Kapitel 2
Heimgesucht
Die Arbeit gestern Abend war einfach. Professor Snape hat mich für all seine Trankzutaten Inventarlisten erstellen lassen. Ich sollte daran eigentlich gestern und heute arbeiten, aber da ich schon fertig bin, habe ich heute nichts zu tun.
Gestern mußte die jüngste Weasley bei Snape nachsitzen. Wir waren eine Weile im Zutatenschrank eingesperrt, und etwas äußerst Befremdliches ist passiert: Ich habe ihr erzählt, daß mir nichts daran liegt, ein Todesser zu sein. Nicht in genau diesem Wortlaut. Jedenfalls hat sie sich als Ratgeberin angeboten und gemeint, ich könne ihr meine Probleme erzählen. Niemand muß mich bemitleiden, ich weigere mich, das zuzulassen! Wahrscheinlich will sie meine Gefühle mit mir teilen und so einen Mist. Sie hat mich zum Nachdenken gebracht.
Was wahrscheinlich der Grund dafür ist, daß ich letzte Nacht von ihr geträumt habe. Ich war allein in meinem Schulsprecherzimmer und lag im Bett, als ich von diesem Licht gestört wurde. Ich bin aufgewacht und sah sie am Fußende meines Bettes sitzen. Sie hatte ein weißes Nachthemd an, das ihr bis zu den Waden reichte. Es verstärkte das Rot ihrer Haare. Wie auch immer, da war sie und starrte mich an. Ich verlangte zu wissen, warum sie da war.
„Ich wurde gerufen", war ihre Antwort. Ist das nicht vage jenseits aller Logik und Vernunft?
„Wer hat dich gerufen?" zischte ich.
„Warum mußt du fragen? Nicht alles läßt sich erklären."
„Nun, es muß einen Grund geben, warum ich ausgerechnet dich sehe."
Sie hat mich nur angelächelt … wie ein Kind sein kleines Püppchen. Und dann bin ich aufgewacht.
ooOOoo
Draco Malfoy hatte keinen angenehmen Morgen. Er überlegte und überlegte, bis ihm das Hirn zu den Ohren herauszukommen drohte. Weshalb sah Draco Malfoy die kleine Ginny Weasley im Traum?
Er beobachtete sie durch halb gesenkte Wimpern hindurch. Sie trug ihre Gryffindor–Schulkleidung. Ihr Haar war am Hinterkopf in einem Pferdeschwanz von zehn Zentimeter Länge zusammengefaßt. Keine Accessoires, kein Make-up … Sie sah so schlicht aus. Sicher, die Traum–Ginny hatte auch keine zusätzliche Farbe im Gesicht gehabt, aber ihr Haar war offen wogend gewesen, und es hatte so ausgesehen, als würde sie eine Art Leuchten verströmen. Ginny hätte sich ganz gut zurechtmachen können, wenn sie es nur versucht hätte.
‚Großartig', spöttelte Draco, ‚jetzt findest du die kleine Weasley attraktiv.' Ihm war nicht mehr nach Essen, und er entschloß sich spazierenzugehen, irgendwo hin, weg … weit, weit weg.
„Malfoy", sagte Crabbe, „warte eine Minute." Draco war schon weg.
„Was ist mit ihm?" fragte Goyle. Crabbe zuckte mit den Schultern.
Draco wanderte umher, bis er zwei bekannte Personen auf einer Fensterbank im Flur nahe des Nordturms sitzen sah. Die Schulsprecherin, Hermine Granger, und ihr Freund, der berühmte Harry Potter, genossen zusammen den Morgen.
„So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe
So tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe,
Je mehr auch hab ich: beides ist unendlich …"
Hermine lächelte den Jungen an, der an ihren Lippen hing. Urgh, sie las ihm aus einem Buch vor. Und nicht aus irgendeinem Buch, aus ‚Romeo und Julia'. Sie las die berühmte Balkonszene, direkt nachdem das Paar sich zur Heirat entschlossen hatte.
„Langweilst du dich, Harry?" fragte Hermine.
Harry schüttelte den Kopf und nahm ihre Hand in seine. Er strich langsam seinen Daumen über ihre Fingerknöchel. „Ich höre gern deine Stimme. Es ist beruhigend."
Hätte Draco etwas im Magen gehabt, hätte er sich jetzt übergeben. Er schwor sich, nie wieder Shakespeare zu lesen. Er wandte sich ab und ging Richtung Bibliothek.
Die Bibliothek war nahezu bis auf den letzten Platz besetzt, was für einen Samstag ungewöhnlich war. Alle Plätze in den vorderen Reihen waren belegt, und auch die Seitentische an den Fenstern waren besetzt. Die Benutzer waren größtenteils in rotgoldene Schals gewickelt. Hatte jemand den Gryffindors einen fürchterlichen Aufsatz aufgebrummt? Beinahe hätte es Draco zum Lachen gebracht.
Er fand einen leeren Tisch mit sechs Plätzen am hinteren Ende der Bibliothek, an einer kalten Wand und von Bücherregalen umgeben. Es war ein ziemlich verdeckter Platz. „Perfekt", murmelte er. Das letzte, was er wollte, war, belästigt zu werden … von einem gewissen Rotschopf. Er ließ sich auf den Stuhl am Kopfende fallen.
Wenn man vom Teufel spricht … In dem Moment, als er aufblickte, sah er besagten Rotschopf zwei Plätze entfernt an seinem Tisch sitzen. Sie war vollkommen versunken in das Buch, das sie in der Hand hielt. Sie bemerkte ihren Tischnachbarn nicht. Als Ginny den Kopf hob, sah sie Draco, der sie mit einem tödlichen Blick anfunkelte. Gerade als er gedacht hatte, er wäre davongekommen, tauchte sie auf.
„Überall sonst ist besetzt", erklärte sie.
„Ich weiß!" schnauzte er sie an.
Aber warum saß sie hier bei ihm? Mußte sie ihr Buch wirklich hier lesen? Und warum genoß sie nicht ihren freien Tag? ‚Sie wird noch wie Granger', witzelte er im Stillen. Seine Augen richteten sich auf den Buchrücken. In dünnen Lettern war dort Romeo und Juliazu lesen. Draco rollte mit den Augen. ‚Sogar mehr wie Granger, als ich dachte.'
„Werde ich diesen verdammten Romeo und diese beschissene Julia denn nie loswerden?" fuhr er sie an.
Sie blickte erstaunt zu ihm auf. „Wenn dir mein Literturgeschmack nicht gefällt, dich zwingt niemand hinzusehen."
„Vergiß es", murrte er und stützte das Kinn auf seiner Faust ab.
„Woher kennst du Romeo und Julia? Ich dachte, du meidest alles, was mit Muggeln zu tun hat", fragte Ginny.
Er sah sie einen Moment an, bevor er die Augen abwandte und antwortete: „Meine Mutter."
Sie konnte ihn nicht ganz verstehen, daher rückte sie auf den Platz direkt neben ihm vor. „Wie bitte?"
„Meine Mutter hat mir vorgelesen, als ich klein war: Gedichte, Sonette, Theaterstücke – von Zauberern und auch von Muggeln. Sie hat damit aufgehört, als ich ungefähr acht war."
„Weshalb?" fragte sie, aber der Blick, den er ihr zuwarf, sagte ihr, sie sollte ihn besser nicht drängen. Sie konnte nur vermuten, warum Dinge in seinem Leben geschahen: Lucius, sein Vater.
„Hat sie die Bücher noch?"
„Nein", gab er zu, „ich hab sie. Ich nehm sie mit zur Schule … und lese sie, wenn ich das Bedürfnis nach intelligenter Gesellschaft habe."
Dank Crabbe und Goyle mußte er er auf diesem Gebiet wohl Mangel leiden. Ginny unterdrückte ein Kichern.
„Also hast du das Stück gelesen?"
Draco beugt sich zu ihr und sah ihr in die Augen. Mit leiser Stimme sagte er:
„Zu hoch, zu himmlisch dem Verlangen!
Sie stellt sich unter den Gespielen dar
Als weiße Taube in einer Krähenschar.
Schließt sich der Ganz, so nah ich ihr: ein Drücken
Der zarten Hand soll meine Hand beglücken.
Liebt ich wohl je? Nein, schwör es ab, Gesicht:
Du sahst bis jetzt noch wahre Schönheit nicht …"
Ginny spürte, wie sie rot anlief, als sie erstarrte, in Dracos Blick gefangen. Ihre Umgebung war vollkommen ausgeblendet, sie konnte nur noch seine Stimme hören, als ob er damit etwas in ihr auslöste. Sie war unfähig, sich zu bewegen, als sie sich noch einen Augenblick länger ansahen.
Sie erwachte aus ihrer Trance, als Draco sich wieder aufrecht setzte und von ihr wegrutschte.
„Akt 1, Szene 5, als Romeo Julia beim Festmahl sieht."
Eilig blätterte sie zu der Stelle und fand Romeos Zitat.
„Oh …" Sie schluckte und hoffte, daß die Röte in ihrem Gesicht nicht auffiel. „Du hast ein gutes Gedächtnis."
„Ich hab es schon etwa zehn mal gelesen", sagte er. Obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob er es noch einmal lesen würde, jetzt wo das Traumpaar einen schnulzigen Moment mit einem seiner Lieblingsstücke gehabt hatte.
„Ich selbst hab nur ein paar von Shakespeares Stücken gelesen", sagte Ginny. „Ich hab auch ein bißchen was von Jane Austen gelesen, ich wünschte, sie hätten hier eine bessere Auswahl."
„Wirklich eine Schande, Weasley." Draco stand auf. Er wußte, sie versuchte zu plaudern. Er wußte, daß er schnell gehen mußte. Er begann, sich an seinen Traum zu erinnern.
„Ich heiße Ginny", korrigierte sie ihn.
„Was auch immer", sagte Draco im Gehen über die Schulter. Er warf einen Blick zurück und sah, daß Ginny wieder auf den Tisch hinuntersah. Er verzog innerlich das Gesicht, als sie das Buch zuknallte und sich zurücklehnte.
Das würde ein langes Wochenende werden. ‚Hoffentlich taucht sie nicht wieder aus dem Nirgendwo auf.'
ooOOoo
Aber das tat sie. Ein paar Nächte später hatte Draco erneut einen Traum. Er schien den vorigen fortzusetzen. Sie saß friedlich da, lieblich wie eine Rose, und lächelte ihn an. Sie kroch auf ihn zu und neigte den Kopf zur Seite.
„Machst du dir Sorgen?"
„Du bist immer noch hier?" Draco konnte es nicht fassen. „Werde ich dich jemals loswerden?"
Sie lehnte sich weiter zu ihm vor, ihr roter Pony strich über seine Stirn. Eine Weile saß er starr da und starrte in ihre kaffeefarbenen Augen. Ihr Mund war nur knapp fünf Zentimeter von seinem entfernt, als sie ihn erneute anlächelte.
„Du hast keine Ahnung, oder?"
„Wovon?" Sie wurde langsam lästig.
„Von allem", sagte sie und richtete sich wieder auf. Sie rutschte zur Bettkante und ließ die Beine baumeln.
„Das ist alles?" zischte Draco. „Das ist alles, was du mir zu sagen hast?" Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als sie sich langsam zu ihm umdrehte, dasselbe mädchenhafte Lächeln auf den Lippen.
„Was für Befriedigung begehrst du noch?"
Bevor er eine Miene verziehen konnte, sah er die slytheringrünen Vorhänge seine Himmelbettes. Es war soeben aus seinem Traum erwacht. Er holte tief Luft. Diese Weasley hatte eine seltsame Präsenz in seinen Träumen, wie eine Heimsuchung. Sie wurde wirklich lästig. „Was für Befriedigung begehrst du noch?" wiederholte er leise ihre Worte. Er zerrte die schwarzen Bettlaken von sich und enthüllte dabei seine seidene, waldgrüne Pyjamahose. Bei Kerzenlicht öffnete er seinen Koffer und das Fach gleich unter dem Deckel. Um die zwanzig Taschenbücher lagen dort aufgestapelt vor ihm.
Warum erinnerte ihn dieser Satz an etwas? Weshalb klang er, als hätte er ihn schon mal gehört? Er zog ‚Große Erwartungen' hervor. „Das kann es nicht sein." Er legte es neben sich auf den Boden. ‚Herr der Ringe' … definitiv nicht. Die ‚Canterbury-Erzählungen'? Nein.
Er entschloß sich, durch die Shakespearestücke zu blättern. Er begann mit ‚Mit viel Lärm um nichts' und war zu Hälfte durch ‚Hamlet', als sein Blick auf seine ‚Romeo und Julia'-Ausgabe fiel.
„Das soll wohl ein Scherz sein." Er warf ‚Hamlet' beiseite. Er hob ‚Romeo und Julia' auf und nahm es mit ins Bett. Er schlug den ersten Akt auf und las ihn sorgfältig durch. Seine Augen verengten sich, als er zu einer Zeile in der zweiten Szene des zweiten Akts kam.
Julia: Was für Befriedigung begehrst du noch?
Die Traum-Ginny hatte Julia zitiert. Warum ausgerechnet diese Figur, und warum dieses Stück?
So einzge Lieb aus großem Haß entbrannt …
Draco war übel. Ohne weiter darüber nachzudenken, schlug er das Buch zu, legte es auf seinen Nachttisch und versuchte, noch etwas zu schlafen.
Später entschloß er sich doch aufzubleiben und las das Stück noch einmal.
