Curriculum
05: Kummer
"Du wirst diese Welt retten....Rei."
Zero
schrak aus seinem Schlaf auf und fuhr sich über die erhitzte
Stirn. Ein Traum! Noch immer schnürte ihm ein eigenartiges
Gefühl die Kehle zusammen, wenn er an seine Begegnung mit Teela
dachte. Währendessen war ihm klar geworden, dass sie keine
gewöhnliche Frau war - woher sollte sie auch seinen richtigen
Namen kennen? Sie war etwas Besonderes, Geheimnisvolles. Aber warum
hatte sie gerade mit ihm sprechen wollen? "Wir sind gleich."
hatte sie erklärt. In welchem Punkt waren sie gleich? Was meinte
sie damit? Schon einmal hatte jemand diese Worte an ihn gerichtet,
doch das lag lange zurück - Hiead war es damals gewesen, als er
sich wieder einmal mit ihm in der Wolle hatte, kurz nachdem er aus
dem Cockpit der Eeva Leena herausgekommen war. Wie hatte er überhaupt
in die Göttin einsteigen können? Ohne vorheriges Training
war das eigentlich unmöglich. Die Ingrid hätte ihn abstoßen
müssen. Er ließ sich auf sein Kissen zurückfallen und
starrte gedankenverloren auf die kahle Decke über sich. Neben
ihm schliefen Clay und Hiead tief und fest. Hatten die gar keine
Sorgen zu wälzen? Vielleicht sollte er Kizuna fragen, was er tun
sollte....
Sein Herz erwärmte sich, als er sich ihre
Erscheinung vorstellte. Obwohl er die Wahrheit bereits eine geraume
Weile vor sich her schob, konnte er es nun nicht mehr verleugnen.
Hatte er sich zunächst noch eingeredet, dass es nichts weiter
als eine lockere Schwärmerei sei, war ihm nach dem Ball
schlagartig bewusst geworden, dass er sich ernsthaft in seine
Partnerin mit den niedlichen Katzenohren verliebt hatte. Und als
hätte er damit nicht schon genug zu tun, begann morgen das
Training mit den neuen Anwärtern! Hoffentlich war der Neuling,
der ihm zugeteilt werden würde, ein netter und nicht allzu
arroganter Kerl, denn sonst sah es für die zweitägige
Zusammenarbeit schlecht aus. Sein Partner damals war Erts gewesen,
der Jüngste unter den Top-Schülern. Zero hatte miterlebt,
wie der freundliche und zurückhaltende Junge zum vollwertigen
Piloten ernannt worden war. Sein Bruder Ernest war gestorben und er
war zu dessen Nachfolger auserkoren worden. Wann würde wohl
seine Stunde schlagen? Wann würde er endlich eine Göttin
fliegen dürfen? Teelas Worte hallten erneut in seinem Kopf
wider: "Es ist dir vorherbestimmt...."
Ausbilder
Hijikata Azuma räusperte sich, doch es war zu leise, als dass er
die Prügelei, die sich gerade vor seiner Nase abspielte, hätte
unterbrechen können. Eine steile Falte bildete sich auf seiner
Stirn.
"He! Seid ihr taub?! Ich sagte: Ruhe und Disziplin
sind auf GOA notwendig, um...."
Die Rauferei ging fröhlich
und lautstark weiter.
"....VERDAMMT NOCHMAL!!!! HÖRT
MIR ENDLICH ZU!!!!"
Diesmal zeigte das kräftige Organ
des Kapitäns seine erhoffte Wirkung. Das wilde Knäuel
entwirrte sich und fünf Jungen nahmen vor ihm Aufstellung. Die
neuen Anwärter, Nr. 140-144.
"So!! Und jetzt noch einmal
von vorn: Es spielt überhaupt keine Rolle, wer von euch welchem
Top-Schüler zugeteilt wird, also lasst den Blödsinn und
hört auf, euch darüber zu streiten! Die Senior Kadetten
werden in wenigen Minuten hier sein. Denkt daran, ein Kampf mit einem
PRO-ING ist kein harmloses Vergnügen für ein paar
Kleinkinder, sondern im Training wird immer der Ernstfall geprobt!!
IST DAS KLAR?!"
"Jawohl, Sir!!!" erklang es
schallend aus fünf Kehlen.
"Geht doch. Warum nicht
gleich?"
Die Tür hinter ihm schwang zur Seite und eine
Gruppe groß gewachsener Jungen kam herein, anhand der Symbole
auf ihren Schuluniformen als Senior Kadetten erkennbar. Die neuen
Rekruten machten sich ganz klein. Offensichtlich war ihr
Selbstbewusstsein nach Azumas Ausbruch um einen Gutteil geschrumpft.
Du liebe Zeit, die Typen wirkten schon so erwachsen!
"Nr.
140!"
Ein schmächtiger Bursche mit krausem Blondhaar
und grauen Augen trat vor.
"Das hier ist Anwärter Nr.
88, Zero Enna. Er wird dein Partner sein."
Zero streckte dem
verschüchterten Kerl die Hand hin und lächelte, bis er
merkte, dass die Anspannung aus dem Gesicht des anderen gewichen war.
"Freut mich. Meinen Namen hast du ja schon gehört. Und
wer bist du?"
"Ich heiße Jason."
Er
ergriff die dargebotene Rechte und strahlte. Wie gut, dass sein
Sempai nicht so streng war! Im Gegenteil, er schien echt nett zu sein
- umso besser!
"Nr. 141!"
Ein muskelbepackter Hüne,
bei dem die Uniform hier und da bereits gefährlich spannte, mit
einem Haufen Sommersprossen im Gesicht, hellrotem Haar und grünen
Augen, baute sich vor seinem Partner auf, den Azuma ihm zuteilte.
"Das ist Anwärter Nr. 87, Hiead Gner."
"Okay,
Alter, spitz die Ohren! Mein Name ist Thunder und ich lass' mir von
keinem was bieten! Also sieh zu, dass du während unseres
Trainings keinen Mist baust!"
Der Neuling hatte überraschend
schnell zu seinem Selbstvertrauen zurückgefunden, aber auch nur,
weil er meinte, Hiead als zerbrechlichen Schönling einstufen zu
können. Hijikata unterdrückte eine bissige Bemerkung, als
dieses Gelaber an seine Ohren drang und dankte Gott, dass der
unverschämte Bengel an den Richtigen geraten war. Hiead würde
ihm schon Manieren beibringen! Der junge Mann mit den granatfarbenen
Augen musterte seinen Gegenüber in eisigem Schweigen. Ein
abfälliges Lächeln huschte über seine Züge.
"Spitz du lieber die Ohren, Kleiner!" erwiderte er
kalt, wobei er das "Kleiner" absichtlich stark betonte, "Du
bist nicht in der Situation, eine große Lippe zu riskieren! ICH
bin der Top-Schüler von uns beiden! Sei froh, dass ich dich für
deine Frechheit nicht übers Knie lege!"
"...."
"Nr. 142!"
Ein Junge mit kohlrabenschwarzem Haar,
dunklen Brombeeraugen und einer braungebrannten Haut schob sich in
den Vordergrund des Geschehens.
"Das ist dein Partner,
Anwärter Nr. 89, Clay Cliff Fortran."
Er verneigte sich
respektvoll und stellte sich vor: "Ich heiße Kazim. Freut
mich, dich kennen zu lernen, Fortran-sempai."
"Es freut
mich ebenso."
"Nr. 143!"
Der Angesprochene war
ein zierlicher, feminin wirkender Typ mit schulterlangen blaugrünen
Haaren und großen, ausdrucksvollen braunen Augen.
"Das
hier ist Anwärter Nr. 86, Yamagi Kushida."
"Guten
Morgen, Sir. Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft machen zu
dürfen." Der Senior Kadett seufzte unweigerlich.
Hoffentlich war der Kerl nicht das Porzellanpüppchen, nach dem
er aussah, anderenfalls würde er es hier auf der Akademie nicht
einfach haben. Trotzdem durfte er ihn nicht gleich entmutigen!
"Wie
ist dein Name?"
"Ich heiße Jacques, Sir."
"Aha. Na, dann nenne ich dich einfach so. Und ich bin
Yamagi. Den ,Sir' kannst du weglassen. Da komme ich mir nur unnötig
alt vor!"
"Wie Sie wünschen."
"Wie
wär's mit Du?"
"Pardon?"
"Wir sind
schließlich beide Rekruten. Du kannst mich ruhig duzen."
"Wenn Sie es vorziehen."
"Auweia...."
"Nr. 144!"
Der Letzte im Bunde war ein drahtiger,
überschlanker Bursche mit einer rosa Igelfrisur und blauen
Augen, die neugierig und auch ein wenig hochmütig in die Welt
schauten.
"Das ist Anwärter Nr. 85, Roose Sawamura."
Die beiden gaben sich die Hand.
"Schön, dich kennen zu
lernen."
"Kann ich von mir nicht gerade behaupten."
Roose schnappte nach Luft. Was war denn in den gefahren?! Na,
sollte der reden, was er wollte, ein derartig hochtrabendes Gebaren
beeindruckte ihn nicht im Geringsten.
"Wenn du gekommen
bist, um das trotzige Kind heraushängen zu lassen, von mir aus,
aber dann kannst du gleich wieder abhauen. Mit solchen Leuten
vergeude ich nicht meine Zeit!"
Für diese Antwort
erntete Roose vier bewundernde Blicke von seinen Kommilitonen. Sogar
Hiead empfand seine Äußerung als durchaus schlagfertig
genug, um den Neuling in seine Schranken zu verweisen. Azuma nickte
zustimmend.
"Äh...."
"Jetzt hat man dir
wohl den Mund zugeklebt, was? Okay, Kleiner, ich will mal darüber
hinweg sehen, ist schließlich unser erster Tag. Dein
Name?"
"Henry."
"Henry. Gewöhn dir
einen angemesseneren Ton an, ja? Respekt vor jemandem zu zeigen ist
nicht das Schlechteste."
"Damit wären die Teams
aufgestellt. Fangen wir an!"
Tune stand auf der
Aussichtsplattform und blickte traurig in das nachtschwarze All. Dort
draußen, in dieser düsteren Weite, hatte ihr Partner,
Ernest Cuore, sein Leben verloren, indem er ein anderes geschützt
hatte. Hätte er das nicht getan, wäre er jetzt noch hier!
Sie schluchzte auf und heiße Tränen perlten aus ihren
Augen. Er war bereit gewesen, für Gareas zu sterben! Und er
opferte sich. Warum bloß?! Sie presste den Mund zusammen und
verbiss sich einen Aufschrei. Weil sie die besten Freunde waren und
vielleicht sogar mehr als das....Wenn Gareas nicht wäre, würde
Ernest noch leben! Dieser verfluchte Heißsporn, der nicht
nachdachte, wenn er sich in den Kampf stürzte! ER hätte
sterben müssen, nicht der Mann, den sie liebte! Sie sank auf die
Knie und trommelte mit ihrer Faust gegen den sterilen kühlen
Boden.
"Ich....hasse....ihn....!
Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!" dachte sie verzweifelt und
verbittert.
"Tune?"
Sie schrak hoch und erhob
sich eilig, als sie Erts' Stimme hörte. Er sah besorgt aus
und musterte sie mit einer Mischung aus Unruhe und Befürchtung,
als ahnte er, wie ihr Herz sich quälte.
"Du....wolltest
doch noch einmal nach Klein sehen. Hast du jetzt Zeit?"
"Ja. Natürlich."
Sie wischte sich
nachlässig die Tränen aus dem Gesicht und näherte
sich ihm.
"Danke, dass du dich so gut um die Göttin
kümmerst." erklärte er mit einem sanften Lächeln
und wischte einen der salzigen Tropfen fort, die noch in ihren
Wimpern hingen. Plötzlich fühlte er ein machtvolles,
dunkles Bild auf sich einströmen, das ihn erschreckte. Er
zog seine Hand zurück, während seine Lotsin an ihm
vorbeiging und verschwand. Sein Herz klopfte wie rasend.
Unmöglich! Das konnte nicht sein! Aber seine Gabe hatte ihn
noch nie getäuscht....! Seine Finger, an denen die
alptraumhafte Vorstellung wie Schmutz zu haften schien, zitterten
heftig. Nur eine einzige Emotion konnte im Inneren eines Menschen
solch einen schwarzen Abgrund erzeugen, angefüllt mit Wut,
Trauer und Schmerz. Sein Atem beschleunigte sich.
HASS....!
Erts
wusste nicht, was er tun sollte. Es war der Kummer über
Ernests Tod, den sie immer noch nicht überwunden hatte. Er
fraß sie langsam auf....
Tune wanderte mit
ausgreifenden, energischen Schritten, die so gar nicht zu ihrem
eigentlichen Naturell passen wollten, durch die Korridore, bis
sie den Aufzug erreicht hatte, der zu den Ingrids führte.
Sie begab sich zur Luhma Klein und wiederholte einige Checks von
gestern, mit denen sie nicht fertig geworden war. Fröhliches
Lachen ließ sie sich verwirrt umschauen. Es waren Rioroute
und Phil Phleira, die vor Keameia standen und alberne
Zärtlichkeiten austauschten. Ihr wurde übel. Aus Neid.
Warum durften alle um sie herum glücklich werden, nur sie
nicht?!
Die junge Frau mit der großen gelben Schleife
im Haar spürte den stechenden Blick, den ihre Freundin auf
sie richtete. Was war los mit ihr? Sie tippte ihren Partner an
und er wandte sich in Richtung Tune, zuckte aber ebenfalls vor
dem feindseligen Ausdruck in ihrem Gesicht zurück.
"Äh....hallo Tune! Wie geht's?"
"Warum?"
"Warum? Warum was?" erkundigte sich der Pilot
erstaunt, der die Situation allmählich als unangenehm zu
empfinden begann. Der zornige Ton in ihrer Stimme behagte ihm gar
nicht!
"Warum?!" wiederholte sie erbost. "Alle
Welt verliebt sich um mich herum, jeder ist glücklich und
zufrieden, trotz des Krieges, der um uns tobt!! Der Krieg, der
Ernest das Leben gekostet hat!! Wie könnt ihr lachen und
euch freuen, obwohl so viel Leid geschieht?! Und warum darfst DU
den Mann behalten, den du liebst?! Als wenn deine Gefühle
aufrichtig wären!! Hast du dich jemals so um ihn gekümmert,
wie ich mich um Ernest?! Nein!! Eure ganze Beziehung ist doch
bloß ein Spiel, nichts dahinter!! Ich will euer Theater
nicht mehr sehen!!"
Es war ganz still geworden.
Irgendwo ging eine Tür.
Schritte.
Vielleicht.
Oder Einbildung.
Phil Phleira fixierte Tune mit ihren
tiefgrünen Augen. Langsam, fast bedächtig, bewegte sie
sich auf die andere zu. Noch nie zuvor hatte Rio sie so viel
Entschlossenheit ausstrahlen sehen. Schließlich stand sie
vor der Lotsin von Maschine 05 und maß sie genau ab, als
hätte sie eine Fremde vor sich.
Im nächsten Moment
knallte eine Ohrfeige.
"Jetzt habe ich aber genug!! Ich
kann verstehen, dass der Tod eines geliebten Menschen nur schwer
zu akzeptieren ist, aber das Leben geht weiter!! Du kannst dich
doch nicht für immer in deine Trauer zurückziehen und
alle anderen dafür verdammen, wenn sie glücklicher sind
als du!! Glück verdankt man nicht nur anderen!! Es ist an
dir, etwas aus deinem Leben zu machen!! Wenn du den Kummer in
deinem Herzen nicht durch eigene Kraft besiegst, wird er dich
besiegen und dich zerstören!! Was erwartest du denn?!
Lebensgenuss rund um die Uhr, Sorgenfreiheit, Glück und
Liebe wo immer du hinkommst?! Denkst du etwa, das Leben wäre
eine Art Schlaraffenland, in dem dir die Erfüllung all
deiner Träume in den Hals gestopft wird wie die gebratenen
Tauben?! Du musst kämpfen - und wenn es sein muss, auch
gegen dich selbst, denn allein man selbst ist seines eigenen
Glückes Schmied!! Ernest wird niemals für immer
sterben, denn er lebt in deinem Herzen weiter!! Was würde er
sagen, wenn er wüsste, wie sich seine ehemalige Partnerin
von ihrem Schmerz Stück für Stück auffressen
lässt?!"
"Phil Phleira...." hub Rioroute
an.
Sie schwieg atemlos, ihre Tränen krampfhaft
unterrückend. Tune stand da, als wäre sie zu Stein
erstarrt. Der Pilot legte die Arme um die Frau, die er liebte,
und sagte:
"Ich verstehe deine Qual, glaub mir. Wenn
Phil Phleira etwas zustoßen würde.... würde ich
vermutlich genauso reagieren wie du. Ich könnte es auch
nicht ertragen und würde mich von meiner Umgebung abkapseln.
Ich würde ewig schönen Erinnerungen nachhängen,
von dem träumen, was gewesen ist, weinen und schreien, mich
aufgeben, die Hoffnung verlieren. Aber das wäre nicht
richtig. Vielleicht würde mich auch erst eine Ohrfeige zur
Vernunft bringen. Doch ich denke, ich wäre dankbar für
diese Ohrfeige, von wem auch immer ich sie bekommen würde.
Was ist mit Galew? Er hat sich sein stürmisches, energisches
und doch irgendwo liebenswertes Wesen bewahrt, obwohl er mit dem
Bewusstsein lebt, dass er hätte sterben sollen, nicht
Ernest. Glaubst du, er ist glücklicher als du? Tief in
seinem Herzen? Nein. Aber er kämpft. Er ist nicht bereit,
sich von seinem Kummer vernichten zu lassen. Das Leben geht
weiter. Er ist nicht in den gefährlichen, endlosen Abgrund
der Trauer gestürzt, weil er bereit war, sich auffangen zu
lassen. Er hat die hilfreichen Hände ergriffen, die sich ihm
entgegenstreckten. Du hast jedoch von Anfang an jeden Trost von
dir gewiesen. Nach außen gabst du dich gefasst und stark,
aber du bist gefallen, immer tiefer, in ein kaltes Loch in deiner
Seele. Der Hass auf Galew wird dir nicht helfen. Ihn für das
verantwortlich zu machen, was geschah, ist keine Lösung. Er
trägt die Überzeugung seiner Schuld schon mit sich.
Diese Last ist schwer genug. Meinst du nicht auch?"
Tune
antwortete nicht.
"Er hat recht."
Die drei
Menschen in der Halle drehten sich überrumpelt um und
bemerkten eine Gestalt im Türrahmen, die sie nicht erwartet
hatten. Die Schritte waren wohl doch keine Einbildung gewesen.
Gareas.
"Hör zu. Ich weiß, dass Ernest für
mich gestorben ist. Er opferte sein Leben, um mich zu schützen.
Mit diesem Wissen weiterzuleben, ist nicht leicht. Es kostet viel
Kraft, mehr vielleicht, als ich tatsächlich besitze. Ich
trauere noch ab und zu. Aber ich weiß auch, dass Ernest
nicht gewollt hätte, dass ich zu lange um ihn weine. Was
soll ich tun, damit du mir glaubst? Dich um Verzeihung bitten?
Das wird ihn nicht zurückbringen. Wenn du dich in deinem
Schmerz verlierst, wird die Wunde in deinem Herzen nur größer
und du wirst niemals mehr glücklich sein. Willst du das? Du
hast viele, denen du etwas bedeutest - Phil Phleira, Kazuhi,
Leena, weil du ihnen stets eine treue und gute Freundin warst.
Und Rio, Yu, mich, Erts, weil du für uns da warst, wenn wir
Probleme hatten. Du magst still und in dich gekehrt sein, aber
wir alle wussten, wenn uns etwas plagt, konnten wir mit dir
darüber reden. Selbst Teela hat sich um dich gesorgt, ein
kleines bisschen wenigstens, und das ist bei ihr eine Menge. Gib
nicht auf, Tune! Nicht hier und jetzt!"
Er betrachtete
sie flehend.
"Lasst mich in Ruhe." erwiderte sie
monoton und verließ die kleine Gruppe. Galew seufzte. So
hatte er sich das gewiss nicht vorgestellt. Es war, als würde
er gegen eine Wand anrennen, die immer dicker wurde, je öfter
er dagegen schlug. Wie sollte er die grausamen Fesseln des
Kummers und der Trauer zerreißen, wenn sie selbst dafür
sorgte, dass sie von neuem damit umsponnen wurde? Oder war es
bereits zu spät? Hatte er zu lange gezögert, um ihr
eine rettende Hand zu reichen? War das wieder seine Schuld? Er
kratzte sich am Kopf, und spürte, wie eine eigenartige
Schwere von ihm Besitz ergriff. Er musste ihr helfen. Aber
wie?
Phil Phleira und ihr Partner hatten sich diskret
zurückgezogen, als Galew seine Rede beendet hatte. Tunes
Reaktion war wie ein Schlag in die Magengegend gewesen. Plötzlich
brach das Mädchen die lastende Stille.
"Ist unsere
Beziehung wirklich nur ein Spiel?"
"Was meinst du
damit?"
"Das waren ihre Worte. Ist es dir ernst oder
bin ich nur eine unter vielen für dich?"
"Was
soll das? Das müsstest du doch wissen."
"Ach?
Und warum kannst du es mir nicht einfach sagen?"
Er
schwieg.
".....Ha! Es ist also doch wahr! Für dich
ist alles nur ein Spiel, ja? ,Ich liebe dich' ist nur hübsches
Beiwerk, der Kuss war bloß Theater?"
"Fühlt
sich ein Theater so....echt an?"
"Vermutlich bist
du nur ein exzellenter Schauspieler!"
Rioroute
trat auf sie zu, packte sie an den Armen und bog ihr Kinn mit
gebieterischer Sanftheit nach oben.
"Phil Phleira. Das ist
das erste Mal, das ich dir dies sage. Für mich gibt es keine
andere Frau als dich, und wird es auch nie geben. Du lässt mein
Herz singen, wenn du lächelst, deine Stimme ist wie der schönste
Gesang für mich, deine strahlenden Augen lassen mich alle Sorgen
und Nöte vergessen. Deine Berührungen befreien mich von
meinen Schwierigkeiten, von meiner Angst, meinen Zweifeln. Selbst
wenn ich versuchen würde, eine andere zu finden, es würde
nicht funktionieren. Du bedeutest mir mehr als mein eigenes Leben,
ich würde....ich würde für dich sterben, Phil Phleira.
Es gibt kein Licht, keine Wärme, kein Lachen, kein Glück,
wenn du nicht bei mir bist. Ich will niemanden außer dir. Wenn
ich nicht dein Partner wäre, so wäre ich gerne dein Diener,
nur um in deiner Nähe zu sein. Früher hätte ich jeden,
der so was Kitschiges von sich gegeben hätte, in Grund und Boden
gestampft, aber seit ich dich kenne, weiß ich, dass es das
gibt, die große Liebe. Du bist die Luft in meinen Lungen, der
Grund, warum ich kämpfe, der einzige Mensch, bei dem ich
wirkliche Geborgenheit und Frieden finde. Ich liebe dich. Nichts und
niemand wird je etwas daran ändern."
Um seine Worte zu
unterstreichen, küsste er sie ein zweites Mal, innig und
leidenschaftlich. Sie hatte den Eindruck, von einer mächtigen
Woge mitgerissen zu werden. Ihr Glücksgefühl nahm eine
Heftigkeit an, die sie erschreckte. In jeder Faser ihres Körpers
ließ er sie spüren, wie sehr er sie liebte, begehrte. Ihr
Herz war am Überlaufen. Sie presste sich an ihn, umschlang ihn
fest, als wolle sie ihn nie mehr loslassen und erwiderte schließlich
seinen Kuss. Ihre schwelenden Zweifel wurden fortgespült in
einer einzigen, rauschhaften Sinneswahrnehmung. Wie hatte sie glauben
können, dass er es nicht ernst meine....? Nachdem er sich von
ihr gelöst hatte, betrachtete er sie lange und intensiv.
"Verzeih mir", flüsterte sie. "Ich hätte
nicht...."
"Du sorgst dich um Tune, nicht wahr? Deshalb
warst du auch so wütend. Du willst, dass sie einsieht, wie
falsch der Weg ist, den sie eingeschlagen hat."
"Ja....Was
soll ich tun, Rio? Ich möchte ihr helfen, aber ich weiß
nicht, wie."
"Wir werden uns zusammen etwas überlegen,
was meinst du? Wir dürfen nicht zulassen, dass sie sich selbst
aufgibt. Ich bin bei dir. Wenn wir fest daran glauben, dass wir es
schaffen, dann werden wir es auch schaffen."
"Du bist
sehr optimistisch."
"An etwas zu glauben, ist nicht
sinnlos oder unnütz. Es vermittelt dir Kraft und verleiht dir
den nötigen Mut, den du brauchst, um im Leben zu bestehen. Weil
du an mich glaubst, kann ich im Kampf stark sein, weil ich dein
Vertrauen habe, kann mich niemand aufhalten. Tune hat ihre Hoffnung
und ihren Glauben verloren. Wir müssen ihr bei der Suche danach
helfen."
"....Rio.....ach Rio!"
Tränen
traten ihr in die Augen und sie warf sich ihm an die Brust. Er ließ
sein Kinn in ihrem weichen Haar ruhen und strich ihr zärtlich
über den Rücken.
"Was auch immer kommen mag, wir
bleiben zusammen. Der Krieg erzeugt viel Leid und Schmerz. Aber wir
dürfen nicht vergessen, dass es unsere Zukunft ist, um die wir
kämpfen. Weine nicht, mein Liebling. Es gibt ein Licht am Ende
des Tunnels, auch für Tune. Sie muss nur bereit sein, darauf zu
zugehen."
Teela
wanderte durch die dunklen Korridore der Raumstation. Ihre Schritte
hallten von den kalten Wänden wider. Zion leuchtete ihr aus der
Schwärze des Weltraums entgegen. Der Planet war wie ein Licht am
Ende eines Tunnels. Tune hatte sich davon abgewendet. Aber noch war
es nicht zu spät. Für niemanden.
"Ja. Du wirst
diese Welt retten....Rei."
Wer träumt, dem
wachsen Flügel.
Die nächste Folge heißt:
"Curriculum 06: Freundschaft"
