Schattenfell

Die letzte Woche war hart. Draco und Raja verbrachten elend viel Zeit allein, doch wenn Harry dabei war, fühlte er sich ausgeschlossen, da er den beiden in Okklumentik hoffnungslos unterlegen war. Deshalb kümmerte der Gryffindor sich um seine ziemlich rückständigen Hausaufgaben oder ging alleine spazieren. Mit Ron und Hermine hielt er es einfach nicht aus, denn die beiden waren ein Bild des glücklichen Paares, das er mit Draco gerne gewesen wäre. Außerdem konnte er ja schlecht als Begründung für seine schlechte Laune angeben, dass er den Blonden vermisste. So wartete er ab, und zählte die Stunden, die noch bis zu den Ferien verblieben waren. Es wurden immer weniger.

Doch die beiden Slytherins waren guter Hoffnung, dass ihr Training zumindestens einigen Erfolg haben würde. Keiner wusste jedoch, wie stark Voldemort inzwischen war, so war alles Überlegen umsonst: Sie mussten es abwarten.

Snape ging den dreien wo er nur konnte aus dem Weg, was Harry nicht einmal unangenehm fand. Er wunderte sich zwar, über den stummen Blickkontakt, die der Lehrer und Raja während der wenigen gemeinsamen Unterrichts-Stunden noch führten, war aber zu sehr mit seiner steigenden Sorge um Draco beschäftigt, als dass es ihn wirklich interessiert hätte.

Schließlich kam der Tag der Abreise. Die beiden Jungen hatten die letzten Stunden zusammen im Turm verbracht. Es war eine aufregende Nacht gewesen, die jedoch schon im Schatten der Trennung stand und so bei Harry in heißen Tränen endete, die er lautlos in Dracos Schoss weinte.

Mit geröteten Augen stand er am nächsten Tag neben Raja, die seinen Arm festhielt, um zu verhindern, dass er im letzten Moment doch noch versuchte den blonden Slytherin aufzuhalten. Dieser stieg mit Snape zusammen gerade in einer Kutsche, die Dracos Vater geschickte hatte, um nach Malfoy Manor reisen. „Stilvoll geht die Welt zugrunde.", dachte er grimmig und folgte dem Gefährt mit den Augen, bis es nicht mehr zu sehen war.

„Ist ein komisches Gefühl ihn gehen zu lassen, nicht wahr?", hörte er Raja neben sich sagen.

Er war nicht fähig die Frage des Mädchens zu beantworten. Nach einiger Zeit gab er sich jedoch einen Ruck und meinte leise: „Es ist nicht komisch. Es ist schrecklich."

„Komm!", flüsterte sie eindringlich. „Die andere schauen schon. Ich denke nicht, dass es klug ist, hier noch länger rumzutrödeln."

Ohne ein Wort zu sagen, gingen die beiden eine Weile spazieren, bis sei den großen See fast umrundet hatten. Als sie an einem etwas größeren Bachlauf ankamen, stutzte Harry. Der Wasserlauf war eisfrei, obwohl es seit Wochen immer wieder schneite. Fasziniert von dem rauschenden Nass, wollte er näher an das Wasser herangehen, doch Raja hielt ihn zurück.

„Siehst du denn nicht, wo wir sind? Wenn du nicht doch noch nähere Bekanntschaft mit dem Kelpie machen willst, solltest du die lieber vom Ufer fern halten. Sie werden von Tränen ebenso angelockt, wie von Blut.", erklärte sie ihm und ging stattdessen auf eine kleine Brücke zu, die über das Wasser führte. In der Mitte blieb sie stehen und sah hinunter. „Aber er wird sowieso wissen, dass wir hier sind.", meinte sie dann gleichgültig und starrte in die Tiefe. Harry war nie aufgefallen, wie tief dieser Bach zu sein schien. Ein Schatten bewegte sich in den Fluten und schließlich tauchte der Kopf des Wassergeistes aus dem Wasser.

„Meisterin Raja, welch eine Freude euch zu sehen.", schnurrte die samtige Stimme des Wesens. „Habt ihr mir wieder etwas mitgebracht, um mich zu erfreuen. Euren Begleiter vielleicht?"Hoffnungsvoll richteten sich die gierigen Augen des Wesens auf Harry, der das Gefühl hatte, auf einmal keine Luft mehr zu bekommen.

„Seid still, Bocca. Ihr wisst, dass es nicht so ist.", gab Raja frostig zurück. „Ihr werdet niemals einen meiner Freunde von mir bekommen, egal, was Ihr mir dafür anbietest."

„Ich würde auch einen eurer Feinde nehmen, aber wenn ihr nicht wollt...", rief der Geist, nun in der Form des schönen jungen Mannes. „Dann kommt eine Runde mit mir schwimmen!"

Doch das Mädchen lachte nur kurz auf: „Ihr werdet es wohl nie aufgeben, was Bocca?"

„Nicht so lange ich noch so einsam sein muss.", antwortete das Wasserpferd und ließ sich wieder in die Tiefe gleiten.

„Was will denn das Kelpie eigentlich mit einem Freund, wie es sagt, wenn es ihn doch sowieso gleich wieder ertränken würde?", fragte Harry immer noch etwas benebelt von der Wirkung des magischen Wesens.

Raja sah ihn aus traurigen Augen an und seufzte. „Es ergötzt sich an den Todesqualen der Menschen. Ihr Leid bereitet den Kelpies Vergnügen. Da sie selbst unsterblich sind, empfinden sie eine große Faszination für den Tod. Die Agonie eines sterbenden Wesens ist nur ein Spiel für sie."

Harry sah immer noch in das schnellfließende Wasser und flüsterte: „Ich habe Angst, dass Draco stirbt. Voldemort ist genauso wie dieses Kelpie. Er empfindet Freude an dem Leid anderer. Ich wünschte, ich könnte ihn aufhalten... Ich liebe Draco."

Raja musterte ihn ernst. „Würdest du für ihn töten?"

Harry überlegte. Er wollte niemanden umbringen. Auch Voldemort nicht. Doch der würde nicht einfach aus lauter Nächstenliebe von seinem Plan die Welt zu unterwerfen abweichen, weil Harry ihn darum bat. Doch er war sich nicht sicher, ob er es wirklich tun konnte. Er hatte es schon einmal versucht und nicht geschafft. Die Chance, dass er selbst dabei das Leben ließ, war ungleich größer.

„Ich weiß es nicht.", seufzte er und setzte ihren Weg langsam fort. „Ist es eine gute Tat, jemanden zu töten, weil er jemand anderen umgebracht hat? Brächte das den, der tot ist, zurück?"

„Wie sieht es aus, wenn du dich verteidigen müsstest? Oder wenn du andere dadurch retten könntest, dass du es tust?", fragte das dunkelhaarige Mädchen ihn und deutete dann auf einen Weg im Wald um ihm zu zeigen, dass sie dort entlang gehen wollte. Er änderte die Richtung und sie gingen nun wieder schweigend unter den verschneiten Bäumen hindurch.

„Ich weiß es nicht.", antwortete Harry erneut. „Ich weiß, dass ich derjenige bin, der Voldemort töten wird, oder er mich. Aber als ich ihm das letzte Mal begegnete, war ich so voller Wut wegen Sirius Tod, aber ich habe es trotzdem nicht geschafft. Ich wollte nicht, dass noch jemand stirbt. Selbst Voldemort nicht, obwohl ich wollte, dass es endlich vorbei ist. Dass er mich endlich in Ruhe lässt."Er verstummte als er merkte, wie sich das anhörte. Das war so unlogisch.

Nein ist es nicht!", hörte eine leise Stimme in seinem Kopf. Raja nahm seine Hand. „Du darfst Wut nicht mit Trauer verwechseln. Trauer ist etwas, dass sich in sich selbst zurückzieht oder den Weg nach draußen sucht. Etwas, dass dich stärker macht, indem es dich verlässt. Wut kann sich aus sich selber heraus in Stärke verwandeln und dich nach vorne tragen. Aber beides kann dich ebenso von innen heraus zerstören, wenn du nicht lernst, damit umzugehen."

Laut sagte sie: „Ich zeige dir mal was. Vielleicht wirst du es dann verstehen."Sie gingen weiter in den Wald hinein und kamen schließlich bei dem Gatter an, in dem der letzte von Hagrids Hippogreifen alleine seine Runden zog.

Das riesige, schwarze Tier streifte unruhig durch den Schnee, sein Schweif peitschte von Seite zu Seite und es stieß immer wieder heisere Schreie aus, als versuche es seine verlorene Familie wieder zu sich zu rufen. Als es Harry und Raja bemerkte blieb es stehen und musterte die Ankömmlinge misstrauisch aus den scharfen Adleraugen. Die junge Frau stoppte aber nicht an dem Zaun, sondern schwang sich mit einem eleganten Sprung darüber hinweg und ging ruhig auf das Fabelwesen zu. Kurz bevor sie es erreichte, deutete sie eine kleine Verbeugung an, die der mächtige Hippogreif zu Harrys Erstaunen sofort erwiderte. Sie tätschelte den gefiederten Hals und winkte Harry näher zu kommen. Vorsichtig verbeugte auch er sich und der Vogelkopf ruckte kurz bestätigend nach vorne. Aufatmend kam der Gryffindor näher.

Er hatte Schattenfell ja schon einmal gesehen, doch da hatte seine Aufmerksamkeit eher seinem Nachwuchs gegolten Außerdem war es fast dunkel gewesen. Jetzt sah er jedoch, dass das Tier tatsächlich ein ganzes Stück größer war als Seidenschnabel, der jetzt irgendwo mit Rons Bruder in Rumänien war. Kluge Augen sahen ihn an. Der scharfe Schnabel und die rasiermesserscharfen Krallen schienen die perfekten Mordinstrumente zu sein und doch nichts anderes als die natürlichen Waffen gegen die Gefahren des Lebens in der Wildnis.

Lächelnd begriff Harry, dass Raja ihm auch diese Gedanken in den Kopf gesandt hatte. Sie ließ den Hippogreif in die Knie gehen und sprang auf seinem breiten Rücken. Harry zögerte, doch dann ließ er sich von dem Mädchen hinaufhelfen. Als er sicher hinter ihr saß, hob er beide Daumen nach oben. Augenblicke später erhoben sie sich auch schon in die Luft.

Die mächtigen Flügel spannten sich im eiskalten Wind und Harry wünschte sich, er hätte noch etwas von dem Trank, den Raja ihm das letzte Mal gegeben hatte. Doch dann vergaß er die Kälte um sich herum, rückte näher an das Mädchen vor ihm und widmete seine gesamte Aufmerksamkeit der unbeschreiblich schönen, verschneiten Landschaft unter ihnen.

Raja ließ den Hippogreif zunächst eine Runde über dem riesigen Schloss drehen, wo er nicht wenige Schüler erkennen konnte, die zu ihnen heraufsahen und mit dem Finger auf sie zeigten. Doch dann richtete sich ihr Weg höher hinauf in Richtung der fernen Berggipfel. Schattenfell begann schneller zu fliegen und die Winterluft schnitt Harry mit Eisfingern ins Gesicht. Die einzelnen Wipfel der Bäume waren fast nicht mehr auseinanderzuhalten, als sie über sie hinwegrasten. Und doch hatte Harry das Gefühl, dass es dem Tier überhaupt nichts ausmachte, sondern es im Gegenteil diesen Flug genoss und seine Muskeln streckte, um noch schneller zu werden. Berauscht schloss Harry die Augen und öffnete den Mund zu einem Schrei, den der eisige Sturm ihm sofort vom Mund riss und ungehört hinter ihm verhallen ließ. Gerade als er sich wünschte doch Handschuhe angezogen zu haben, ergriff Raja seine Hand und unglaubliche Empfindungen überfluteten ihn.

Er saß nicht mehr auf dem Hippogreifen. Er war der Hippogreif. Stolz reckte er seine gewaltigen Schwingen, nicht im Geringsten behindert durch die kleinen Menschen, die in seinem Nackengefieder hockten. Er bemerkte Dinge, die er vorher nicht wahrgenommen hatte. Die verschiedenen Strömungen der Luft, die Aufwinde, die er nutzte um noch höher hinauszukommen, die dünnere Luft, die seine riesigen Lungenflügel wie Eiswasser durchströmten und das Muster der Landschaft, die seine Augen wieder in klare Einzelheiten trennten. Das Pulsieren von Leben, das den Wald unter ihm durchströmte und der nagende Hunger, der sich durch seinen Bauch fraß. Dann erblickte er ein Reh. Einsam stand es auf einer weit entfernten Lichtung. Äsend. Gegen den Wind stehend, so dass es ihn nicht kommen hörte oder roch. Seine Flügel stellten sich gegen den Wind und bremsten den rasenden Flug. Er stürzte wie ein Pfeil zu Boden, trotzdem darauf bedacht, die Fracht auf seinem Rücken nicht zu verlieren. Seine scharfen Krallen streckten sich vor und gruben sich in das weiche Fleisch, zermalmten Knochen und der süße Geruch frischen Blutes, ließ seinen Puls hochschnellen. Die Hinterbeine strauchelten kurz, als sie ebenfalls den Boden berührten, doch der mächtige Schnabel riss bereits gewaltige Brocken aus seiner Beute und verschlang sie gierig. Er schmeckte das Blut und fühlte den Triumph des Sieges heiß in seinen Adern pochen. Er hatte getötet. Getötet um zu überleben. Es war ein gutes Gefühl.

Vorsichtig löste Raja die Verbindung zu dem Geist des Tieres und zog Harry von dem fressenden Tier zurück Als er jetzt sah, was Schattenfell tat, war ihm, als müsse er sich übergeben. All das Blut und die Gedärme, die der schreckliche Schnabel in Sekundenschnelle verschlang. Knochen knackten unheimlich in der sonst stillen Landschaft, als hätte die Natur den Atem angehalten, um nur nicht auch die Aufmerksamkeit des zornigen Raubtieres zu erregen.

Harry drehte sich um und ließ sich in den Schnee sinken. Er merkte das Raja sich neben ihn setzte und ihn ansah. Als er aufblickte hatte die kalte Luft seine Tränen bereits wieder getrocknet.

„Verstehst du jetzt den Unterschied?", fragte sie ruhig. „Man kann töten um Leben zu nehmen, aber man kann auch töten um zu überleben. Beides ist gleich grausam, aber nicht gleich nötig."

Harry nickte.

Er hatte verstanden.

Als Schattenfell das Reh bis auf das letzte Haar verspeist hatte, machten sie sich in der beginnenden Dämmerung auf den Heimweg.