Zweites Kapitel: Unerwarteter Besuch
Gerowyn saß zusammen mit den Soldaten Éomers in der Gesinde-Unterkunft. Éowyn hatte sie zwar in ihre Privat-Gemächer eingeladen, doch Gerowyn hatte stolz abgelehnt. Ihre Freundin war deswegen nicht beleidigt. Sie kannte den Starrsinn der Kriegerin nur zu gut. Gerowyn wollte eben nicht besser als die anderen Soldaten behandelt werden. Am späten Abend, als Faramir und Éomer pfeiferauchend zusammensaßen, suchte Éowyn ihre Freundin in den Unterkünften auf. Gerowyn freute sich natürlich: die beiden hatten sich schließlich auch über ein halbes Jahr nicht gesehen und sich viel zu erzählen.
„Du siehst blaß aus", meinte Gerowyn besorgt, während sie Éowyn prüfend musterte. „Ich schätze, du reitest nicht mehr so oft aus wie früher. Weißt du noch, wie wir über die Ebenen Rohans zusammen geprescht sind? Du auf Windfola, und ich auf Hrymfaxe".
„Lange ist es her", meinte Éowyn nachdenklich. „Ich habe tatsächlich nicht mehr so viel Zeit wie früher: als Fürstin von Ithilien und Gemahlin des Statthalters von Gondors habe ich viele Pflichten wahrzunehmen. Außerdem beschäftige ich mich seit dem Ringkrieg viel mit der Heilkunst. Faramir hat mich sogar dazu ermuntert, einen Garten mit heilkräftigen Kräutern anzulegen."
„Heilerin? Das passt nicht zu dir, Éowyn", sagte Gerowyn kopfschüttelnd. „Du bist die Schildmaid von Rohan, die den Hexenkönig von Angmar besiegt hat."
Innerlich keimte ihre Wut auf Faramir, der offensichtlich vorhatte, die Schildmaid zu „zähmen".
Éowyn schlug schnell ein anderes Thema an.
„Dieser Rapphengst sieht ja prachtvoll aus. Wie geschaffen für Faramir".
Gerowyn lächelte gequält. Sie hatte gute Lust, ihrer Freundin zu sagen, was sie über ihren Gemahl dachte.
„Werfola ist ziemlich wild. Man muß schon ein geübter Reiter sein, um nicht von ihm abgeworfen zu werden".
„Faramir wird mit Werfola schon fertig, Gerowyn", sagte Éowyn etwas ungehalten. Sie hatte den feinen Spott bemerkt, der in Gerowyns Stimme mitschwang.
Die beiden Freundinnen schwiegen. Sie spürten, dass ihre Freundschaft nicht mehr so unbeschwert wie früher war.
Éowyn stand jetzt auf.
„Du magst Faramir nicht, stimmt's?"
Gerowyn sah sie erschrocken an.
„Nein, wie kannst du so etwas sagen", fuhr sie Éowyn aufgebracht an. „Faramir ist nett, höflich und gütig. Der beste Ehemann, den man sich wohl wünschen kann, aber..."
„Aber was?", hakte Éowyn nach, weil Gerowyn plötzlich innehielt.
„Er passt nicht zu dir", platzte die Kriegerin schließlich heraus. „Du bist eine Kriegerin, so wie ich. Du bräuchtest einen Ehemann, der dir deine Freiheiten lässt, der genauso wie du fühlt und denkt. Aragorn wäre..."
„Jetzt schweig!", zischte Éowyn zornig.
Sie verließ auf der Stelle die Gesinde-Unterkunft. Gerowyn seufzte traurig: sie wusste, dass sie jetzt zu weit gegangen war. Ihre Freundschaft mit Éowyn war jetzt wohl ein für alle Mal dahin.
Éowyn konnte in dieser Nacht lange nicht einschlafen. Gerowyns Worte hallten in ihrem Gedächtnis nach: „Er passt nicht zu dir". Ob ihre Freundin sogar damit Recht hatte? War sie wirklich glücklich mit Faramir? Hatte er wirklich vor, sie zu zähmen, ihr die Freiheit zu nehmen?
Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie tastete im Dunkeln nach Faramirs Hand, der ruhig und selig neben ihr schlief. Irgendwann nickte sie dann doch ein.
Am nächsten Morgen wurden sie ziemlich früh geweckt, weil ein Bediensteter eine weitere Reisegruppe gesichtet hatte, die auf Emyn Arnen zukam.
„Wer kann das nur sein?", fragte Éowyn ganz verschlafen ihren Mann.
„Ich schätze, das ist mein Onkel, der Fürst von Dol Amroth", sagte Faramir lächelnd. „Er besucht mich immer zu meinem Geburtstag, wenn es seine Amtsgeschäfte erlauben".
„Dann sollten wir uns schnell ankleiden und die Gäste empfangen", meinte Éowyn erschrocken.
Auch Éomer war bereits auf den Beinen. Neugierig betrachtete er die Reisegruppe, die ein Schwanenbanner mit sich führten. Er erkannte Imrahil, den Fürst von Dol Amroth, sofort wieder. Zuletzt hatte er ihn auf der Hochzeit von Faramir und Éowyn erblickt. Jedoch war damals dieses liebreizende Mädchen, das jetzt an seiner Seite ritt, nicht mit dabei gewesen.
Faramir umarmte seinen Onkel herzlich. Éowyn begrüßte derweil Imrahils Tochter.
„Sei willkommen, Lothiriel, Jungfrau von Dol Amroth".
Éomer betrachtete Lothiriel sprachlos: sie hatte rabenschwarze Haare und graue Augen. Er verbeugte sich stumm vor der dunklen Schönheit.
„Seid Ihr nicht Éomer, der König von Rohan?", fragte Lothiriel neugierig.
„Ja, der bin ich", erwiderte Éomer fast atemlos. Er konnte kaum seinen Blick von dem Mädchen mit den makellosen Zügen wenden. Unverkennbar floß in ihren Adern Elbenblut. Auch ihr Vater wirkte sehr elbisch, obwohl er einen dichten Vollbart trug.
