Kapitel 3
Belehrt

Ich wußte nicht, daß es so schwer sein würde, Shakespeare zu lesen. Als ich zum ersten Mal ‚Macbeth' gelesen habe, war Percy da, um mir zu helfen. Verstehen ist eine schwierige Herausforderung. Nun ja, Ron könnte mir nicht helfen. Hermine ist zu sehr außer sich, wegen dieses Übungs–UTZs vor Weihnachten, ich will sie nicht belästigen. Und Harry will ich auch nicht behelligen.
Heute hatte ich allerdings eine Idee, wen ich fragen könnte. Es ist verrückt, ich weiß, aber das mußt Du verstehen. Ich kam darauf beim Frühstück in der Großen Halle …

ooOOoo

„Wir müssen die volle Punktzahl erreichen!"

„Mine", seufzte Harry, „wenn wir ununterbrochen so viel lernen, werde ich mich nicht an alles erinnern können."

„Außerdem ist es nur zur Übung", sagte Ron und griff nach einem Muffin. Er bot ihn Ginny an, die neben ihm saß.

„Das wird euch beiden noch leid tun", erwiderte Hermine verstimmt. „Ihr solltet lernen. Das wäre gut für euch."

„Bei dir hört es sich an, als wäre das Medizin, Schulsprecherin", neckte Ron. „Und außerdem haben Harry und ich noch anderes zu tun."

„Wie zum Beispiel?"

„Quidditch natürlich!" verkündete Ron. „Was, wenn ich das mal so sagen darf, wesentlich wichtiger ist als die UTZs! Ihr neuer „Kapitän Malfoy" läßt sie doppelt trainieren", knurrte Ron. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn wir gegen diesen Schwachkopf verlieren würden."

Ginny blickte zu besagtem Schwachkopf hinüber. Sie hörte mir halbem Ohr Ron zu, als sie den Blonden am Slytherin–Tisch sitzend fand. Zu ihrer äußersten Verwunderung waren seine Augen auch auf sie gerichtet. Sie glaubte, sie würde es sich einbilden. Starrte er sie an?

Draco stand auf und verließ die Große Halle. Wußte sie, daß sie ihn im Schlaf verfolgte? Hatte sie bemerkt, daß er versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, sie aber gleichzeitig beobachtete? Hatte sie irgend eine Ahnung, daß ihm sein innerer Kampf nur vier Stunden Schlaf pro Nacht ließ?

Natürlich nicht. Sie fand es merkwürdig, daß er sie anstarrte. Sie setzte ihren Muffin ab und drehte sich zu Ron. Er und Hermine stritten über Prioritäten, mit Harry als Vermittler. Sie war sicher, daß sie es nicht merken würden, also ging sie, auf der Suche nach ihrem „Beobachter".
Es dauerte nicht lange, bis sie ihn gefunden hatte. Sie durchquerte die Halle, die zum Haupteingang führte, als sie an einem Fenster mit Blick auf den See vorbeikam. Sie sah einen schwarzen Fleck inmitten der Szene aus Schnee und gefrorenem See. Sie trat hinaus in die Kälte und wickelte ihren Schal enger um den Hals.
Draco stand etwa auf halber Höhe zwischen dem Schloß und dem See. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben, aber er krümmte sich nicht vor Kälte. Er stand aufrecht und fest und starrte auf den Horizont. Sie sah, wie er seufzte. War er müde? Genervt? Gestreßt? Woran dachte er?

‚Tja, dann werde ich so oder so dran glauben müssen.'

Was war mit ihm passiert? Er hatte immer angegeben, bis er sich den Mund fusselig geredet hatte. Warum war er so still und zurückgezogen geworden? Er war weiterhin mit seinen Begleitern Crabbe und Goyle zusammen, aber die ganze Schule konnte sehen, daß Draco sich verändert hatte. Selbstverständlich hatte er hin und wieder eine abfällige Bemerkung parat, die alle glauben ließ, die Welt sei normal. Aber als Ginny ihn in der Bibliothek angesehen hatte, als er Romeos Verse rezitiert hatte, war keine Bosheit in seinem Blick gewesen. Konnte das alles an seinem Vater liegen? Ginny fiel nur eins ein, was sie tun konnte. Sie ballte eine Handvoll Schnee – und warf ihn nach Draco. Das Schneegeschoß traf ihn von hinten an der Schulter. Er grunzte und drehte sich um.

„Was zum …!" Als er sah, daß es Ginny war, die hinter ihm stand, erstarrte er fast. Sein Blick flog sofort zurück zum Festland. „Was soll das, Weasley?"

„Ich hab dich hier stehen sehen." Würde er zugeben, daß er sie angestarrt hatte, wenn sie ihn darauf ansprach? Vermutlich nicht. Sie bemerkte, daß er sich von ihr abwandte. Sie nahm sich die Freiheit, noch mehr Schnee nach ihm zu werfen.
Er sah ziemlich genervt aus, als er sich den Schnee vom Ärmel klopfte.

„Seh ich für dich wie ein Zielscheibe aus?"

Sie zuckte nur mit den Schultern. Er tat ihr leid. Er mußte sich über so vieles Gedanken machen. Ginny hoffte, er würde etwas lockerer werden. Sie warf mehr.

„Du nervst", brummte er.

„Und du siehst mich nicht an, wenn du mit mir redest." Ginny trat auf ihn zu. „Sind Schneeballschlachten zu kindisch für dich, Draco?" fragte sie, wobei sie seinen Namen in die Länge streckte.

Kurz bevor sie die nächste Ladung werfen konnte, wurde sie von zwei Schneebällen bombardiert. Sie stolperte leicht zurück, als sie sie an der Schulter trafen.

„Ist das alles, was du kannst, Draco? Du wirfst schlechter als Percy!"

Seine Verstimmung mußte sich vergrößert haben. „Paß auf, was du sagst, Weasley."

Ein weiterer Schneeball. „Es heißt „Ginny", Draco!"

„Meine feinen Lippen können so einen schwerfälligen Namen nicht aussprechen!" entschuldigte er und warf zwei große Schneebälle nach ihr.

„Soll das alles sein, Draco?" drängte Ginny. „Das kann ja meine Großmutter besser!"

„Jetzt reicht's!" schrie Draco auf und feuerte eine Salve Schnee auf sie.

Sie quietschte, während sie versuchte, mit Dracos Geschwindigkeit mitzuhalten. Ginny hatte ihn recht schnell eingeholt, es mußte an all dem Training gegen Fred, George und Ron liegen. Nicht lange und Draco und Ginny waren rosa im Gesicht. Beide keuchten. Draco fiel sein Pony ins Gesicht, und die Hälfte von Ginnys Haaren war aus ihrem Haargummi herausgerutscht.

„Gibst du auf?" hauchte sie.

Er antwortete mit einer neuen Attacke. Ginny reagierte ebenso mit mehr Munition. In einem Wirbel aus fliegendem Schnee kam Draco nah genug, um ihre Arme festzuhalten. Ginny quiekte vor Lachen und kugelte sich zusammen, wobei sie fiel und Draco mit sich riß. Sie lag auf dem Rücken und versuchte, Draco mit beiden Händen mit Schnee zu bewerfen, als er sich über sie kauerte und sie mit Schnee überschüttete.
Irgendwann wurde sie schließlich müde und nahm eine Verschnaufpause. Er tat es ihr gleich. Er balancierte auf Händen und Knien über ihr.

„Gibt du jetzt auf?" flüsterte er.

Sie schüttelte den Kopf und schüttelte den Schnee samt Haargummi aus ihren Haaren. Sie stützte sich auf den Ellbogen auf und hob ihren Oberkörper an.

„Gleichstand fürs Erste, Draco."

Er nickte. „In Ordnung, Weas…", er unterbrach sich. „Vir…"

„Ginny!" erschallte Rons Stimme. Beide drehten sich um und sahen Ron in irrem Tempo ungeschickt auf sich zurennen, gefolgt von einem besorgten Harry und Hermine.

„Na großartig", brummte Draco. Er stand auf, gerade als Ron sie erreichte.

Ron faßte Ginny am Arm und half ihr auf die Beine. „Gin, bist du in Ordnung? Hat er dir wehgetan? Hat er dich auch nur berührt?"

„Ron …", begann Ginny.

„Und du!" knurrte Ron an Draco gewandt. „Was zu Hölle hast du mit meiner Schwester gemacht, Malfoy?"

„Das ist, glaub ich, ziemlich offensichtlich, Weasley", erwiderte Draco mit einem süffisanten Grinsen.

„Ich werd deine Lunge rausreißen!" Ron versuchte, sich auf Draco zu stürzen, wurde aber von seinen besten Freunden zurückgehalten.

„Ron, beruhig dich!" befahl Ginny. „Wir hatten nur eine Schneeballschlacht, das ist alles!"

„Ja, Weasley, das ist alles", kicherte Draco. „Ehrlich, was hast du gedacht?" Er warf Ginny noch einen Blick zu, bevor er davonging.

„Ginny", fragte Harry zögerlich, „hast du nach Malfoy gesucht?"

„Eigentlich nicht." Ginny zuckte mit den Schultern. Sollte sie ihnen erzählen, wie sie ihn erwischt hatte, als er sie angestarrt hatte, und wie sie ihm deswegen gefolgt war? Sollte sie sagen, daß sie eine leichte Veränderung in Draco Malfoy bemerkt hatte und jetzt extrem neugierig war?
„Er hat mir letzte Woche beim Nachsitzen das Leben schwer gemacht. Das war die Rache."

Ron hob eine Augenbraue. „Das ist alles?"

„Natürlich. Was sollte sonst noch sein?" Ginny strich sich die Haare hinter die Ohren, sie bemerkte erst jetzt, daß sich ihr Haargummi gelöst hatte. „Könntet ihr mir helfen, mein Haargummi zu suchen?" fragte sie.

ooOOoo

Ginny mußte die Szene dreimal gelesen haben. Sie las noch immer ‚Romeo und Julia'. Sie war bei einer der wichtigsten Szenen: Akt 2, Szene 2, die Balkonszene. Sie wollte jedes Wort verstehen. Sie war jedoch ratlos. Als sie ‚Macbeth' gelesen hatte, hatte Percy ihr alles erklärt und ihr das Lesen noch angenehmer gemacht. Jetzt war alles nur ein Wirrwarr von Poesie. An wen aus ihrem eigenen Haus konnte sie sich in dieser Zeit der Not wenden? Hermine war ziemlich furchterregend, wenn sie im Lernmodus war. Armer Harry, der das ertragen mußte. Ron stand absolut außer Frage. Wen kannte sie, der Shakespeare als Kunst erkennen konnte?
Augenblicklich fiel ihr ein 17jähriger, blonder Slytherin ein, der zufällig Schulsprecher war. Ginny versetzte sich beinah mental einen Faustschlag. Nun, er gab zu, eine Leidenschaft für große Literatur zu haben, darunter auch Shakespeare. Aber er würde unmöglich zustimmen, ihr zu helfen.

So sehr sie auch versuchte, die Idee zu vergessen, beim Abendessen beobachtete sie Draco und wartete auf den richtigen Moment, ihn zu fragen. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, wie ein Falke. Es dauerte nicht lange, bis er es bemerkte. Unbehaglich drehte er sich um, in der Hoffnung, daß sie auf einen Punkt an der Wand hinter ihm blickte. Als er erkannte, daß sie ihn immer noch direkt ansah, stand er auf und ging. Ginny griff sich ihr Buch und folgte ihm.
Sie nahm an, daß er ins Schulsprecherzimmer zurückgekehrt war. Als sie an der ersten Ecke nach rechts bog, fühlte sie etwas an ihrem Arm zupfen. Sie war im Begriff, vor Schreck aufzuschreien, aber das Etwas legte ihr eine Hand über den Mund. Die Angst verschwand aus Ginnys Augen, als sie die Dracos trafen.

„Das letzte, was ich brauche, ist ein Verfolger", sagte er. Er zog seine Hand weg.

„Ich bin nicht hier, um dich zu verfolgen", antwortete Ginny.

„Warum müssen deine Augen dann an mir kleben? Ich weiß, ich bin unerträglich attraktiv …"

„Krieg dich wieder ein." Ginny rollte mit den Augen. „Ich muß nur mit dir reden."

„Worüber?"

„Das hier." Sie zeigte ihm das Buch in ihrer Hand.

Sein Kiefer spannte sich an. „Du willst einen Buchklub eröffnen, und du fängst mit ‚Romeo und Julia' an? 12jährige machen so was."

„Nicht direkt", erwiderte sie. „Ich will, daß du mir beim Übersetzen hilfst, oder besser gesagt, bei der Interpretation einiger Szenen."

„Wieso? Es ist in deiner Sprache."

„Es ist poetische Sprache. Das ist ein Stück im Elisabethanischen Stil … da sind eine Menge Wortspiele, die ich nicht verstehe.

„Und du willst, daß ich meine Zeit damit verschwende, dir zu helfen?" Draco gab ihr Handgelenk frei. „Dein Timing ist fürchterlich. Ich hab Quidditch, meine Pflichten als Schulsprecher, und ich muß für die UTZs lernen."

„Ich könnte dir helfen", bot Ginny an. „Ich könnte dir beim Lernen helfen."

Draco schnaubte. „Du wirst wesentlich mehr bieten müssen als das." Er drehte sich um und ging.

Plötzlich kam Ginny eine brillante Idee. „Ich werde einem jüngeren Slytherin erzählen, was du in Snapes Wandschrank gesagt hast."

Das ließ ihn wie angewurzelt stehenbleiben. „Was?"

„Gerüchte verbreiten sich wie Lauffeuer in Hogwarts", erklärte Ginny. „Ich erzähle es einem Erstkläßler aus Slytherin, und am nächsten Morgen ist es in deinem gesamten Haus rum. Einige könnten es womöglich ihren Eltern erzählen und …"

Es funktionierte ausgezeichnet. Draco stampfte mit vor Wut funkelnden Augen auf sie zu. „Das würdest du nicht wagen", drohte er.

Natürlich würde sie das nicht, aber das wußte er nicht. „Würde ich nicht?" gab sie zurück.

Draco trat zurück und sah sie an, als würde er die ganze Situation analysieren. „Und wenn ich zustimme? Wirst du mich endlich in Ruhe lassen?"

‚Endlich?' Wovon redete er? „Ähhmm … ja."

Er atmete tief durch und drehte sich um. Er machte ungefähr fünf Schritte, bevor er über die Schulter sah. „Was ist? Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit."

Ginny schlußfolgerte, daß das „ja" bedeutete. Sie folgte ihm. „Wo willst du lesen?" fragte sie.

„In meinem Zimmer."

Sie blieb stehen. „In deinem Zimmer?"

„Ja, bist du taub?" Draco führte sie durch die Halle hinter dem zweiten Korridor. „Glaubst du, ich will, daß uns jemand bei unserem Rendezvous sieht? Wären wir in der Bibliothek, würde uns auf jeden Fall jemand sehen."

„Ja …" Ginny lächelte höhnisch, während sich ihre Schultern anspannten. „Gott bewahre, daß uns jemand in der Öffentlichkeit zusammen sieht."

„Exakt." Draco näherte sich einer Ebenholztür mit einer eichenen Aufschrift, die in dunklen Lettern besagte:

SCHULSPRECHER: DRACO MALFOY

Sie rief sich ins Gedächtnis, wie Percys Name an dieser Tür geprangt hatte, in dem Jahr als er die Position des Schulsprechers innegehabt hatte. Sie erinnerte sich sogar, daß er täglich sichergegangen war, daß keine Flecken oder Staub auf der Aufschrift waren. Draco murmelte sein Paßwort, und die Tür öffnete sich knarrend. Im Innern waren die Vorhänge an den Fenstern und den Bettpfosten slytheringrün. Sein Bett war mit schwarzen Bezügen und silbernen Kissen dekoriert. Sogar die Teppiche auf dem Boden waren grün mit silbernen Rankenmustern. Vor dem prasselnden Feuer standen zwei schwarze Wildlederstühle mit hoher Lehne. Kerzenständer verzweigten sich wie Bäume, auf jedem Halter sechs Kerzen. Sie vermutete, die Tür neben dem Kamin führte zum Badezimmer. Sie war in Dracos Zimmer.

‚Was ist dein Problem? Ich weiß, ich hab dich besser erzogen!', würde Ron wahrscheinlich sagen – was keinen Sinn ergab, schließlich war er nur ein Jahr älter als sie selbst.

„Komm rein, setz dich", sagte Draco und zeigte auf die Wildlederstühle.

Sie setzte sich leise und legte sich das Buch in den Schoß. Neben ihr befand sich ein kleiner Tisch mit einem purpurnen Totenkopf in der Mitte. Neugierig bewegte sie ihre Hand auf den Totenschädel zu.

„Das würde ich nicht tun", warnte er und kniete sich vor seinen Koffer.

„Wieso? Das ist nur ein Totenkopf, oder?" fragte Ginny.

Er zuckte mit den Schultern. „Wie du willst, es ist deine Hand." Er schlug sein Buch auf und ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. „Laß uns das hinter uns bringen."

„Draco, das mindeste, was du tun kannst, ist, freundlich zu sein", schalt Ginny. „Immerhin werden wir uns für eine Weile unterhalten."

„Bitte erklär mir, was an deinem Erpressungsszenario freundlich ist." Draco funkelte sie an. „Ich hätte nie gedacht, daß so was in einer Weasley stecken würde. Du erstaunst mich, Red."

„Ginny."

„So?"

Ginny seufzte. „Also gut …" Sie blätterte durch die Seiten. „Ich versteh den ersten Akt gut genug."

„Wozu brauchst du meine Hilfe?"

„Ich will die zweite Szene von Akt 2 vollständig verstehen."

„Ah ja, die Balkonszene", spottete Draco. Er konnte seinem Schicksal nicht entkommen, oder? Seine Wege, ob im Traum oder nicht, würden ihn immer wieder zu dieser verdammten Szene zurückführen.

„Was will Romeo in seinem ersten Vers sagen? Es ist der Ost, und Julia die Sonne! – Geh auf, du holde Sonn! ertönte Luna … Dieser ganze Abschnitt …"

Diese Stunden würden furchtbar langweilig werden. „Ist dir aufgefallen, daß dauernd der Mond erwähnt wird? Der Mond ist Rosalinde, weil sie so kalt zu Romeo ist. Die Sonne ist Julia, weil sie Wärme und Licht in sein erbärmliches Liebesleben bringt."

Ginny nickte. „Ok …" Romeo erbärmlich? Wohl kaum. „Ähm … könnten wir die Szene lesen?"

Draco sah sie mit unverkennbarem Grauen an. „Was?"

„Können wir die Verse lesen und anschließend besprechen? Du weißt schon, nach jeder Seite", schlug Ginny vor. „Percy hat es mir auf die Weise beigebracht, und es hat sehr geholfen."

„Tja, ich bin nicht dein Bruder Peter, oder was auch immer", schnauzte Draco. „Gott sei Dank."

Ginny hob eine Braue. „Oh, Ms Parkinson, haben sie schon von Malfoy gehört? Er fürchtet alles, was mit dem Meister seines Vaters zu tun hat."

Draco atmete tief ein. ‚Hinterhältige, kleine …' „Sie spricht. Oh, sprich noch einmal, holder Engel!" begann er.

Sie gingen die Verse durch, mit einer Unterbrechung nach jeweils dreißig Versen, für genauere Erklärungen.

„Nun gute Nacht!" las Ginny. „So süße Ruh und Frieden, als mir im Busen wohnt, sei dir beschieden!"

Draco zuckte zusammen. Er wußte, was jetzt kommen würde. „Ach, du verläßt mich so unbefriedigt?"

„Was für Befriedigung begehrst du noch?" las sie, ohne zu wissen, daß ihre Worte Schauer über seinen Rücken laufen ließen.

Er konnte nicht vermeiden, sie anzusehen. Er versuchte, jeden Gedanken an seinen Traum zu verbannen. Ihr feuerrotes Haar, ihre sommersprossige Nase so nah an seiner, diese verdammten braunen Augen und diese verfluchten Lippen! Sie sah nicht im geringsten aus wie die Traum–Ginny! Sie war so viel zauberhafter in ihrem weißen Nachthemd … auf seinem Bett, verglichen mit jetzt. Verblichene, zu große Gryffindor–Robe, abgenutzte, staubige, schwarze Schuhe und schrecklich schlaffes Haar … das gewöhnlich zurückgebunden war. Das wäre erledigt. Draco blickte wieder auf seinen Vers.

„Gib deinen treuen Liebesschwur für meinen!" brachte er heraus, ohne mit den Zähnen zu knirschen. Er blickte zu ihr auf.

„Also", fragte Ginny, „er gesteht ihr wahre Liebe?"

„Mehr als das", verbesserte Draco. „Er bittet sie, ihn zu heiraten."

„Oh … Irgendwo vorher stand, sie sei alt genug zum Heiraten." Ginny lächelte. „Das ist, was, achtzehn?"

„Vierzehn."

Ihre Augen weiteten sich. „Oh …"

Sie lasen die Szene zu Ende, und Draco klappte sein ledergebundenes Buch zu. Ginny schlug ihr Taschenbuch zu.

„Also besiegeln sie am nächsten Tag endgültig alles."

„Ja." Er sah Falten auf ihrer Stirn entstehen. „Was ist los?"

„Ich weiß nicht. Das kommt alles so plötzlich", erklärte Ginny. „Das ist Liebe auf den allerersten Blick."

„Wieso? Glaubst du nicht an so was?"

„Was ist mit dir?"

Draco lächelte höhnisch. „Warum sollte ich das beantworten?"

„Warum sollte ich?" antwortete Ginny knapp.

„Gut, antworte nicht."

„Gut!"

„Gut."

Mit überkreuzten Armen lehnten sie sich zurück und starrten ins Feuer. Ginny seufzte tief. „Ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick."

„Wie bitte?" Er warf ihr einen Seitenblick zu.

„Ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick", wiederholte sie etwas fester.

„Sprichst du aus persönlicher Erfahrung?"

„Nein!" schnappte sie.

Er zog interessiert eine Braue hoch. Seine Augen richteten sich wieder auf das Feuer. „Manchmal geschehen Dinge, und man ist ganz in dem Moment gefangen … und man denkt nicht an die Folgen – bis es zu spät ist."

Ginny sah auf. Sie hätte beinah gekeucht. Der Ausdruck in seinen Augen war entrückt, als wäre er in Gedanken weit, weit weg. „Sprichst du aus persönlicher Erfahrung?"

Draco stand nur auf und warf sein Buch lässig in seinen offenen Koffer. „Sind wir fertig?"

Ginny stand auf. „Für heute Nacht. Ich schick dir eine Eule, wenn ich noch mehr Probleme mit Shakespeare haben sollte."

„Mach, was du willst." Draco floh ins Badezimmer. Ginny ging in die entgegengesetzte Richtung zur Tür.

Am nächsten Morgen erhielt Draco eine Eule.