Curriculum
06: Freundschaft
Saki stand vor dem Quartier der Anwärter
87-89 und wartete. Sie wollte Clay zum Training abholen - und
außerdem musste sie ihm endlich gestehen, was sie für ihn
empfand. Weiter zu schweigen würde nichts ändern. Als
erstes verließ Hiead das Zimmer, mit mürrischem
Gesichtsausdruck, wie gewöhnlich. Hinter ihm humpelte Zero
heraus, ungehalten vor sich hin murmelnd:
"Was fällt
den dem ein?! Was heißt hier, ich wäre zu lange
aufgeblieben und hätte seine Nachtruhe gestört?! Und dann
gleich ein Tritt gegen das Schienbein! Wenn er nicht mein Kumpel
wäre, würde ich ihn...."
Saki schmunzelte. Dank
Clay war sie bereits im Bilde. Die Rivalität zwischen den beiden
flammte zwar noch ab und zu auf, doch im Grunde - und was sie auch
garantiert niemals zugegeben hätten - waren sie mittlerweile zu
Kameraden geworden. Wohlgemerkt nur "Kameraden", denn von
einer richtigen Freundschaft, wie sie zwischen ihrem Partner, Zero,
Roose und Yamagi bestand, konnte natürlich keine Rede sein, denn
Hiead grenzte sich noch immer ab. Endlich erschien Clay im Türrahmen.
Sie begrüßte ihn anmutig und sie marschierten los. Auf
halbem Weg hielt sie an und sprach ihn an.
"Weißt
du....ich....wollte dich eigentlich schon eine ganze Weile fragen,
warum du mich vor sechs Tagen....also, kurz vor dem
Kampf....ge....geküsst hast...." Er drehte sich nicht um.
"Warum willst du das wissen?"
"Na, also hör
mal - schließlich passiert mir so was nicht gerade oft!"
"Ich....wollte dich trösten."
"Trösten?
Ist das etwa....der einzige Grund?!"
Ein Zittern ergriff
ihren Körper und sie ballte die Hände zu Fäusten. Ihre
Augen wirkten fiebrig. Er stieß einen Seufzer aus.
"Es
war doch gar kein richtiger Kuss, mehr....eine freundschaftliche
Geste."
"Eine....freundschaftliche Geste?! Du machst
Witze! Ich....ich glaube dir nicht!" stieß sie hervor. Er
antwortete nicht, statt dessen setzte er sich wieder in Bewegung, in
Richtung PRO-ING-Gelände. Saki konnte einen Moment nur sprachlos
hinter ihm her starren. Dann lief sie ihm nach.
"Was
erwartest du denn von mir?!" fuhr er plötzlich heftig auf.
"Ich....will nicht, dass du mein Herz an mich hängst!! Wenn
du das tust, wirst du leiden, sobald ich kämpfe! Letztens, als
du mir in die Arme gefallen bist, ist es mir klar geworden - dass ich
dich nicht traurig machen will, dass ich dich nicht weinen sehen
will! Und deshalb....müssen wir Freunde bleiben....denn
wenn....wenn wir ein Liebespaar sind, würdest du bei meinem Tod
noch trauriger sein....Ich will das nicht...."
"Idiot!"
Saki traten Tränen in die Augen. "Ich....ich....ich habe
doch mein Herz schon längst an dich verloren! Selbst, wenn du
die distanziertere Rolle eines Freundes behältst, was würde
es an meinen Gefühlen für dich ändern?!"
"Aber....aber...."
"Kein aber! Warum verstehst
du denn nicht? Ja, du bist ein Besserwisser, ein Bücherwurm, ein
Oberlehrer und ein wandelnder Computer, aber....aber ich liebe dich!"
Nun schluchzte sie hemmungslos. Es schmerzte ihn, die sonst so
fröhliche und vergnügte Saki dermaßen aufgelöst
zu sehen. Sein Herz begann wie wild zu pochen.
"Was....soll
ich denn tun?" erkundigte er sich verzweifelt, denn er fühlte
sich schwach werden angesichts der herrlichen Rubine, die nun in
durchsichtiges Silber getränkt waren. Sie war wunderschön
und stets an seiner Seite, stark, tapfer und intelligent.
"Hör
doch einmal in deinem Leben auf das, was dein Gefühl dir rät",
flüsterte das Mädchen und blickte ihn durch feuchte Wimpern
heraus an. Sie spürte, dass es in ihm arbeitete und je länger
sie ihn betrachtete, desto mehr versank sie in seinen braunen Augen,
die sie an dunkle Topase erinnerten. Ihr Partner. Ihr Freund. Ihre
Liebe.
"Du glaubst, dass ich auf diese Weise eine Lösung
finde?"
"Ich weiß es. Was befiehlt dir dein Herz?"
Sie wischte sich die Tränen nachlässig fort und wartete
auf seine Reaktion, darauf hoffend, dass das Schicksal mit ihr war.
Während des Tanzes auf dem Ball hatte sie deutlich eine
machtvolle Emotion in ihm wahrgenommen. Sie war so glücklich
gewesen in jenen Minuten, die der Tanz gewährt hatte, und sie
wollte nicht glauben, sich in dieser warmen Aura getäuscht zu
haben. Er musste sie lieben, eine andere Erklärung gab es nicht
dafür! Warum sagte er es nicht endlich?
"Was mir mein
Herz befiehlt? Es...."
Er legte die Hand auf die Brust und
schwieg, als müsse er tatsächlich in sich hineinhorchen.
Auf einmal, Saki wusste kaum, wie ihr geschah, trat er auf sie zu,
umfasste ihre Taille und küsste sie. Allerdings bei weitem nicht
so dezent, wie er es vor ein paar Tagen getan hatte, sondern richtig,
heiß und stürmisch. Ihr Widerstand erlahmte praktisch
sofort. Hingegeben und verzaubert durch die Wonne des Moments, zog
sie ihn mit den Armen eng an sich, schloss die Augen und öffnete
sich seinem leidenschaftlichen Werben. In diesem Kuss erkannte sie
mit bestechender Klarheit das verborgene Feuer, das in ihm
schlummerte, und von dem sie bisher nicht einmal etwas geahnt hatte.
Es war ihr, als würde sie in ein Meer aus Flammen getaucht, die
sich in ihr Fleisch brannten, ohne sie zu verletzen. Das Feuer war
überwältigend, zärtlich, gebieterisch und sanftmütig
in einem und verschlang sie. Nachdem er sich von ihr gelöst
hatte, strich er mit dem Finger leicht über ihre geröteten
Wangen. Sie rang ein wenig nach Atem und hatte Mühe, in die
Realität zurückzufinden.
"Wow....War....war das
dein erster Kuss?" Er nickte.
"Im Ernst?
Ich....eh....hatte den Eindruck, du....wüsstest bereits, wie
das....eh....funktioniert...."
"Ich lese auch Romane mit
Liebesgeschichten. Manche Autoren sind in diesem Punkt der
Beschreibung recht ausführlich. Aber es ist nicht so, dass ich
bisher....praktische Übung darin hatte."
Er hustete
etwas verlegen, lächelte sie jedoch dabei an.
"So....hm.
Nun, deine....Umsetzung von gelesenen Dingen ist
sehr....beeindruckend."
"Ach wirklich?"
"Was
nicht heißt, dass du dir jetzt was darauf einbilden sollst!!"
Clay schmunzelte und zog sie erneut in eine feste Umarmung. Er
drückte seinen Mund spielerisch auf ihre Nase, während Saki
sich so leicht fühlte, dass sie hätte davonfliegen können.
"Ich liebe dich." hauchte er sanft in ihr Ohr und sie
schmiegte sich an ihn und wünschte sich, dass dieser Augenblick
nie enden möge.
"Seid ihr fertig, ihr
Turteltauben?"
Die beiden fuhren auf wie gestochen. Vor ihnen
stand ein grinsender Zero, der es sich nicht nehmen ließ,
seinen Freund mit vielsagenden Blicken zu mustern, worauf dieser mit
dem betont langsamen Hochschieben seiner Brille zu verstehen gab,
dass jede eventuelle Nachfrage in höchstem Grade unpassend sei.
Unter Clays Adleraugen (Zero begann, sich ein kleines bisschen
ungemütlich zu fühlen) begaben sich die drei zu den
PRO-INGs, wo man bereits auf die Nachzügler mit der Nummer 89
gewartet hatte. Kizuna und Ikhny genügte ein Blick in Sakis
Gesicht, um zu verstehen. Lediglich Wrecka beschwerte sich lauthals
über die Verspätung. Roose gebot ihr, still zu sein und sie
war eigentümlich bestürzt über seinen harten Ton. Sie
konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihn in solche
Wut versetzt haben mochte. Überhaupt geschahen in ihrer Umgebung
immer häufiger merkwürdige Dinge - zum Beispiel fiel für
Yamagi heute das Training aus, da es Tsukasa nicht gut ging. Sein
Partner, der feminine Jacques, kämpfte deshalb mit Hiead,
worüber er nicht besonders erfreut war. Bereits während des
Frühstücks hatte ihre Zimmergenossin und Freundin sich
seltsam verhalten, noch zurückhaltender und kühler als
normalerweise. Na ja, darüber konnte sie sich auch später
noch den Kopf zerbrechen!
Tsukasa saß auf ihrem Bett
und grübelte. Was zum Teufel war nur mit ihr los?! Sie hatte das
Training ausfallen lassen, durch eine Ausrede, eine Lüge!
Verärgert über sich selbst, warf sie sich zurück auf
die frisch gemachten Laken und verschränkte die Arme hinter dem
Kopf.
RÜCKBLENDE
Yamagi traf
auf der Krankenstation ein. Dr. Croford untersuchte sofort seine
Beinverletzung und entschied, die Wunde auf der Stelle zu nähen.
Währendessen wartete Tsukasa auf die Ärztin und darauf,
dass man sie zu ihrem Partner lassen würde. Als Dr. Croford zu
ihr kam, schlüpfte ein Mädchen zur Tür herein, das
Lotsenanwärterin Nr. 86 noch nie aufgefallen war. Dennoch schien
sie ihr irgendwie bekannt und schließlich wusste sie auch,
warum - sie hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Rick, ihrem
großen Schwarm!
"Nanu, wen haben wir denn hier?"
"Ich
bin Miranda Solares, Frau Doktor, die Schwester von Anwärter
97. Ich wollte fragen, wie es Yamagi-kun geht, weil er doch
verwundet worden ist. Kann ich ihn sehen?"
"Eh,
natürlich, aber ich hatte eigentlich gedacht, seine
Partnerin...."
Den Rest ihres Satzes hörte Miranda
schon nicht mehr, sie war wie der Blitz im Krankenraum
verschwunden.
"Ja, also, das ist doch....keine Manieren,
diese jungen Dinger!"
Tsukasa war sichtlich verwirrt.
Was wollte Ricks Schwester von Yamagi? Und woher kannte sie
überhaupt seinen Namen? Von irgendeinem irritierenden Gefühl
aufgewühlt, folgte sie der anderen. Das Bild, das sich ihr
bot, nachdem sie das Patientenzimmer betreten hatte, traf sie wie
ein harter Schlag. Miranda hatte neben dem Bett Platz genommen,
hielt die Hand des Jungen und strich liebevoll über seine
Stirn. Er blinzelte und fragte, wer sie sei. Mit einem warmen,
herzlichen Lächeln stellte sie sich ihm vor und erklärte,
dass sie sich um ihn kümmern würde, bis er entlassen
werden könne. Verblüfft richtete er sich auf.
"Aber....warum willst du das tun? Wir kennen uns doch
gar nicht!"
"Noch nicht. Aber....aber ich finde dich
wahnsinnig süß! Und, na ja, irgendwie....hatte ich
gehofft, du könntest mich auch ein bisschen gern haben...."
Tsukasa hatte genug gehört. Sie machte auf dem Absatz
kehrt und rannte, als gälte es das Leben. Ihr Herz klopfte
schwer gegen ihren Brustkorb. Sie meinte, einen schmerzhaften
Stich in sich zu spüren, schluckte ihre Tränen wütend
hinunter und lief weiter. Sie lief beinahe durch ganz GOA, bevor
sie endlich, erschöpft und nach Atem ringend, stehen blieb.
Etwas in ihr schrie auf wie ein Vogel in einem Käfig. Es tat
weh! Grauenhaft weh!
Nach diesem Vorfall brachte sie es nicht
mehr fertig, Yamagi zu besuchen. Das zweite und dritte Mal, als
sie noch den Mut gehabt hatte, ihn zu sehen, hatte sie jedes Mal
Miranda angetroffen. Sie hatte neben seinem Bett einen Strauß
bunter Blumen aufgestellt (vermutlich aus der Erholungsanlage;
wenn Azuma das gewusst hätte!), las ihm etwas vor und
erzählte ihm vom Training der Anwärter. Und er schien
sich wirklich wohl in ihrer Gesellschaft zu fühlen.... Hatte
er jemals so gelacht, wenn sie mit ihm zusammen war? Tsukasa
verglich sich widerwillig mit Miranda und schnitt schlecht ab.
Miranda war kleiner als Yamagi, was ihm, wie sie sich missmutig
eingestehen musste, sicher wesentlich lieber war, außerdem
war die Schwarzhaarige mit dem langen geflochtenen Zopf viel
weiblicher als sie, nicht so reserviert und viel offener und
humorvoller. Natürlich, ihr Partner war binnen der letzten
zwei Jahre beachtlich gewachsen, aber größer als sie
war er immer noch nicht, nur gleich groß. Dieses Thema
wurmte ihn nach wie vor, das wusste sie. Dr. Croford entfernte
schließlich die Fäden und ließ mit Hilfe ihrer
medizinischen Ausrüstung auch die kleinsten Anzeichen der
Verletzung verschwinden. Ursprünglich hatte Tsukasa ihn
abholen wollen, doch als sie um die Ecke bog, entdeckte sie
Miranda, die Yamagi an der Hand genommen hatte und ihn zur Feier
seiner Entlassung zum Essen einlud. Aber das war nicht das
schlimmste....das schlimmste kam erst am nächsten
Tag....
Mit energischen Schritten durchmaß Lotsin
Nr. 86 die Korridore des Schulungszentrums auf der Suche nach
ihrem Partner, der bereits vor einer geschlagenen halben Stunde
beim Training hätte erscheinen sollen! Sie fand ihn. Er war
in eine Unterhaltung mit Ricks Schwester vertieft und bemerkte
sie nicht einmal.
"Yamagi! Ich warte schon seit 30
Minuten auf dich! Ausbilder Azuma springt vor Wut im Dreieck!
Kommst du endlich?!"
Es war selten, dass sie ihn so
anfuhr.
"Hä? Oh, scheiße! Entschuldige, ich
hab total die Zeit vergessen!"
Er gab Miranda einen
flüchtigen Kuss auf die Wange und entschwand.
"Was....was
sollte denn das?!"
"Was?"
"Du....hast
sie geküsst!"
"Na und? Wenn du ihren
Zwillingsbruder anhimmelst wie einen Engel persönlich, hast
du ja sicher nichts dagegen, wenn ich mit einem anderen Mädchen
gehe?"
"...."
Da sie nichts erwiderte,
blieb er stehen und warf einen Blick über die Schulter. In
seinen Augen war keine Regung zu lesen, doch sie meinte, eine
Spur von Verbitterung darin zu erkennen.
"Du gehst mit
ihr?"
Kam es nur ihr so vor, oder klang es wie ein
Schrei?
"Ja. Ich bin dir über nichts, was ich tue,
Rechenschaft schuldig, Tsukasa. Wenn ich eine Freundin habe, ist
das ganz allein meine Sache. Du hast doch Solares. Also."
Damit ging er weiter, ohne darauf zu achten, dass sie immer
noch wie zu einer Statue erstarrt im Gang stand und ungläubig
vor sich hin stierte. Plötzlich brach ihre eigenartige
Trance. Ein unerträglicher Schmerz explodierte in ihrem
Inneren.
"Ya....ma....gi...."
ENDE
DER RÜCKBLENDE
Ein Schatten fiel auf ihr
Gesicht. Eine neue Tränenflut wallte in ihr auf und drohte
sie zu überschwemmen. Ihre Hand krampfte sich in das
Bettlaken. Warum quälte sie das sosehr? Warum? WARUM?!
Rick sah sich suchend um. Es konnte doch nicht so schwer
sein, Ikhny-chan zu finden! Obgleich er es ihr gegenüber
wohl nicht so rasch zugeben würde, hatte er sich tatsächlich
in sie verliebt. Das passierte ihm zum ersten Mal und umso
verwirrter war er, denn bisher hatte er es mit keiner wirklich
ernst gemeint. Seine übliche Selbstsicherheit hatte ihn im
Stich gelassen. Außerdem war da noch dieses "störende
Subjekt", Hiead Gner! An einem zähnefletschenden Victim
vorbeizukommen war einfacher! Zu seiner großen Freude
entdeckte er auf einmal einen rosafarbenen Schopf mit
Katzenohren. Wo Kizuna-san war, konnte ihre beste Freundin auch
nicht weit sein. Ja - sie lief neben ihr her. Das Training war
also vorbei (Ist natürlich ein kleiner Zeitsprung drin,
klar?). So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er auf die
beiden Mädchen zu und verbeugte sich elegant, um einen guten
Eindruck zu machen (der allerdings an Kizunas Meinung über
ihn nicht viel geändert hätte, und wäre der
Eindruck zehnmal so gut gewesen).
"Ikhny-chan. Ich
wollte gerade zu dir. Würdest du....würdest du heute
Abend mit mir ausgehen?"
Diese Frage verblüffte sie
über die Maßen. Meinte es das ernst? Der umschwärmte
Rick Solares, von seinen Geschlechtsgenossen als "Playboy"
und "Macho" eingestuft (womit sie auch irgendwo recht
hatten) und der Traummann ihrer Freundin Wrecka, bat sie,
ausgerechnet sie, um eine Verabredung? Sie zögerte,
zuzustimmen.
"Kizuna!"
Es war Zero, der bereits
auf seine Partnerin wartete, um mit ihr das Mittagessen
einzunehmen. Sie warf Ikhny noch einen beschwörenden Blick
zu, ignorierte Rick geflissentlich und folgte Zero. Die beiden
waren allein.
"Ich....ich weiß nicht, was ich
sagen soll...."
"Sag einfach Ja! Ich würde
mich sehr freuen, wenn du mit mir kämst. Nun?"
Sie
senkte die Lider und blickte zur Seite, durcheinander wie sie
war. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Gewiss, sie
verurteilte ihn bei weitem nicht so rigoros wie Kizuna es tat,
aber sie war sich nicht sicher, ob sie ihn genug mochte, um mit
ihm auszugehen. Rick war fasziniert von ihrer Schönheit. Die
warmen braunen Augen mit den langen, wundervoll geschwungenen
Wimpern, die süße Nase, die rosigen Wangen, das
wallende Haar und die matt glänzenden, schimmernden
Lippen....Er musste schlucken. Eine eigentümliche, ihm
völlig unbekannte Hitze bemächtigte sich seiner und
vernebelte seinen Verstand. Mechanisch ergriff er ihre Schultern,
beugte sich hinunter und küsste sie. Ikhny erschrak
zutiefst.
"DIR GEHT'S WOHL ZU GUT!!!!"
Eine
starke Hand packte Anwärter Nr. 97 von hinten und
schleuderte ihn rücksichtslos gegen die gegenüberliegende
Wand. Nur langsam vermochte er, aus seinem Dämmerzustand
aufzuwachen. Als er wieder klar sehen konnte, erhob sich drohend
über ihm - wer wohl? - Hiead Gner, der natürlich im
unpassendsten Moment auftauchen musste! Rick verbiss sich einen
Fluch. Der - Kerl - nervte - ihn!!
"Ikhny!" wandte
sich Hiead gleich darauf an seine Lotsin, "Du wirst nicht
mit ihm ausgehen! Ich verbiete es!"
Sie sah ihn mit
plötzlichem Widerwillen an und Ablehnung lag in ihrer
Stimme. Sie klang kühler als er sie je vernommen hatte und
er musterte seine Partnerin mit einer Mischung aus seiner
gewohnheitsmäßigen Verachtung und einer unbestimmten
Furcht.
"Du....VERBIETEST es?!"
Der
silberhaarige Junge war ebenso überrascht über seinen
(für ihn) unverständlichen Besitzanspruch wie über
Ikhnys anklagenden Blick. Nie hatte sie erboster gewirkt als
jetzt - und nie, gab er insgeheim zu, hatte sie schöner und
stärker ausgesehen.
"Wenn das so ist",
entgegnete sie spitz, "dann werde ich mit Rick ausgehen.
Heute Abend?"
"Eh, ja. Du willst also? Super! Ich
hole dich um acht ab, in Ordnung?"
Sie nickte und er
verließ sie mit einem glücklichen Grinsen.
"Ikhny!
Was soll das?! Der Kerl ist ein Schwindler! Er ist nicht an dir
als Person interessiert, sondern an dir als hübsches
Mädchen! Weißt du eigentlich, was du da tust?!"
Sie
schwieg. Hieads Temperament ging mit ihm durch. Er drückte
sie gewaltsam - wie schon einmal zu Beginn ihrer Ausbildung -
gegen die Wand und zischte leise:
"Du wirst nicht mit ihm
ausgehen, hörst du?! Du bist MEINE Partnerin! Dein Job ist
es, mich zu unterstützen und nicht, irgendwelchen
Volltrotteln hinterherzurennen!
Ich...."
!KLATSCH!
Stille.
Seine granatfarbenen
Augen waren geweitet. Er wich zurück. Unwillkürlich
legte sich seine Hand auf die Wange, auf der die Ohrfeige
gelandet war.
"Jetzt reicht es mir! Zwei Jahre lasse ich
mir nun schon deine Missbilligung, deine Verachtung, deine
Gleichgültigkeit, deine Unfreundlichkeit und deine
Kaltherzigkeit gefallen! Ich habe immer mein Bestes getan, um dir
zu helfen, aber ich habe kein einziges Mal ein Dankeswort
erhalten! Auf dem Ball war in mir die Hoffnung gekeimt, du
würdest endlich deine eisige Maske fallen lassen, aber das
war ein Irrtum! Ich habe mir eingeredet, ich könnte deine
Fassade eines Tages durchbrechen und dich von all den schlimmen
und furchtbaren Ereignissen, die dein Herz so brutal verletzt
haben, befreien und dich lehren, wieder Vertrauen zu anderen
Menschen zu fassen! All meine Bemühungen waren umsonst! Was
bin ich für dich?! Immer noch nichts weiter als ein
Gegenstand?! Ich will nicht mehr, verstehst du?! Ich....ich hasse
dich!!"
Danach lief sie davon.
Hiead lehnte sich an
die Wand, an der Ikhny zuvor noch gestanden hatte. Langsam, fast
wie in Zeitlupe, rutschte er daran hinunter und hockte
schließlich, mit angewinkelten Beinen, auf dem kalten
Fußboden. Dann umschlang er seine Knie mit den Armen,
beugte seinen Kopf vor und verbarg sein Gesicht. Es war bleich.
Alles schien sich um ihn zu drehen. Niemand außer ihm war
im Korridor. Er war allein. Schrecklich allein.
"Ich
hasse dich!" hatte sie ihn angeschrieen.
Und es war ihm,
als würde etwas in ihm zerbrechen.
Wie lange er so
saß, vermochte er nicht zu sagen. Hiead verlor jegliches
Zeitgefühl. Er schien nichts und niemandem mehr Beachtung zu
schenken, und so kam es, dass er auch die Schritte nicht vernahm,
die gemächlich auf ihn zusteuerten.
"Nanana, was
hat dir denn die Petersilie verhagelt? Du siehst ja aus wie ein
ganzes Jahr Regenwetter! Probleme?"
An der fröhlichen
Stimme erkannte Hiead seinen Rivalen (und Kameraden, ja doch,
verdammt!), Zero Enna.
"Was willst du?"
"Deine
Laune ist hervorragend wie immer! Aber nein - wenn ich' s mir
genauer überlege, ist sie sogar noch mieser als sonst! Komm
schon, spuck's aus! Was hast du?"
"Du erwartest doch
wohl nicht, dass ich glaube, dass du mir helfen willst?"
"Und
warum glaubst du das nicht?" fragte sein Gegenüber mit
einem spitzbübischen Grinsen.
"Wir sind Gegner,
vergiss das nicht." Zero schwieg eine Weile.
"Sind
wir das?" Ein schwer zu deutendes Lächeln huschte über
sein Gesicht. "Dabei hast du mir das Leben gerettet, Hiead.
Weißt du noch? Du hast zwar behauptet, du hättest es
nur getan, um dein EX auszuprobieren, aber irgendwie konnte ich
dir das nie so recht abnehmen. Immerhin hast du dich dabei selbst
in Gefahr gebracht. Das hätte verflixt schief gehen können,
das ist dir klar, neh? Du hast mich beschützt, habe ich
recht?"
"Blödsinn!" giftete Anwärter
Nr. 87 schroff zurück. "Einen Idioten wie dich würde
ich niemals beschützen! Allein der Gedanke!"
"Ich
bin kein Idiot."
"Doch. Das bist du."
"Meinst
du? Du weißt zu wenig von mir, als dass du dir darüber
ein Urteil bilden könntest. Früher hielt auch ich dich
für widerwärtig und unmöglich - aber in Wahrheit
ist da etwas in dir, das ich erst später bemerkt habe. In
deinen Augen liegt eine große Einsamkeit. Man hat dir
wehgetan, nicht wahr?"
Hiead atmete geräuschvoll
durch die Nase.
"Viele halten mich für
oberflächlich und kindisch. Aber....nur weil deine Fassade
als solche erkennbar ist, bedeutet das nicht, dass es nicht auch
eine andere Art von Fassade geben kann - wie meine. Nein, ich
werde dir nicht erklären, was das heißt. Wenn du es
nicht selbst verstehst, hat das keinen Sinn. Wir sind gar nicht
so verschieden, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wir
beide besitzen ein aufbrausendes Temperament und wir beide wollen
um jeden Preis Pilot werden. Auch den Durst nach echten Gegnern
teilen wir. Wir unterscheiden uns jedoch in unserer Denkweise: Du
denkst nicht mit dem Herzen, weil du zu oft verletzt worden bist.
Für dich gibt es nur Verstand und Vernunft, und deswegen
gibst du dich nach außen auch so hart und unnahbar. Du
willst niemanden an dich heranlassen, weil du Angst hast, dein
Vertrauen könnte aufs Neue betrogen werden. Darin bin ich
dein Gegensatz. Mein Verstand mag sich täuschen lassen, aber
mein Herz niemals. Ich sehe nicht nur mit den Augen, ich sehe vor
allem mit dem Herzen....und das ist der Grund, warum ich dich mit
der Zeit immer weniger als meinen Rivalen betrachten konnte,
einfach deshalb, weil deine Maske mir nichts mehr
entgegenzusetzen hat. Ich durchschaue dich, mehr als du
vermutlich geahnt hast. Also hör auf, dich allein zu quälen.
Sag mir, was los ist."
"...........Warum....interessiert
dich das?"
Er lächelte wieder.
"Wir sind
doch Freunde."
"Seit wann? Ich kann mich nicht
erinnern, mich mit dir angefreundet zu haben. Denkst du denn im
Ernst, dein Mitgefühl und deine Freundschaft würden mir
etwas bedeuten?! Mach dich nicht lächerlich!"
Hieads
Worte klangen gereizt und höhnisch, doch Zero ließ
sich davon nicht beeindrucken. Er setzte sich neben den anderen
und platzierte seine Hand auf dessen Schulter. Der silberhaarige
Junge versteifte sich darunter.
"Du hasst dich selbst.
Warum, kann ich nicht sagen. Du verfluchst alle Menschen, weil du
einmal vertraut hast und dein Vertrauen verraten wurde. Wie, kann
ich nicht sagen. Etwas in dir wurde durch die Grausamkeit der
Welt zerstört. Wann, kann ich nicht sagen. Jemand hat dir
sehr wehgetan. Wer, kann ich nicht sagen. Aber Liebe, Mitgefühl
und Freundschaft sind so viel stärker als der Hass und die
Traurigkeit, Hiead! Sie können alles überwinden! Ich
weiß es!"
"Ha. Werd endlich erwachsen. Das
Leben besteht nur aus Dunkelheit. Wer würde schon für
einen anderen die Hand ins Feuer legen, wer würde einem zur
Seite stehen, wenn alle ihn verlassen haben? Glücklichsein,
Liebe, Freundschaft, dieses ganze Getue, ist nicht real! Nichts
weiter als Theater, das man vorgespielt bekommt, solange man noch
ein Kind ist, unwissend und dumm! Du kapierst wirklich gar
nichts!"
Er lachte zornig auf.
"Liebe",
begann Zero im Flüsterton, "zeigt sich in vielen
Formen. Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Die Liebe zwischen
Geschwistern. Die Liebe zwischen Mann und Frau. Selbst
Freundschaft ist eine Art der Liebe, denn auch Freunde können
einander viel bedeuten. Es gibt Freundschaften, die unzählige
Jahre überdauern, ein ganzes Leben lang halten. Doch Liebe
ist etwas, das wir tun müssen, nicht etwas, das wir
bekommen. Erst wenn wir gelernt haben, nicht mehr danach zu
fragen, was wir als Belohnung für unseren Einsatz erhalten,
wenn wir nicht verlangen und fordern, dann haben wir begriffen,
was lieben heißt. Wenn Liebe für dich nichts anderes
ist als ein Warten auf etwas, auf Zärtlichkeit, Wärme,
Aufmerksamkeit, Anteilnahme - dann hat das mit Liebe nichts zu
tun. Jeder straft sich im Grunde selbst, Hiead. Indem er hasst.
Indem er sich außerhalb der Gemeinschaft stellt. Indem er
sich einsam und unglücklich macht. Wer könnte ihn
schlimmer bestrafen, sag? Ich reiche dir eine Hand, die bereit
ist, dich von dieser Strafe zu befreien, die du dir selbst
auferlegt hast. Ich erwarte nicht, dass es schnell geht, dass du
in wenigen Tagen zu einem neuen Menschen wirst....aber auf einen
Versuch kommt es an, meinst du nicht? Menschen können nicht
ganz allein leben. Weil ich meine Freunde habe - Clay, Roose und
Yamagi - und weil Kizuna an meiner Seite ist, kann ich stark sein
und mich jeder Herausforderung stellen. Sich aufzugeben ist der
falsche Weg. Nur selten vermag jemand, wieder umzukehren, wenn er
einmal eine bestimmte Richtung eingeschlagen hat. Nimm meine
Hand, Hiead. Dreh um, bevor es zu spät ist. Vielleicht ist
das deine letzte Chance....deine ALLERletzte Chance."
Es
blieb fast unerträglich lange geradezu beängstigend
still. Zero war aufgestanden und streckte Hiead die Hand hin.
Keiner von beiden rührte sich. Sie schienen nicht einmal die
schemenhafte Gestalt zu bemerken, die sie aus einer Ecke heraus
beobachtete. Schließlich, es war, als hätte es eine
Ewigkeit gedauert, ergriff er Zeros Hand und ließ sich
aufhelfen. Nachdem dies geschehen war, verschwand Anwärter
Nr. 87 in einem der zahllosen Flure. Ein seltsames Beben
durchlief ihn. Nummer 88 blickte ihm einen Moment nach und wandte
sich endlich an die Person im Schatten. Es war Azuma.
"Wie
war ich?" erkundigte er sich respektvoll und freundlich,
ganz anders, als es seine freche Manier für gewöhnlich
zuließ.
"Nun - für ,Nicht der
Vertrauenslehrer' war das wirklich....sehr gut."
Hiead
stolperte in das Gemeinschafts-Quartier. Clay war offensichtlich
noch mit Saki unterwegs. Er fühlte sich leer und verbraucht.
Das Gespräch mit Zero hatte ihn erschöpft. Kraftlos
ließ er sich auf sein Bett fallen und seufzte tief. Der
Krieg....die Victims....die Göttinnen....Solares....Zero....und
Ikhny, Ikhny, IKHNY. Sie hatte gesagt, sie würde ihn hassen.
Er
verstand sich selbst nicht mehr. Warum hatte er einen solchen
Besitzanspruch auf sie erhoben? Ja. Ikhny und Zero. Diese beiden
Menschen sahen durch ihn hindurch wie durch Glas. Diese beiden
Menschen, einzig diese beiden Menschen, hielten ihn nicht für
einen kaltblütigen, verachtenswerten Krieger. Und genau deshalb
hatte er sich ihnen gegenüber immer am härtesten und
unversöhnlichsten gezeigt, weil sie mit ihren klaren Augen durch
seine Fassade direkt in sein Herz blicken konnten. Niemand durfte
sein Herz sehen, niemand! Und doch....wie oft hatte er darauf
gehofft, jemand möge ihn auffangen, bevor er für immer von
dem Abgrund seines Selbsthasses, seines Misstrauens und seiner
Einsamkeit verschluckt werden würde. Gab es auch für ein
Leben, das lebenswert war? Gab es das für ihn? Liebe?
Freundschaft? Er hatte Ikhny wütend gemacht und sie früher
behandelt wie ein Stück Abfall. Diese Chance hatte er wohl
vertan. Aber vielleicht war es wenigstens für eine Freundschaft
noch nicht zu spät....
"Deine Augen waren sehr ernst.
Du glaubst an diese eventuelle Freundschaft. Und zum ersten Mal in
meinem Leben bin ich keine Ausnahme. Dein Herz ist wirklich rein.
Rein und unendlich stark. Mit dir haben wir Hoffnung....Rei."
We got the power
Get ready to go
We stand united
The
energy flows
We got the power
The moment has come
Nothing
can stop us
When we stand as ONE
Wer träumt, dem
wachsen Flügel.
Die nächste Folge heißt:
"Curriculum 07: Seelen"
