Kapitel 5

Das Buch der vergessenen Legenden

Als Ron erwachte, herrschte vollkommene Düsternis.

Beinahe vollkommen.

Er rieb sich die geschwollenen Augen; er hatte schon lange nicht mehr so gut geschlafen, doch er spürte, wie sein Geist ruhelos umherschweifte, obwohl nun jede Spur von Müdigkeit in ihm verschwunden war. Sein Körper hatte die langersehnte Ruhe gierig aufgenommen und er fühlte sich wieder so ganz und gar erholt wie schon lange nicht mehr. Doch das nagende Gefühl, dass er etwas sehr Bedeutendes vergessen hatte, ließ ihn nicht los.

Das Fenster war einen Spaltbreit offen und eine leichte Brise kühler Nachtluft streifte sein Gesicht wie eine sanfte Liebkosung.

Er hatte etwas geträumt...

Plötzlich erinnerte er sich, und der Traum, der ihm wie eine Vision immer noch klar und deutlich ins Gedächtnis eingeprägt war, spielte sich wie ein Film vor Rons innerem Auge ab.

Eine grüne Sommerwiese und fernes Kinderlachen.

Ein Raum, in überirdisches Licht getaucht.

Aber da war noch etwas gewesen...

Aus seinen Lungen entwich alle Luft, als er sie wieder vor sich sah.

Hermine...

Sie hatte so verzweifelt, so hoffnungslos ausgesehen...

Jedes Detail ihrer Erscheinung, jede Kurve ihres Gesichts, jeder Hauch ihrer Bewegungen war in seine Erinnerungen hineingepresst worden, wie ein unlöschbares Bild.

Ihre Worte hallten tausendstimmig in seinem Kopf wider, ein sich endlos wiederholender Chor, der stets nur das eine sagte:

Vergiss mich, Ron.

Vergiss mich...

Abrupt richtete er sich auf.

Sie hatte noch etwas gesagt, doch es schmerzte zu sehr, darüber nachzudenken,und die Erinnerung wurde zusehends blasser.

Es war nur ein Traum, ermahnte Ron sich selber. Er war davon überzeugt, dass diese Erscheinung nur ein Trugbild seines Verstandes war. Er hatte schon längst aufgehört, auf seinen Verstand zu hören oder seinen Illusionen Glauben zu schenken.

Mit einem Mal fiel sein Blick auf ein golden schimmerndes, schwaches Leuchten, das aus der gegenüberliegenden Seite des Raumes zu kommen schien.

Er runzelte die Stirn und stand auf.

Was war das?

Wieder eine Einbildung?

Er näherte sich dem Leuchten und sah, dass es ein aufgeschlagenes Buch war. Undeutlich erinnerte er sich, dass er, bevor er eingeschlafen war, aus Versehen etwas aus dem Regal gestoßen hatte.

Als er endlich nahe genug stand, um das Buch genauer begutachten zu können, schien sich das Licht, welches davon ausging, noch mehr zu erhellen.

Ron beugte sich hinunter und hob es vorsichtig auf. Neugierig, doch gleichzeitig auch mit dem natürlichen Mißtrauen von jemandem, der schon viele unangenehme Überraschungen, was unbekannte magische Objekte betraf, erlebt hatte, las er die Überschrift auf der aufgeschlagenen Seite.

In sehr reich verzierter rotgoldener Schrift stand dort geschrieben:

DIE LEGENDE VON DER UNENDLICHEN SEELE

Aufgeregt, obwohl er nicht recht wusste, warum, las er weiter. Der Text war in einer sehr altertümlichen Schrift verfasst und das Pergament war an einigen Stellen schon eingerissen und die Worte leicht verblasst.

Es war ein Gedicht.

Nicht Mensch, nicht Tier, noch Ungeheuer

Ein Wesen sondergleichen

All jene, die mutigen Herzens sind

Werden wohlgeheißen

Nur du allein bestimmst seinen Sinn

Oh Wanderer zwischen den Welten

Der Tod hat keine Bedeutung für ihn

Nur Heldenmut wird er vergelten

Der Hüter der Seelen, so wird er genannt

Kennt weder Tag noch Nacht

Lebt im Verborgenen, stets unerkannt

Drum nehme dich in Acht

Älter als die Welt

Doch auch über die Zeit erhaben

Derjenige, der sich ihm stellt

Erhält eine besondere Gabe

Doch Suchender, sei nun auch gewarnt

Vor seiner List und Tücke

So das Schlechte in ihm, und sei's auch getarnt

Nicht in den Weg dir rücke

Wirst du nun gehen und versuchen dein Glück

Sei auf der Hut vor seinem bösen Verlangen

Siegst du im Kampf, erhältst du zurück

Die Seele eines Menschen vergangen

Doch mag der Gewinn auch kostbar sein

Bist du schon bald ewiglich verloren

Sobald du verwirkst und folgest dem Schein

Den er hat für dich auserkoren

Zu hoch mag sein der Preis des Verlusts

Schon viele, die dies erfuhren

Doch dein reines Herz gewährt dir Schutz

Zurückzudrehen den Verlauf der Uhren

Ron hatte die ganze Zeit, während er las, den Atem angehalten. Dann schlug er das Buch zu und las den Titel des Buches.

Goldene, raffiniert ineinander verschlungene Buchstaben waren in das rote, abgetragene Leder eingeprägt.

Seine Finger strichen unwillkürlich über das verblasste Gold und gedankenverloren, wie er in diesem Moment war, merkte er nicht einmal, wie er den Titel flüsternd vorlas;

"Das Buch der vergessenen Legenden..."

Er schlug das Buch schnell wieder auf, fürchtend, die Worte, die er soeben gelesen hatte, und die in ihm ein Gefühl geweckt hatten, das er lange nicht mehr gespürt hatte, wären schon verschwunden.

Doch sie waren immer noch da, genauso wie das Schimmern, das einzig und allein von dieser einen aufgeschlagenen Seite auszugehen schien. Er las das Gedicht nochmal, langsam und bedächtig. Ein Hoffnungsschimmer, nur ein Funke, regte sich in ihm, als er sich plötzlich an die Worte der Frau in der dunklen Gasse erinnerte.

Die Seelen sind frei vom Tod.

Das Bild von der Frau verschwand und wurde ersetzt von der Erscheinung Hermines aus seinem Traum. Ihre Stimme klang klar und deutlich, während sie ihm zuflüsterte:

"Vergiss mich, Ron..."

Ein Entschluß reifte langsam, aber sicher in seinem Kopf, als er sich erhob, das Buch fest an sich gedrückt, als wäre es ein Schatz, und ein Ausdruck ungebremster Entschlossenheit trat in seine Augen, als er leise flüsterte;

"Niemals, Hermine. Niemals..."


A/N: So, endlich habe ich mal upgedated....sorry für den Cliffhanger und die Wartezeit, aber ich hatte leider ziemlich wenig Zeit....und dann hatte ich auch noch etwas am Text zu knabbern...so ein Gedicht kann man ja auch nicht eben aus dem Ärmel schütteln...Es könnte sein, dass das nächste Chappy etwas länger dauern wird...also bitte bleibt mir treu und nicht vergessen: Immer fleißig reviewen! ;-)