Die Jungfrau von Dol Amroth

Disclaimer: Alle Figuren und Orte in dieser Geschichte gehören Prof. Tolkien. Meine Phantasie aber gehört mir.

Die Jungfrau von Dol Amroth

Kapitel 1: Winter

Der Winter des Jahres 2999 war der härteste, den man in Gondor je erlebt hatte. Selbst die Ältesten konnten sich nicht an so einen strengen Winter erinnern.

In Minas Tirith lagen viele Leute schwer erkältet darnieder. Die Menschen des Südens waren so ein raues Klima nicht gewohnt.

Denethor starrte zum Fenster seiner Amtsstube hinaus: in dichten Flocken fiel erneut Schnee hernieder. Der Springbrunnen im Hof war völlig vereist. Selbst der verdorrende weiße Baum wirkte unter der Last des Schnees noch gebückter als sonst. Dieser Anblick ließ ihn selbst frieren, obwohl es in seiner Stube gemütlich warm war. Im offenen Kamin prasselte ein großes Feuer.

Es klopfte an der Tür. Der Truchseß rief ein mürrisches „herein". Bestimmt war es wieder irgendein Lakai, der ihn mit einer Frage nerven wollte. Doch es war Boromir, der eintrat. Mit seinen 21 Jahren bereits zum Manne gereift. Wie immer schwoll Denethors Brust vor Stolz an, wenn er seinen Erstgeborenen erblickte. Ein Bild von einem stolzen Krieger. Denethor lächelte seinen Lieblingssohn freundlich an. Doch Boromirs Gesicht blieb ernst.

„Vater, ich muß mit dir sprechen – wegen Faramir", begann der junge Mann.

„Mußt du mich mit Faramir behelligen?", fragte der Truchseß ungehalten. „Was hat er denn nun schon wieder angestellt?"

„Nichts – er liegt schwer erkältet im Bett", entgegnete Boromir gelassen. „Deswegen wollte ich dich bitten, ihn von seinen Pflichten zu entbinden".

„Ich weiß, dass er seit Tagen einen Schnupfen hat", erwiderte Denethor verächtlich. „Das ist doch keine Krankheit."

„Faramir hat jetzt aber Husten und Fieber dazubekommen, weil er sich nicht genügend geschont hat", fuhr Boromir etwas aufgeregter fort.

„Wie soll er jemals ein richtiger Soldat werden, wenn er so etwas nicht einfach wegsteckt?", sagte Denethor ergrimmt. „Ich bestehe darauf, dass er an der Rekrutenübung heute Nachmittag teilnimmt".

Boromir wusste, dass Widerspruch dagegen zwecklos war. Mit hängenden Schultern suchte er Faramirs Gemächer auf. Vorhin hatte der knapp Siebzehnjährige noch in seinem Bett gelegen. Jetzt stand Faramir vollständig angekleidet da. Sogar seine eiserne Rüstung trug er.

„Warst du etwa bei Vater wegen mir?", fragte der Junge erschrocken, als er Boromirs Miene sah.

Der Ältere nickte seufzend.

„Du weißt, dass ich das nicht will", sagte Faramir zornig. „Jetzt hält er mich erst recht für einen Schwächling".

„Ich habe es doch nur gut gemeint, kleiner Bruder", meinte Boromir empört. „Aber anscheinend hast du mir deine Schwäche nur vorgeheuchelt".

Faramir trat jetzt dicht vor seinem Bruder hin. Seine blauen Augen funkelten vor Wut.

„Mir geht es tatsächlich nicht gut, aber ich werde euch beiden beweisen, dass ich kein Schwächling bin".

Boromir schüttelte resignierend den Kopf.

„Mir brauchst du nichts beweisen – das weißt du. Sei kein Narr: verausgabe dich nicht heute Nachmittag bei der Truppenübung".

Faramir nahm wortlos seinen Helm und sein Schwert, und ließ Boromir stehen.

Es schneite immer noch draußen, als sich die jungen Rekruten Gondors unten im sechsten Festungsring, wo sich der Truppenübungsplatz befand, in einer Reihe aufstellten. Die Rüstungen boten nur wenig Schutz gegen die schneidende Kälte. Und nicht wenige der jungen Männer klapperten mit den Zähnen, weil sie so froren.

Hauptmann Nimrond lief mit einem selbstgefälligen Lächeln an der Reihe Rekruten vorüber. Er würde diese jungen Kerle schon noch schleifen. Sein Blick fiel auf Faramir, der als Letzter in der Reihe stand und ihn stolz anblickte. Denethor hatte Nimrond aufgetragen, mit Faramir besonders hart umzugehen.

Ich werde deinen Stolz schon noch brechen, Kleiner, dachte Nimrond gehässig.

Dann ließ er die Soldaten zwanzig Mal um dem Übungsplatz herumlaufen. Sie sollten sich an harte Fußmärsche dadurch gewöhnen. Schon bald spürte Faramir die Schwäche, die das Fieber in seinem Körper auslöste. Seine Beine wurde schwer wie Blei und vor seinen Augen tanzten rote Räder. Er konnte nicht mehr. Erschöpft blieb er stehen und hielt sich an der Mauer an.

„He, du da!", rief Nimrond grimmig. „Wer hat dir denn erlaubt, stehenzubleiben? Du hast noch mindestens zehn Runden vor dir. Marsch, weiter!"

Faramir biß die Zähne zusammen und lief schließlich weiter. Mit letzter Kraft schaffte er die zwanzig Runden. Während Nimrond die anderen Rekruten entließ, ließ er Faramir zu sich kommen.

„So, und weil du vorhin geschwächelt hast, läufst du noch mal zehn Runden extra!", befahl der Hauptmann.

Faramir starrte ihn entsetzt an: er hatte gehofft, sich jetzt endlich zurückziehen zu dürfen, um sich auszuruhen. Doch er wagte keinen Widerspruch und machte sich erneut auf den Weg. Nach zwei Runden wurde ihm entsetzlich schwindelig. Er sah wieder feurige Räder vor seinen Augen tanzen, doch er schleppte sich weiter. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und er kippte in den Schnee.

Nimrond fluchte leise vor sich hin und lief dann zu Faramir hinüber, um ihn hochzuziehen. Doch da bemerkte er die glühendheiße Hand des jungen Mannes. Der Hauptmann nahm ihm schnell den Helm ab und befühlte Faramirs Stirn. Auch sie glühte im Fieber.

Denethor und Boromir saßen gerade in der Amtsstube und tranken Tee, als ein Bote hereingestürmt kam.

„Kannst du nicht anklopfen, du Tölpel!", schalt ihn der Truchseß.

„Herr Denethor – Euer Sohn", stammelte der Bote eingeschüchtert. „Er liegt in den Häusern der Heilung. Er brach vorhin auf dem Truppenübungsplatz zusammen".

Der Truchseß und sein Ältester sprangen fast gleichzeitig erschrocken hoch. Sie rannten, so wie sie waren, über den verschneiten Hof zu den Häusern der Heilung.

Ioreth, die alte Heilerin, erwartete die beiden schon.

„Ich will zu meinem Sohn", verlangte Denethor mit angstgeweiteten Augen.

„Das kann ich Euch wohl nicht verbieten", erwiderte Ioreth und blickte ihn furchtlos an.

Während Denethor in das Krankenzimmer lief, wandte sich Boromir an die alte Frau.

„Was fehlt ihm eigentlich?"

„Nun, Euer Bruder ist ernsthaft erkrankt", erklärte Ioreth besorgt. „Er leidet an einer schweren Lungenentzündung. Er hätte niemals heute Nachmittag an der Rekrutenübung teilnehmen dürfen."

„Ich weiß", flüsterte Boromir, während er versuchte, die Fassung zu bewahren.

Er betrat das Krankenzimmer, wo Denethor an Faramirs Lager saß. Der junge Mann lag in schwerem Fieber und phantasierte. Denethor hielt seine Hand. Boromir sah zu seinem Erstaunen, dass seinem Vater Tränen über die Wangen rollten.

„Es ist meine Schuld, wenn er sterben sollte", murmelte Denethor betroffen und senkte das Haupt. „Ich scheine nicht aus meinen Fehlern zu lernen. Schon euere Mutter starb, weil ich so starrsinnig war".

„Für Mutters Tod konntest du nichts", sagte Boromir tröstend. „Sie war lange krank und ihr konnte niemand helfen".

„Vielleicht hätte ich ihr mehr meine Liebe zeigen sollen, aber ich konnte es nicht", erwiderte der Truchseß betrübt.

Ioreth trat in das Krankenzimmer.

„Ihr müsst jetzt gehen – alle beide", sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

Sogar Denethor gehorchte der alten Heilerin.

Drei Tage lang schwebte Faramir zwischen Leben und Tod, dann endlich besserte sich sein Zustand. Doch noch immer quälte ein rasselnder Husten seinen abgemagerten Körper. Denethor sah sich jetzt seltener nach Faramir um. Boromir ahnte, warum. Die guten Vorsätze, die sein Vater noch vor einigen Tagen gehabt hatte, waren schon wieder wie weggeblasen. Warum musste Faramir jedes Mal etwas schlimmes zustoßen, damit sich Denethor erinnerte, dass er auch noch einen zweiten Sohn hatte? Und jedes Mal, wenn es dem Jungen besser ging, kehrte der Truchseß wieder zu seinen alten Gewohnheiten zurück und behandelte dann Faramir genauso schlecht wie vorher. Boromir erinnerte sich daran, wie Faramir sich bei einem Sturz vom Pferd vor einigen Jahren ein paar Rippen gebrochen hatte. Damals war Denethor auch höchst besorgt gewesen und war nicht von Faramirs Krankenbett gewichen, bis Besserung eingetreten war.

Eine Woche später suchte Ioreth persönlich den Truchseß auf. Faramir lag immer noch in den Häusern der Heilung. Denethor saß in seiner Amtsstube und sah die alte Heilerin erschrocken an, als sie eintrat.

„Ist etwas mit meinem Sohn?"

„Ihr habt Faramir lange nicht mehr besucht, mein Herr", erwiderte Ioreth kühl. „Aber ich komme aus einem anderen Grund: Faramir leidet noch immer an diesem schlimmen Husten. Der Junge braucht Luftveränderung, sonst nimmt er Schaden an der Lunge".

Denethor ließ seine Schreibfeder sinken und starrte Ioreth an:

„Was soll ich tun? Wo kann ich Faramir hinschicken?"

„Faramir sollte für einige Minute in ein trockenes, warmes Klima – am besten ans Meer", forderte die Heilerin. „Schickt ihn am besten zur Erholung nach Dol Amroth zu Eueren Verwandten".

Denethor war nicht begeistert von dem Vorschlag, aber er musste einsehen, dass nur ein völlig gesunder Faramir einst Heermeister von Gondor werden konnte.