"Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe - das einzig Bleibende, der einzige Sinn..."
- Thornton Wilder -
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Kapitel 6
Einsame Entscheidung
"Lumos!"
Die Spitze von Rons Zauberstab leuchtete auf, während er die Zimmertür leise hinter sich schloss und das Wohnzimmer betrat.
Seine Gedanken waren ein einziges Durcheinander, doch der Plan, den er mittlerweile im Kopf hatte, und dessen Konturen sich immer deutlicher und deutlicher abzuzeichnen begannen, kristallisierte sich klar aus der Masse aus Fragen, Zweifeln und Bedenken heraus.
Plötzlich bemerkte er, dass jemand auf dem Sofa lag. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, denn die Reichweite des Lichts aus seinem Zauberstab reichte nicht ganz bis zu den Gesichtern der zwei Personen. Tiefe, ruhige Atemzüge waren in der dunklen Stille zu hören. Ron trat näher und sah, dass es Harry und Ginny waren, die, auf der Couch sitzend, tief und fest schliefen. Harrys Kopf war zur Seite gesunken, seine Brille hing ihm etwas schief im Gesicht,und Ginnys Kopf ruhte auf seiner Schulter. Er fragte sich flüchtig, wie lange sie schon da waren und wie lange er selber eigentlich geschlafen hatte.
Ron wollte unbedingt mit jemandem über das Buch sprechen, doch er wollte Harry und Ginny auch nicht aufwecken.
Dieses Buch würde alles verändern...
Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit umspielte wieder ein Lächeln seine Lippen, als er sich vorstellte, wie glücklich und überwältigt Harry und Ginny sein würden, wenn sie es sahen, und erfuhren, was drinstand.
Sie konnten Hermine zurückbringen, sie konnten alles rückgängig machen!
Das Lächeln auf seinem Gesicht verbreiterte sich noch mehr und für einen kleinen Augenblick, nur eine Sekunde lang, fühlte er sich so glücklich, als hätte er es schon vollbracht.
Plötzlich bewegte sich Ginny und Ron hoffte ungeduldig, dass sie aufwachen würde, damit er es ihr erzählen könnte. Tatsächlich blinzelte sie einen Moment später und öffnete verschlafen ihre Augen. Als sie Ron sah, verflog jedoch jedes Anzeichen von Erschöpfung aus ihrem Gesicht und wurde ersetzt durch einer Mischung aus Sorge und Erleichterung.
"Ron!" rief sie aufgeregt und sprang auf. Einen Moment später fand sich Ron in einer festen Umarmung seiner kleinen Schwester wieder.
"Wir haben uns solche Sorgen gemacht, als du einfach so weggelaufen bist!" sagte sie und blickte ihn bekümmert an. Eine Woge schlechten Gewissens überkam Ron bei ihren Worten.
"Wo hast du bloß die ganze Zeit gesteckt?"
Bevor Ron antworten konnte, vernahmen sie eine heisere Stimme aus dem Hintergrund.
"Ron...?"
Es war Harry, der ebenfalls aufgewacht war und nun , genau wie Ginny, aufsprang, um ihm vorwurfsvoll ins Gesicht zu schauen.
"Ron! Wo zum Teufel hast du gesteckt? Wir sind fast umgekommen vor Sorge! Wir haben die ganze verdammte Stadt nach dir abges- "
"Hört mal zu, ihr beiden!" unterbrach ihn Ron barsch. Er hatte beim besten Willen nicht die Zeit und Geduld, Harrys Vorwürfen und Ginnys besorgten Blicken Achtung zu schenken, nicht wenn es so viel wichtigeres zu besprechen gab.
"Ich - ich war hier, die ganze Zeit." erklärte er hastig. "Ich bin in Hermines Zimmer gegangen, und bin dort eingeschlafen. Als ich aufgewacht bin, lag das hier," er streckte ihnen das Buch entgegen, " aufgeschlagen auf dem Boden..."
Harry und Ginny starrten erst ihn, dann das Buch, an, beide mit einem Ausdruck völliger Verwirrung in ihren Gesichtern.
"Du warst hier?" fragte Ginny überrascht.
"In Hermines Zimmer?"
"Ja." antwortete Ron gereizt, er konnte die Neuigkeit nicht eine Minute länger für sich behalten und wurde langsam wütend.
"Jedenfalls...In diesem Buch; da steht so ein merkwürdiges Gedicht drin." Ron öffnete das Buch an der Stelle, die aufgeschlagen gewesen war. Das Schimmern war nun vollkommen verschwunden und nur das gelbliche Pergament war im trüben Licht des Zauberstabs zu sehen.
Ginny und Harry beugten sich über das Buch und Harry las die Überschrift laut vor: "Die Legende von der Unendlichen Seele..."
Ron nickte lebhaft und beobachtete ihre Gesichter während sie lasen, suchte nach einer Spur der Freude, die er selber beim Lesen dieser Zeilen vor einigen Minuten noch empfunden hatte.
Doch er sah nichts.
Harry und Ginny hatten offensichtlich zuende gelesen, denn nun blickten sie wieder zu ihm auf, wieder mit diesen verwirrten Gesichtern, die ihn schier in den Wahnsinn trieben.
"Was...was soll das bedeuten, Ron?" fragte Ginny leise.
"Ja, Ron. Was ist das?" wollte Harry wissen. Seine Stimme hatte einen anklagenden, entnervten Ton, der ein Gefühl von Trotz in Ron weckte.
"Versteht ihr denn nicht?" rief er laut, seine Geduld ging nun langsam aber sicher ihrem Ende zu. " Wir können Hermine zurückbringen! Wir können ihre Seele wieder herbringen...!"
"WAS?" bellte Harry. Er sah Ron an, als hätte er den Verstand verloren.
"Sie wird wieder leben, Harry! Sie wird zu uns zurückkehren!" Rons Augen leuchteten voller Hoffnung auf.
Ginny, die die Augen bisher nicht von Ron abgewendet hatte, senkte nun den Blick, als eine Träne ihr Gesicht hinunterrann.
"Das können wir nicht, Ron. Das ist unmöglich." wisperte sie.
"Es steht alles in dem Gedicht, Ginny! " antwortete er mit fester Stimme, "Du hast es doch gelesen. Dieses Wesen - diese...'Unendliche Seele" macht sie wieder lebendig!"
"Sieh nur..." er riss ihr das Buch aus der Hand und suchte mit vor Aufregung zittrigen Händen fieberhaft nach der richtigen Stelle im Gedicht, "da steht: 'Siegst du im Kampf, erhältst du zurück / die Seele eines Menschen vergangen.'"
"Warte mal, Ron.", sagte Harry mit beherrscht ruhiger Stimme, "Warte mal. Du willst mir doch nicht ernsthaft weis machen, dass du mit diesem - diesem Monster um Hermines Seele kämpfen willst, oder?"
"Begreifst du es denn nicht, Harry?" entgegnete Ron verzweifelt, "Dann wird sie wird wieder am Leben sein! Alles wird wieder so wie früher werden..."
Harry schloß die Augen und schüttelte energisch den Kopf. "Ron, du -- du..." fing er an, doch dann besann er sich. "Was ist das überhaupt für ein Buch?" faucht er und entriss es Ron wieder. "Und warum bist so überzeugt davon?" Harry schlug das Buch zu und las den Titel, genau wie die Überschrift des Gedichts einige Minuten zuvor, laut vor.
"Das Buch der vergessenen Legenden."
Ron nickte nur kurz.
Harry sah ihn an. "Das sind Legenden, Ron. Legenden." rief er aufgebracht. "Das Ding ist nichts weiter als ein verdammtes Märchenbuch, mehr nicht!"
Ron starrte ihn an, eine halbe Ewigkeit lang, wie es ihm schien, und wieder hatte er das Gefühl, er blicke auf eine kahle Wand, und nicht in die Augen eines menschlichen Wesens. Er konnte einfach nicht zu Harry durchdringen.
"Das ist es nicht. Es ist wahr." sagte Ron schließlich leise, drohend.
Die Atmosphäre war aufgeladen mit angestauter Wut, Trauer und Schuldgefühlen, und Ron und Harry kämpften. Nicht mit Fäusten oder Worten, sondern einzig und allein mit ihren Augen. Alles was sie sich gegenseitig in diesem Moment antun wollten, spiegelte sich in stechendem Stahlblau, das auf loderndes Smaragdgrün traf.
Es war Ginny, die dieses Schauspiel unterbrach.
"Oh, Ron..." schluchzte sie und warf sich ihm um den Hals. "Wir wissen, wie schwer das für dich ist, glaub mir. Für uns ist es genauso schlimm...Aber du musst lernen, es zu akzeptieren. Es ist vorbei."
"NEIN!" schrie Ron und schüttelte sie ab. "Ihr BEGREIFT es einfach nicht! Wir haben die Chance, Hermine wieder- "
"DU bist es doch, der hier nichts begreift!" unterbrach ihn Harry donnernd, jegliche Selbstkontrolle war nun aus seinen Augen gewichen und machte Platz für all die Wut, die er so lange unterdrückt hatte. "SIE - IST - TOT, RON! TOT! ENDGÜLTIG FORT! FÜR IMMER!"
"NEIN!" brüllte Ron nochmal, sein Gesicht rot vor Zorn. "Harry, du bist - " er suchte fieberhaft nach einem Wort, um Harry deutlich zu machen, wie falsch er eigentlich lag, "du bist so ein Egoist..."
"ICH bin ein Egoist? Ha!", er lachte bitter und ohne Humor auf, " Und das ausgerechnet von dir, Ron! Wer hat denn eine Woche mit niemandem mehr ein Wort gewechselt? Noch nicht mal mit seiner eigenen Familie? Wer ist aus dem Friedhof gerannt bei ihrer Beerdigung? War ich das?"
Ron schwieg.
Harry antwortete an seiner Stelle, mit einer Stimme, die wieder diese seltsame Ruhe angenommen hatte, die Ron jedes Mal mit Grauen erfüllte
"Nein. Das warst du. Also wage es ja nicht, mich als Egoist zu bezeichnen. Dir ist es doch egal, dass wir anderen auch unter Hermines Tod leiden. Du lebst nur für deinen eigenen Schmerz, Ron, und vergisst dabei, dass du nicht der einzige Mensch warst, dem sie am Herzen lag."
Die Zornesröte war aus Rons Gesicht gewichen, er war nun kreidebleich. Die Härte von Harrys Worten traf ihn wie ein Schlag.
"Du hast doch nicht die geringste Ahnung, wie ich mich fühle." fuhr Harry mit zitternder Stimme fort. "Glaubst du denn, für mich ist es einfach? Ich bin doch derjenige, der sie auf dem Gewissen hat. Ich hätte ihren Tod verhindern können, wenn ich Voldemort zuvorgekommen wäre...", sagte er leise, seine Stimme war gebrochen. "Ich - ich hätte sie retten können. Aber ich tat es nicht, und jetzt...jetzt ist es zu spät. Sie ist tot, Ron. Unwiederbringlich."
Eine lange, bedrückte Pause folgte diesem Ausbruch, in der sich keiner der drei gegenseitig in die Augen schauen konnte. Jeder von ihnen war allein mit seinen Gefühlen.
"Ich werde sie zurückholen..." sagte Ron schließlich in die Stille hinein, und keine Spur von Wut war mehr in seiner Stimme, nur ein bitterer Nachgeschmack, der die Entschlossenheit darin überdeckte. "Ihr wollt mir nicht helfen? Schön. Dann werde ich allein gehen. Ich brauche euch nicht. Und ich weiß, dass ich es schaffen werde, egal, was ihr sagt. Ohne Hermine werde ich nicht zurückkommen, darauf könnt ihr euch verlassen."
Ron drehte sich auf dem Absatz um und schritt rasch in den Flur, und das letzte, was Harry und Ginny in dieser Nacht von ihm hörten, war das Geräusch der Tür, die hinter ihm ins Schloß fiel.
A/N: Oh Mann. Ich hasse es, wenn sich Ron und Harry zerstreiten, aber das musste sein...Hatte eigentlich damit gerechnet, mehr Zeit dafür zu brauchen, aber da die Ideen nur so auf mich "eingeprasselt" sind, habe ich eine kleine Nachtschicht eingelegt. Hoffe, es hat euch gefallen. Möchte mich an dieser Stelle auch bei allen bedanken, die bisher so liebe Reviews hinterlassen haben. Ihr seid supi, Leutz! =)
