Liebe Leonel: Dein Wunsch ist mir Befehl und es geht weiter. Es wird ein ruhiges zweites Kapitel mit etwas Romantik.
Kapitel 2: Am Meer
Zwei Wochen später war Faramir soweit wieder hergestellt, dass er die lange Reise nach Dol Amroth auf sich nehmen konnte. Denethor hatte sogar erlaubt, dass Boromir ihn begleiten durfte.
In Gondor hatte inzwischen Tauwetter eingesetzt und die Erkältungswelle in Minas Tirith ebbte wieder ab. Die zwei Brüder genossen den Ritt nach Süden und ließen die wärmende Vorfrühlingssonne in ihre Gesichter scheinen.
„Schade, dass Vater nicht mitkommen wollte", sagte Faramir bedauernd.
„Du weißt doch, dass er sich mit Onkel Imrahil nicht so gut versteht", erwiderte Boromir bedrückt.
Fürst Imrahil von Dol Amroth war ein herzensguter Mensch. Doch hatte er nie verstanden, warum seine lebenslustige Schwester Finduilas diesen finsteren Truchseß von Gondor geheiratet hatte. Imrahil hatte erlebt, wie seine Schwester in dem steinernen Moloch Minas Tirith dahinwelkte und wie sie nach 12 Jahren Ehe mit Denethor schließlich verstarb. Das würde er Denethor nie verzeihen. Wenn er mit seinen Schwanenrittern nach Minas Tirith ritt, um dem Heer beizustehen, dann tat er dies nur für Gondor und nicht für den Herrn der Stadt. Doch seine beiden Neffen Faramir und Boromir liebte er über alles. Sie ähnelten Finduilas nicht nur äußerlich mit ihren rotblonden Haaren, sondern glichen auch charakterlich sehr ihrer Mutter. Besonders Faramir hatte viel von ihr. Seine Sanftmut und seine Güte erinnerten ihn immer wieder an Finduilas' Wesen.
Imrahil war daher sehr erfreut, als er hörte, dass Faramir einige Monate bei ihm verbringen sollte. Zu selten hatte er ihn in den letzten Jahren gesehen. Auch seine eigenen Söhne Elphir, Erchirion und Amrothos freuten sich schon auf Faramir. Sie waren fast im gleichen Alter: Elphir war achtzehn, Erchirion sechzehn und Amrothos zwölf Jahre alt. Die kleine Lothiriel dagegen war mit ihren fünf Jahren das Nesthäkchen. Imrahils Gemahlin Elphiriel war bei der Geburt der kleinen Tochter gestorben. Imrahil hatte seine Frau sehr geliebt und trauerte immer noch um sie.
Jetzt hatte er nur noch seine Kinder, die er über alles liebte. Vor kurzem war auch die alte Kinderfrau Naneth gestorben und er hatte Melian, ein junges Mädchen aus der Hafenstadt, zu sich ins Schloß als neues Kindermädchen geholt. Während seine drei Söhne schon sehr selbständig waren, brauchte die kleine Lothiriel doch noch viel Zuwendung. Melian war mit ihren siebzehn Jahren schon sehr erwachsen. Zuerst war Imrahil skeptisch gewesen wegen ihrer Jugend. Doch Lothiriel hatte das Mädchen sofort in ihr Herz geschlossen – und darauf kam es dem Fürsten an.
Nun wartete die ganze Familie gespannt auf die Ankunft der beiden Verwandten aus Minas Tirith. Melian stand zusammen mit der kleinen Lothiriel auf der Mauerbrüstung und blickte nach Norden.
„Ich sehe sie , ich sehe sie!", krähte das kleine Mädchen plötzlich und rannte ins Schloß zurück.
Jetzt waren auch ihre drei großen Brüder aufgeregt und liefen hinaus zur Mauer. Inzwischen konnten man die kleine Reiterschar gut sehen. Sogar der Fürst selbst war neugierig geworden.
Er sah zwei Reiter mit blonden, wehenden Haaren, die der Schar voranritten.
Es gab eine überschwängliche Begrüßung im Schlosshof. Immer wieder drückte Imrahil seine beiden Neffen an sich.
„Boromir, du bist ja erwachsen geworden", staunte der Fürst. „Und du, Faramir, bist auch schon fast ein Mann".
Nun drängten auch seine Kinder heran und begrüßten ihre zwei Vettern stürmisch. Melian hielt sich schüchtern im Hintergrund. Faramirs Blick fiel auf sie. Sie spürte es. Er nahm seinen Vetter Elphir beiseite:
„Wer ist diese dunkelhaarige Schönheit?", flüsterte er ihm zu.
„Unser Kindermädchen", raunte Elphir grinsend zurück.
„Nun kommt ins Haus!", sagte Imrahil lächelnd und legte seine Arme jeweils um Faramirs und Boromirs Schultern. Faramir warf noch einen letzten Blick auf Melian, die mit Lothiriel draußen blieb.
Wenige Tage später musste sich Boromir schwerzen Herzens verabschieden: er musste nach Minas Tirith zurück und seine Pflichten als Heermeister Gondors erfüllen. Er wusste, dass er nun für lange Zeit von Faramir getrennt sein würde. Sein jüngerer Bruder würde bis zum Sommer in Dol Amroth bleiben und sich dort erholen. Boromir hatte beim Abschied Tränen in den Augen.
„Ich werde dich vermissen, kleiner Bruder", flüsterte er.
Faramir brachte keinen Ton heraus. Ihm liefen die Tränen offen über das Gesicht, als er Boromir schließlich davonreiten sah.
Traurig ging er den Schlossgarten, um dort die schon recht wärmende Frühlingssonne Süd-Gondors zu genießen. Er setzte sich auf eine Holzbank und starrte auf das Meer hinaus. Irgendwann versiegten seine Tränen und er stand wieder auf, um ins Schloß zu gehen. Da begegnete er Melian, die gerade in den Garten ging.
„Wo steckt denn Lothiriel?", fragte Faramir erstaunt.
Ganz selten sah man das Kindermädchen ohne die Kleine.
„Sie schläft", sagte Melian lächelnd. „Sie war nach dem Mittagessen so müde".
„Habt Ihr Lust, mit mir etwas in den Garten zu gehen?"
Faramir war über sich selbst erstaunt, dass er diesem hübschen Mädchen so eine Frage stellen traute.
„Aber gerne, mein Herr", meinte Melian und verneigte sich leicht.
Faramir begleitete sie erfreut. Sie nahmen schließlich auf der Holzbank Platz. Verlegene Stille trat ein und der junge Mann wurde rot.
„Wollt Ihr mir nicht ein wenig von Minas Tirith erzählen?", fragte Melian lächelnd.
Faramir fiel ein Stein vom Herzen, denn nun hatte er ein unerschöpfliches Gesprächsthema. Das junge Mädchen hörte ihm fast atemlos zu und sah ihn mit ihren großen, braunen Augen an.
„Ich glaube, ich spreche etwas viel", meinte Faramir etwas verlegen. „Ich hoffe, ich ermüde Euch nicht, schöne Jungfrau von Dol Amroth".
Melian errötete bei diesem Kompliment.
„Nein, Ihr ermüdet mich ganz und gar nicht, Herr Faramir. Ich lausche gerne Euerer ruhigen und sanften Stimme".
Faramir musste grinsen und wusste gar nicht wo er hinsehen sollte.
„Ich hätte eine Bitte an Euch", sagte er plötzlich. „Wir sind beide noch ziemlich jung. Es wäre mir lieb, wenn wir nicht so förmlich miteinander umgingen. Was meinst du, Melian?"
„Wenn du es wünscht", erwiderte Melian und wurde noch röter.
Faramir nahm ihre Hand in die seinige und so saßen sie noch eine Zeitlang auf der Bank. Als Amrothos in den Garten stürmte, fuhr Melian erschrocken hoch.
„Ich glaube, ich sollte nach Lothiriel sehen", meinte sie verlegen. „Es war übrigens schön, hier bei dir zu sitzen, Faramir".
Sie lief schnell weg. Amrothos kam jetzt zu Faramir.
„Spielst du mit mir, Vetter?", fragte der Zwölfjährige.
„Wenn du willst", meinte Faramir geduldig.
Amrothos holte eine kleine Lederkugel hervor, die er seinem Cousin zuwarf. Und so spielten sie eine ganze Weile. Doch Faramir war in Gedanken ganz woanders.
