Harrys Entscheidung
Aus der Großen Halle drang fröhlicher Lärm. Die gesamte Schule feierte ausgelassen und wartete sehnsüchtig auf Mitternacht.
Die vier Schüler trafen unten in der Eingangshalle auf den Schulleiter. Auch Professor Dumbledore war in einen dicken Umhang gehüllt und wirkte ernst, aber gefasst. Er musterte jeden der Ankommenden schweigend und verabschiedete sich dann mit einem innigen Händedruck von seiner Kollegin. „Die anderen werden in einiger Zeit eintreffen. Moody und Tonks sind bereits bei Severus im Kerker. Du solltest jedoch erst einmal zurück in die Halle gehen. Wenn du nach deiner Botschaft nicht wieder zurückkehrst, werden vielleicht einige misstrauisch. Wir brauchen keine Schüler in einem Wald voller Todesser. Ich werde die Tür versiegeln, nur für alle Fälle."
Dann wand er lächelnd sich an Draco. „Mister Malfoy, ihr Auftritt, bitte. Überzeugen Sie mich davon, dass ich Ihnen in dieser kalten Nacht in den Verbotenen Wald folgen muss."
Alle fünf lachten nun und die Anspannung legte sich ein bisschen und wich nun der angebrachten Vorsicht. Harry fühlte, dass seine Hände leicht zitterten. Wie würde das alles ausgehen? Würde Voldemort wirklich auftauchen? Und was würde er tun? Würde er wirklich in der Lage sein, den anderen Zauberer zu töten?
Doch als er von Ron und Hermine in die Mitte genommen wurde, überkam ihn ein warmes Gefühl der Zuneigung und er war wirklich froh, nicht alleine zu sein. Dann traten sie hinaus in die Nacht und strebten zügig auf den Waldrand zu. Da der Mond groß und rund am Himmel stand, konnten sie den Weg relativ gut erkennen. Draco gab sich alle Mühe mit dem Schulleiter den Eindruck zu erwecken, dass er ihn zu einem verunglückten Kameraden bringen wollte, während er immer wieder hämische Bemerkungen fallen ließ, was das Mitkommen der anderen Gryffindors anging. Und auch wenn es nur gespielt war, so sah Harry doch, dass sich Ron ziemlich aufregte, als der Slytherin in zum wiederholten Male „Wiesel"nannte.
Leise zischte er Harry zu: „Ich jag ihm einen Fluch auf den Hals, sobald das Ganze begonnen hat. Darf ich, bitte?"
Als Harry widersprechen wollte, mischte sich Hermine ein. „Das ist vielleicht gar nicht so eine schlechte Idee. Wenn wir Draco aus der Schusslinie bringen wollen, damit er nicht gegen uns kämpfen muss, sollten wir ihn wirklich angreifen, bevor noch Schlimmeres passiert."
Da das einleuchtend war, sagte Harry nichts und sie drangen tiefer in den Wald ein. Dumbledore hielt dem blonden Jungen gerade eine Standpauke darüber, dass er sich mit seinem Mitschüler so weit von der Schule entfernt hatte, da traten sie auf eine Lichtung und hielten in der Mitte an.
„Ich glaube, ich sehe mal kurz alleine nach, welcher der richtige Weg war.", sagte der Slytherin so eben vernehmlich und schlug sich ins Gebüsch. Die drei anderen Schüler waren alleine mit ihrem Schulleiter. Unwillkürlich spannte Harry alle Muskeln an und verkrampfte die Hand um seinen Zauberstab.
Dann traten die ersten vermummten Gestalten aus dem Dickicht. Ron atmete hörbar ein, als erkennbar wurde, wie viele es waren. Bald waren sie von etwa zwanzig Gestalten umringt. Alle Gesichte sorgsam hinter den leblosen Masken versteckt. Die leuchtenden Zauberstäbe erhoben.
Eine jedoch trug keine Maske: Raja. Das Mädchen wirkte gelassen, fast gleichgültig. Sie hob die Hände und warf zwei Lichtkugeln in die Luft, die anfingen die Lichtung in weiches, gelbes und somit merkwürdig unpassendes Licht zu hüllen. Ein kaltes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Dann ergriff Professor Dumbledore zuerst das Wort. „Was wollt ihr hier? Ihr habt hier nichts verloren. Wo ist der junge Mister Malfoy?"
Einer der Todesser trat vor. „Mein Sohn ist sicher wieder in den Schoß unserer Gemeinschaft zurückgekehrt, nachdem er seinen Auftrag erfüllt hat."Er wand sich an eine Gestalt neben sich. „Nicht wahr, Draco, du bist bei uns gut aufgehoben. Aber warum hast du Potter mitgebracht?"
Der junge Mann senkte kurz den Kopf. „Es tut mir leid, Vater. Du kennst doch seinen grässlichen Hang zu dummem Heldengetue. Und Wiesel und Schlammblut mussten natürlich hinter dem Narbengesicht hinterher, wie treue Hündchen. Selber denken ist ja nicht gerade ihre Stärke."
In das aufkommende Gelächter der Todesser mischte sich mit einem Male ein heiserer Aufschrei aus Rons Kehle. „Dafür bezahlst du, Frettchen-Gesicht."Er hob seinen Zauberstab und brüllte: „Stupor!"der rote Blitz löste sich aus der Spitze und traf den ihm gegenüberstehenden Jungen mitten in die Brust. Noch während er zu Boden sank, brach auf der Lichtung die Hölle los.
Das Licht der beiden leuchtenden Kugeln verlosch mit einem Mal und die Flüche begannen durch die Nacht zu fliegen. Harry hatte sich genauso wie seine Freunde im ersten Moment auf den Boden geworfen, so dass einige der abgeschickten Zauber zu ihrem Glück die eigenen Reihen der Todesser trafen. Doch die Freude hielt nicht lange. Die vermummten Gegner kamen nun näher und versuchten ihre Opfer mit gezielteren Schüssen zu treffen. Den „Aveda-Kedavra"wagte jedoch offensichtlich aufgrund der Dunkelheit nicht auszusenden.
„Protego!", schrie Harry, als einer der Gegner sich auf ihn stürzte und versuchte ihm eine Ganzkörper-Klammer zu verpassen. Offensichtlich versuchten die Todesser ihn und seine Freunde lebend zu bekommen. Ron sah sich mit einem Mal einer riesigen Schlange gegenüber, doch ein schnelles Eingreifen von Hermine rettete ihn. Die hatte jedoch ihre Aufmerksamkeit schleifen lassen und wurde von einem der Todesser einfach mit einem Schlag in den Nacken zu Boden geworfen und dann schnell gefesselt. Während Harry noch gequält aufstöhnte, weil ihn ein mehr oder weniger gut gezielter Cruciatus traf und seine Welt in einem höllischen Schmerz versinken ließ, nahm er am Rande wahr, dass auch Ron zu Boden ging.
Einzig Dumbledore stand noch und wehrte einen Fluch nach dem anderen ab. Doch dann stand er mit einem Mal Raja gegen über und als sich unzählige Seile um den Körper des Gryffindor wanden, sah er, wie das Mädchen nach der Hand des weißhaarigen Schulleiters griff und diese zu leuchten begann.
Die Zeit schien sich mit einem Male zu dehnen, als er in dem schrecklichen Licht ihr Gesicht sah. Es war eine scheußliche Fratze. Freude an den Schmerzen des alten Mannes vor ihr stand darin. Harry erstarrte noch mehr, als es ihn die Fesseln sowieso schon zwangen zu tun. Dumbledore ging in die Knie, währen das Mädchen ihm offensichtlich immer noch die magische Energie seines Körpers entzog. Doch dann ließ sie ihn los und hob die Hand.
Wie auf ein erwartetes Zeichen ließen die verbleibenden Todesser von ihren Opfern ab und traten ein paar Schritte zurück. Die drei Schüler kämpften sich in ihren Fesseln jeder in eine halbsitzende Position hoch. Verzweifelte robbte sich Harry zu dem Platz hin, an dem sein Schulleiter am Boden lag. Der atmetet schwer, aber er lebte noch.
„Professor!", flüsterte Harry verzweifelt und Tränen stiegen ihm in die Augen. „Sagen Sie etwas. Geht es Ihnen gut?"
Doch eine kalte, hohe Stimme antwortet anstatt der des alten Zauberers. „Noch geht es ihm vielleicht gut, Harry. Aber dieser Zustand wird sicher nicht mehr allzu lange andauern."Voldemort trat aus dem Kreis seiner Jünger hervor und diese wichen noch weiter zurück. Raja jedoch trat vor und sagte mit emotionsloser Stimme. „Ich hoffe, wir haben alles zu Eurer Zufriedenheit erledigt, Herr."
Die roten Augen des bleichen Zauberers leuchten auf, als sein Blick auf Harry und seine Freunde fiel. „Und ihr habt sogar mehr getan, als ich erhofft hatte. Harry und seine kleinen Freunde habt ihr mir gleich dazu geliefert. Ich bin sehr zufrieden."
Dann heftete er seinen Blick wieder auf den Schulleiter. „Nun alter Mann, wer lacht nun als Letzter? Hattest du nicht bereits einmal Gelegenheit, mich aufzuhalten? Du hättest sie nutzen sollen, Dumbledore. Jetzt wirst du sterben."Die letzten Worte hatte er mit einem derart hasserfüllten Ton gesprochen, dass er Harry mehr als sonst an eine große Schlange erinnerte.
Doch der Weißhaarige antwortete verhältnismäßig gelassen: „Tom, ich denke, du hast es immer noch nicht verstanden. Ich fürchte den Tod nicht und auch nicht das, was danach kommt. Doch ich glaube, ich werde dir diese Sache noch hundertmal erklären könne, du wirst es nicht verstehen."
„Du hast jetzt noch gut lachen, alter Mann. Aber sieh dich an, du kriechst bereits vor mir auf dem Boden. Dein Leben ist schon fast vorbei. Deine Kraft reicht nicht aus, um mich jetzt noch zu besiegen.", knurrte Voldemort.
Dumbledore richtete sich auf und sah dem Anderen direkt ins Gesicht. „Ja, du hast Recht.", sagte er nachdenklich. „Meine Kraft wird dazu nicht ausreichen. Aber vielleicht ihre."
Entsetzen schien sich auf dem bleichen Gesicht Voldemorts auszubreiten, als er herumwirbelte und sich auf die Gestalt stürzen wollte, die direkt hinter ihm stand.
Aber Raja war schneller.
Blitzschnell griff sie nach den Händen des Dunklen Lords und dasselbe Schauspiel wie vorhin nahm seinen Lauf. Doch Voldemort wehrte sich mit aller Kraft. Er versuchte seine Hände zu befreien, durch die ihn seine magischen Kräfte mehr und mehr verließen. Er heulte und tobte. Er schrie seine Anhänger an, ihm zu Hilfe zu eilen, doch die hatten sich kaum ein paar Schritte bewegt, als die anderen Mitglieder des Phönix-Ordens aus dem dichten Unterholz brachen und sie wieder zurücktrieben. Als sie sich dieser Zahl an Gegner gegenüber sahen, drehten sich die meisten einfach um und suchten ihr Heil in der Flucht. Ihre gefallenen Kameraden ließen sie hinter sich zurück.
Doch das dunkelhaarige Mädchen hielt Voldemort fest. Blitze schienen aus ihren Haaren zu zucken und ihre Augen flackerten in einem kranken Licht, dass Harry Angst machte. Ihr Gegner schien zu stark zu sein. Er spürte, wie seine Fesseln gelöst wurden, als eine Art Energie-Welle von den Kämpfenden ausging. Er fiel und kam wieder auf die Füße.
Voldemorts Schreie waren inzwischen ein unartikuliertes Heulen und Kreischen geworden, das seine Trommelfelle zum Vibrieren brachte.
Dann war es auf einmal vorbei. Der bleiche Zauberer brach in die Knie und seine Laute verstummten plötzlich.
Keuchend riss sich das Mädchen von ihm los, taumelte ein paar Schritte und brach dann zusammen. Harry sprang auf, um zu ihr zu eilen, doch dann sah er, dass Voldemort noch lebte. Wimmernd zog sich die am Boden liegende Gestalt in sich zusammen. Die roten Augen mit den geschlitzten Pupillen sahen Harry flackernd vor Furcht an. Das was von dem Dunklen Lord übrig war, wand sich zitternd vor Harry im Schnee und ließ seinen Blicke immer wieder zu dessen Zauberstab in seiner Hand gleiten.
„Nun mach schon!", drang eine dünne, zittrige Stimme zu ihm empor. „Bring es endlich zu Ende Harry. Das ist es doch, was du willst."
Harry blickte nachdenklich zu seinem Zauberstab und dann auf das Häufleine Elend, dass sich da vor ihm zusammenkrümmte.
Er hob ihn.
Er dachte an seinen Flug auf dem Hippogreifen.
Er versuchte die grenzenlose, gerechte Kraft und Wut zu finde, die ihm helfen würde, Voldemort endgültig zu vernichten.Er öffnete den Mund, um die tödliche Formel zu sprechen.
Und dann schloss er ihn wieder und ließ den Stab sinken.
Er konnte es nicht.
Er wollte nicht töten.
Langsam trat er noch einen Schritt auf die am Boden liegende Kreatur zu und sagte nur: „Geh! Verschwinde von hier und komm nie wieder zurück. Es werden sich immer wieder Leute gegen dich stellen und du wirst niemals gewinnen. Denn wir haben etwas, dass uns stark macht. Wir haben Freunde."
Dann drehte er sich um und ging zu Rajas leblosem Körper hinüber und sah nach, ob sie noch atmete. Er hörte die Überreste Voldemorts hinter sich etwas kreischen, doch es interessierte ihn nicht mehr. Ein leises Plopp verriet ihm, dass der Herr der Todesser es wohl doch geschaffte hatte, mit letzter Energie zu disapparieren. Später sollte ihm eine Diskussion mit Hermine über diesen Vorfall zeigen, dass der Kampf von Voldemort und Raja wohl einen Loch in den Schutzschirm um Hogwarts gerissen hatte. Doch das war ihm jetzt egal. Er hatte Wichtigeres zu tun.
Er sah aus den Augenwinkeln, wie eine blonde Gestalt ebenfalls auf die Stelle zurannte, an der Raja im zertrampelten Schnee lag. Er und Draco kamen gleichzeitig an. Und noch jemand kniete sich neben die beiden Jungen, als sie das dunkelhaarige Mädchen umdrehten. Snape.
Ungeduldig fühlte er den Puls seiner Schülerin und sagte dann erleichtert: „Sie lebt noch, sie ist nur bewusstlos."
Harry stand auf und machte Platz, damit der Lehrer den leblosen Körper anheben konnte. Ron und Hermine stürzten auf Harry zu und schlossen ihn in die Arme. Als sie sich von ihm lösten, wurden sie von Draco ersetzt, der Harry einen tränenfeuchten Kuss aufdrückte. Erleichtert und doch unfähig ein Wort zu sprechen, drehten sich die vier um. Auch Professor Dumbledore war nun wieder auf den Beinen und lächelte sie trotz des Schweißes, der ihm auf der Stirn zu stehen schien, aufatmend an. „Gott sei Dank, euch ist nichts passiert. Seid ihr verletzt?".
Ron, und Harry verneinten, wurden aber trotzdem zusammen mit Hermine, die eine leichte Platzwunde an der Stirn hatte, auf die Krankenstation geschickt. Auch Draco, der sich bei seinem Sturz den Arm verstaucht hatte, musste mit. Im Vorbeigehen nickten ihnen die anderen Ordens-Mitglieder zu. Sie waren damit beschäftigt, die wenigen verbleibenden Todesser dingfest zu machen. Moody schickte noch ein heiseres „Saubere Arbeit, Potter!"hinter ihnen her, doch Harry war einfach nur müde.
Als Madame Pomfrey ihn und seine drei Freunde gleich zum Dableiben zwang, wehrte er sich nicht und schlief erschöpft fast auf der Stelle ein.
