schaffen?"

Legolas ging in sich. Offensichtlich mußte er diese Frage zunächst im Stillen für sich selbst beantworten. Dann legte er seinem Onkel eine Hand auf die Schulter und erwiderte:

"Ich denke schon. Immerhin habe ich einen sehr guten Lehrmeister gehabt."

Wortlos bat er Dionoril, sich mit ihm ein Stück von den anderen zu entfernen. Neugier lag im Blick des älteren Elben, was sein Neffe ihm wohl zu sagen hatte.

"Dionoril, ich möchte keine Sekunde zögern. Tarawyn, Alfiriel und ich werden sofort nach Eryn Lasgalen aufbrechen. Bitte achte gut auf Valshiya. Laß auf gar keinen Fall zu, dass sie mir folgt. Ich habe so etwas in ihren Augen gesehen. Sie ist müde und wird heute Nacht schlafen. Vergiß nicht, sie ist eine Halbelbe. Sobald sie schläft, werden wir aufbrechen. Das wird mir einen... tränenreichen Abschied ersparen."

Dionoril lachte leise:

"Na Ilúvatar[1], das Mädchen ist ja wirklich in dich verliebt. Es ist kaum zu glauben. Wie steht es mit dir?"

Legolas blickte seinen Onkel einen Moment verständnislos an. Dann fiel ihm ein, dass Dionoril selbst mehr als einmal "verliebt" gewesen war. Vollkommen gegen die Natur der Elben hatte der stattliche Elb mehr als einmal seine Gefährtin gewechselt. Die Frauen, sowohl die menschlichen als auch die elbischen teilten nur zu gerne mit ihm das Lager. Offensichtlich zog er die Möglichkeit in Erwägung, dass Legolas ihm in dieser Eigenart nachschlagen könnte.

Legolas hielt Dionorils Blick stand und mit aller Ernsthaftigkeit, die er in seine Stimme legen konnte, sagte er:

"Ja, ich liebe sie. Ich liebe sie und ich werde niemals eine andere lieben. Wenn dies alles zu einem guten Ende gekommen ist, dann werde ich sie zu meiner Gemahlin nehmen, egal, was Vater sagt."

Dionoril wollte sich gerade mit einem Schulterzucken abwenden, doch Legolas hielt ihn an der Schulter fest und bat mit sorgenvoller Stimme:

"Dionoril! Sie ist stur... bei Varda und ihren Sterne, das ist sie und sie ist stolz! Sie wird mit Sicherheit versuchen, dir zu entwischen, um mir zu folgen. Das mußt du um jeden Preis verhindern. Ich will nicht das, ihr etwas geschieht."

Dionoril blickte in die Augen seines Neffen. Mit einem Mal war alles schelmische aus seinem Gesicht verschwunden und wurde durch eine nachdenkliche Ernsthaftigkeit ersetzt. Ihm war bewußt, wie ernst Legolas es mit Valshiya meinte und er würde sich alle Mühe geben, den jungen Prinzen nicht zu enttäuschen.

"Anírelye ve[2]", sagte Dionoril und ließ durch seine Mimik und seine Gestik keinen Zweifel daran, wie ernst ihm diese Zusage war. ----------------------- [1] Na Ilúvatar = Beim Allvater [2] Anírelye ve = Wie du wünscht (Rekonstruktion aus Queny und Sindarin nach dem "Elbischen Wörterbuch", erschienen 2003 im Klett Cotta-Verlag)