Abschied

Geritor wusste nicht, wie lange er schon an der alten Eiche lehnte, welche direkt gegenüber dem Palasteingang stand.

Er hatte gerne mitgeholfen die Zwergenfrau mit ihrem Neugeborenen in ihre Höhle zurückzubringen und hatte anschließend im Lager nach seinem alten Freund gesucht. Ihm waren die prüfenden und durchdringenden Blicke von Aryalon wohl bewusst gewesen, denn sein Schweigen und die steife Haltung waren ungewöhnlich für ihn. Geritor war eigentlich immer jemand gewesen, der aufgeschlossen war und sich nicht wie an diesem Tag verhielt, wo kaum ein Wort wirklich zu ihm durchdrang. Selbst seine beiden Enkelsöhne, welche er über alles liebte und bei denen er nie genug davon bekommen konnte Zeit mit ihnen zu verbringen, wies er sanft aber bestimmend ab.

Er beobachtete, wie Legolas mit einem Teil der Waldelben die letzten getöteten Orks auf ein Floß stapelte um diese dann in den dunklen Wald zu bringen, da der Prinz nicht wollte, dass sie innerhalb der Grenzen des Düsterwalds blieben. Eleya hingegen versuchte mit den Frauen aus den Häusern, welche nicht abgebrannt worden waren, alles noch Brauchbare zu bergen oder wieder herzurichten. Immerhin würde bald Winteranfang sein und es war unmöglich das ganze Unheil wieder in wenigen Wochen zu beseitigen.

In allen Augen vermochte er Trauer zu finden, aber auch einen Funken Hoffnung und Dankbarkeit alles überstanden zu haben. Doch genau das war es, was Geritor keine Ruhe lassen wollte. In dem Blick Kardels lag bei dessen Drohung derselbe Ausdruck, wie damals bei der Krönung Thranduils. Er würde niemals aufhören seiner schon besessenen Einbildung, dass der Düsterwald ihm gehörte nach zu gehen, was sich die letzten Tage nur noch deutlicher bestätigt hatte.

Er brauchte seine gesamte Willensstärke um die Last, welche auf den Schultern des Elben lag, zu tragen. Das Versprechen, das Geritor seiner geliebten Frau bei ihrem schmerzhaften Abschied geben musste, hallte in seinen Gedanken wider.

Er hatte ihr schwören müssen, so lange in Mittelerde zu bleiben, bis alle ihre Nachkommen ihren Platz gefunden hatten und ein Leben nach ihren Wünschen führten. Keines seiner Kinder hatte je erfahren, worum es sich genau bei diesem Versprechen handelte, so war es Maleynas Wille gewesen und bisher war es auch nicht nötig gewesen, es auszusprechen oder selbst auch nur einen ernsten Gedanken daran zu verschwenden, da seine beiden Söhne sich bereits eine Zukunft gewählt hatten. Sei es als hoher Herr über das Osthochland, oder ein einfaches und schlichtes Leben im Kreise der Familie.

Der Anblick des Palastes schmerzte Geritors Herz, wie lange war er hier zu Hause gewesen. Auch wenn er sich im Osthochland stets wohl gefühlt hatte, waren dieser Wald, diese Wiesen und alles was sich in diesem Reich befand ein viel zu langer Teil seines Lebens gewesen.

Eleya war nun seinem Beispiel gefolgt und doch war alles anders. Solange Kardel noch lebte, würde sie nicht in völliger Sicherheit sein. Der Elb kannte den Tyrannen nur zu gut, so auch seine Eigenschaft warten zu können. Irgendwann würde sich eine Möglichkeit für seine Rache ergeben, sei es auch nur in einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit.

Geritor hatte noch mit niemanden über seine Sorgen und Ängste gesprochen und war sich auch nicht sicher, ob es sinnvoll wäre. Im gesamten Volk herrschte noch immer zuviel Unruhe und Legolas oder gar seine Tochter wollte er nicht mit noch weiteren Problemen belasten, welche vielleicht erst in ferner Zukunft von belang sein könnten.

Doch er vergaß nicht, dass Thranduil ihn jetzt brauchte, wie grausam musste es für ihn sein, alles was er erschaffen und aufgebaut hatte, so vorzufinden. So zwang sich der Elb seine eigenen Sorgen für einen Moment nach hinten zu stellen und lief über das gespannte Seil zum anderen Ufer. Seine Schritte verlangsamten sich enorm, als Geritor unter der Eingangspforte das Unheil ganz erkennen konnte, er nahm aber alles nur im Vorbeigehen auf, da er überlegte, wohin es Thranduil wohl gezogen hatte. Instinktiv führte es ihn in Richtung eines Jagdzimmers, welches schon immer ein Ort gewesen war, in den sich Thranduil zurückzog wenn er alleine sein wollte oder Ruhe zum Nachdenken brauchte.

Ein kleines Lächeln stahl sich über seine Lippen, als Melyanna mit besorgtem Ausdruck, genau aus dieser Tür herauskam. „Du weißt, wie er gerade ist", der ernste Ton in ihren Worten ließen Geritor nur allzu gut verstehen. Thranduil zog sich immer in sich zurück, wenn ihn eine neue größere Wende eingeholt hatte und suchte einen Weg damit umzugehen. Der König konnte nicht leugnen, dass er noch zu dem alten Schlag des Elbenvolkes gehörte und dass Veränderungen ein Graus für ihn waren.

Melyanna blickte in die leicht gräulichen Augen Geritors und war froh, dass er zum rechten Zeitpunkt zurückgekehrt war, um an der Seite seines besten Freundes zu sein.

„Es wird sich alles wieder zum Guten wenden", anstatt Aufmunterung, fand der Elb bei seinen Worten jedoch nur einen Ausdruck auf dem Gesicht der Königin, welchen er schon seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen hatte, genau genommen seit ihrer Hochzeit.

Er selbst war dabei gewesen, als sie und Thranduil zusammengefunden hatten. Melyanna war immer eine Kriegerin gewesen und ein Teil von ihr war es selbst jetzt noch. Es war ein großer und entscheidender Entschluss von ihr gewesen, ihr gewohntes Leben aufzugeben und an der Seite ihres Geliebten zu bleiben.

Thranduil war sich stets darüber bewusst gewesen, wie stark der Wunsch der Freiheit an ihr nagte. Sie war nie die Art von Frau gewesen, welche nur an der Seite eines Mannes und der Familie lebte. Dem König war es schwer gefallen, nach Legolas Geburt nicht um weitere Kinder zu bitten, auch wenn er gerne noch welche gehabt hätte.

Als Geritor aus seinen Gedanken hoch schreckte, blickte er direkt in Melyannas prüfende Augen, doch sie sagte nichts weiter, sondern wendete sich ab. Beinahe zögernd öffnete der Elb die Tür und blieb erstarrt stehen, als er Thranduil mit gesenktem Kopf am Rand des Kamins sitzen sah. Mit einer Hand griff er in die erkaltete Asche und ließ den feinen Staub langsam durch seine Finger rinnen, nur um sie erneut aufzunehmen.

„Ein neuer Morgen wird kommen mein Freund", doch der König hob nur leicht seinen Blick und lächelte Geritor mit gequältem Ausdruck an. Viele Gedanken und Erinnerungen schienen ihn auf einmal zu überfluten und Hoffnung sowie Zuversicht ersetzten auf einmal seinen Trübsinn.

„Du hast mal wieder Recht Geritor"; Thranduil erhob sich und schritt etwas neben den Kamin. So sehr der Elb auch den König des Düsterwaldes kannte, so vermochte er in diesem Moment nicht zu sagen, was die Überlegungen waren, welche ihn gerade beschäftigten.

Geritor beobachtete regungslos jeden Gesichtszug seines Freundes und erst jetzt wurde ihm etwas bewusst. Thranduil gehörte schon immer mehr zu den Denkern und nicht zu den Kriegern, was nicht bedeutete, dass er kein Heer zu führen wusste. Erst heute hatte er nur zu gut wieder einmal sein Taktikwissen bewiesen und seinem Volk sowohl wieder Frieden als auch Freiheit beschert.

Jedoch mochte er keine großen Veränderungen, sowie eigentlich alle Elben, die schon ein gesamtes oder auch noch mehr Zeitalter durchlebt hatten. Der König liebte sein Volk über alles und würde nichts unversucht lassen es zu beschützen, doch waren neue Zeiten angebrochen. Sämtliche Völker Mittelerdes rückten wieder enger zusammen, was eine große Toleranz verlangte und auch bedeutete Vorurteile ablegen zu müssen. Es würde schwer sein für Thranduil seine Gewohnheiten zu ändern, doch er hatte schon viele Hürden in seinem Leben gemeistert und diese sollte nur eine weitere bedeuten.

Ein breites Lächeln bildete sich in den Mundwinkeln Geritors. „Du solltest nicht hier sein, dein Platz ist draußen, bei den anderen", ohne Widerspruch ließ sich der König zur Tür drängen, was sich auch kein anderer bei ihm wohl je traut hätte zu tun.

Die beiden Freunde hatten noch niemals viele Worte gebraucht, um sich gegenseitig wieder Mut zu machen und doch glaubte Geritor eine Verwandlung in Thranduil zu sehen. Seine Entschlossenheit war wieder zurückgekehrt, doch etwas schien sich noch dazugemischt zu haben.

Legolas stand auf einem Hügel nahe dem Ort wo Meradeth Eleya gefunden hatte und sah schweigend zu, wie die Sonne langsam hinter dem Horizont versank. Ein Tag voller Grausamkeit und Unheil verabschiedete sich. Der Prinz konnte die Tränen seines Volkes nur all zu deutlich spüren, auch wenn seine Familie selbst keinen Angehörigen verloren hatte. Sobald die Dunkelheit der Nacht vollends eingetreten war, sollte Abschied von den vielen treuen Seelen genommen werden, welche die Schlacht nicht überlebt hatten.

„Hier steckt also der Herr Elb", das Brummen, welches hinter Legolas zu hören war, konnte einen glücklichen Unterton nicht verbergen.

Leicht grinsend sah der Prinz zur Seite, direkt in Gimlis Augen, welche funkelnd auf ihn gerichtet waren. Der Zwerg konnte dem festen Blick des Elben nicht lange widerstehen. Er fasste es nicht, dass er es einfach nicht schaffte seinen Freund lange böse zu sein. Genau genommen war er eigentlich dankbar, dass Legolas die Neuigkeiten für sich behalten hatte, denn der Stolz, welcher ihn beim Anblick seines Sohnes erfüllte, war einzigartig gewesen. Das Grummeln, was durch seinen Bart kaum verständlich war, erinnerte den Prinz mehr an ein Lachen, aber die Worte „verdammte Elben" vernahm er dennoch. Allerdings wusste er, wie es gemeint war.

„Meine Besten Wünsche für Gorem und auch eure Zukunft", seine Wort waren voller Ehrlichkeit, aber seltsam ruhig und leise.

Gimli starrte fassungslos seinen Freund an. Nicht nur, dass er von der Geburt seines Kindes gewusst hatte, nein auch der Name seines Sohnes war dem Elben bereits bekannt. Der Name, den Gimli ausgewählt hatte und den Myra bis auf äußerste in den letzten Monaten abgelehnt hatte. Dennoch vergab sie ihm an ihr gemeinsames Kind auch ohne das Beisein des Zwerges, da sie wusste, dass es auch jetzt noch sein Wunsch war.

Der Zwerg wollte sich schon einen scharfen Kommentar auf der Zunge zurechtlegen, als er den melancholischen Ausdruck in Legolas Zügen sah und zugleich unzählige Elben an das Ufer traten. Viele von ihnen hielten ein mit Samt umwickeltes Lämpchen in der Hand, welches auf einem Stück Holz befestigt war und einen sanften silbernen Schimmer von sich gab.

In Legolas Augen spiegelte sich Trauer und Bitterkeit wider, denn jedes einzelne stand für das verlorene Leben eines Elben. Auch wenn der Prinz selbst keinen Verlust beklagen musste, war sein Herz bei den Seelen, welchen er in Mittelerde niemals wieder begegnen würde.

Gimli hatte schon einmal von dem Abschied der Elben von ihren Toten gehört, doch so eine Ehrfurcht und Stille, wie in diesem Moment herrschte, kam dem Zwerg fast schon übermächtig vor.

Eleya war lautlos an Legolas Seite gekommen, hob aber ihren Blick nicht. Doch allein schon ihr Anwesenheit verlieh dem Prinzen zusehends wieder mehr Kraft um auf einen neuen und bessern Tag zu hoffen.

Schweigend wurden die Lichter vorsichtig auf das seichte und noch ruhige Wasser gesetzt und sie trieben mit dem Strom davon. Auf jedem lag in einer hölzernen flachen Schale die Asche des Betrauerten. Diese wurde von der leichten Brise des Windes verweht, um so das Leben, welches man von der Welt bekommen hatte, zurückzugeben.

Gimli beobachtete Legolas verstohlen von der Seite und versuchte sich begreifbar zu machen, von wie langen Freundschaften er sich gerade verabschiedete. Jahrzehnte, Jahrhunderte, selbst Jahrtausende würden es mit Bestimmtheit sein. Eine Vorstellung, welche nur sehr schwer für den Zwerg war, selbst wenn seine eigene Gattung auch viele Sommer im Verhältnis zu anderen Bewohnern Mittelerdes erleben durfte.

Er hatte schon des Öfteren versucht sich begreiflich zu machen, was es bedeutete unsterblich zu sein und niemals äußerlich zu altern. In den Augen des Prinzen spiegelten sich viele Erinnerungen, welche von größter Freude bis zu tiefster Trauer reichten, wieder. Bedeutsame Momente schienen in dem Leben eines Elben von noch weiterer Bedeutung zu sein, als bei jedem anderen. Ihre Entscheidungen waren stets gut überdacht, da ihre Reichweite von anderem Ausmaß in waren.

Es gab eine Frage, die Gimli aber am meisten beschäftigte und zwar was ihre Freundschaft wert war, auch nach seinen eigenen Lebensjahren, wenn der Zwerg nur noch ferne Erinnerung in der Vergangenheit im Leben Legolas geworden war.

Doch Legolas bemerkte die Musterung nicht und wenn doch, dann zeigte er darauf keinerlei Reaktion. Sein Blick ruhte unentwegt auf den Lämpchen, welche sich immer weiter in Richtung des Horizontes bewegten. Sie schimmerten in den letzten dunkelroten, beinah lilafarbenen Sonnenstrahlen und das silberne Licht wurde langsam blasser.

Gimli schreckte leicht hoch, als er plötzlich eine Hand spürte, welche sich auf seine Schulter legte. Aragorn schaute ihn kurz eindringlich an und zog den Zwerg unauffällig ein gutes Stück zurück. Auf seinen verdutzten Blick hin, gab ihm der König Gondors flüsternd eine mehr als kurze Erklärung, worauf Gimli das Bild, welches vor ihm lag, genauer erforschte. Es sah aus, als würde die Welt kurz stehen geblieben sein, da niemand sich bewegte, nur das Rauschen des Wassers und die sanfte Brise des Windes erzählte noch davon, dass die Zeit weiter verstrich.

Es war ihm gar nicht wirklich bewusst geworden, dass diejenigen, welche einen direkten Angehörigen verloren hatten, beinahe mit den Füßen das Wasser berührten und weiter entfernte der Familien ein paar Schritte hinter ihnen standen.

Meradeth war einer dieser, denn ein Sohn seiner Tante gehörte zu den schmerzlichen Verlusten dieses Tages. Für Gimli war es ungewöhnlich ihn so zu erleben, da der dunkelhaarige Elb ansonsten aufgeweckt war und immer einen passenden Kommentar auf der Zunge hatte, wenn der Zwerg etwas von sich gab.

So gingen die Reihen nach hinten immer fort und nahezu das gesamte Volk war erschienen um Abschied zu nehmen. Auf seinem Rundblick fand er Thranduil mit seiner Gemahlin und auch Geritor, doch auch sie hielten ihren Blick konstant auf den Fluss gerichtet.

Je weiter sich die Lämpchen in der mittlerweile vollkommenen Dunkelheit entfernten, desto mehr schien es, als ob sie sich mit dem Licht der Sterne am Horizont vermischten. Es war schwer zu sagen, wie lange man da einfach stand und den immer blasser werdenden Schimmern nachschaute, bis diese einer nach dem anderen zu glimmen begann und schließlich erlosch. Und doch überkam einem das Gefühl, dass sie noch immer brannten, irgendwo zwischen den unendlichen Sternen.

Für die Ewigkeit würde man so ihrer gedenken, bei jedem Blick des Nachts in den Himmel. Gimli ging mit Aragorn als erstes zurück, doch kein Elb machte auch nur Anstalten es ihnen gleich zu tun.

Eines hatte sich jedoch bei Legolas verändert. Er stand nicht mehr alleine da, denn sein Arm war um die Hüfte Eleyas gelegt, sowie sie sich leicht an den Prinzen lehnte. Bis tief in die Nacht hinein hielten sich die Elben an diesem Platz auf und einige warteten sogar noch, bis auch der letzte Stern den ersten Sonnenstrahlen gewichen war.