Kapitel 3

~*~ When will my reflection show, who I am inside? ~*~

                    (Christina Aguilera – Reflections)

„Ich danke dir."

„Du musst mir doch nicht danken. Es ist doch selbstverständlich, dass ich dir all deine Fragen beantworte." Cathrins Hand ruhte auf seiner Schulter und auch wenn es eine Geste der Beruhigung sein sollte, kam es ihm in diesem Moment vor, als bestünde ihre Hand aus Mamor.

Natürlich, Cathrin war vorsichtig gewesen, hatte ihn behutsam mit seiner „Vergangenheit" konfrontiert, hatte ihm jegliche Frage beantwortet. Alles was die dunkle Mauer der Amnesie in seinem Geist abschirmte, hatte sie ihm ohne zu zögern hervorgeholt, auch wenn er sich immer noch nicht, wenigstens ansatzweise, an irgendetwas erinnerte.

Er fühlte sich schwer und seltsam. Vielleicht lag es an der Flut von Informationen, die er nun zu verarbeiten hatte. Aber er hatte es so gewollt. Wenn Cathrin schon einmal erzählte, konnte sie ihm auch direkt alles erzählen. So kam es dann, dass sie ihm nicht nur von Sachen wie seiner Einschulung oder den ersten Gehversuchen erzählte, sondern auch vom Unfall seines Vaters Dave, der vor einem Jahr von einem Auto mitgerissen wurde und ums Leben kam.

Als Cathrin von dem Unfall erzählte, bemerkte er die unendliche Trauer in ihren Augen, doch als sie ihn ansah, füllten sie sich mit einem seltsamen Licht, dass er nicht zu beschreiben vermochte. Die ganze Zeit über, während Cathrin von seinem Leben erzählte, hatte er verzweifelt versucht, sich an irgendetwas zu erinnern. Doch die Bilder, die er sich so sehnlichst herbeiwünschte, blieben aus und er fühlte sich auf eine seltsame Weise schrecklich schuldig.

Seine Mutter gab sich solche Mühe, ihm seine Erinnerung wiederzugeben und er konnte sich einfach an nichts erinnern. Nun waren sie schon seit einigen Tagen in ihrem neuen zu Hause, aber die Barriere in seinem Kopf wollte einfach nicht zerbrechen.

„Ich denke du solltest jetzt schlafen gehen, Marcus."

Cathrins Stimme riss ihn plötzlich aus den Gedanken und er sah sie etwas verwirrt an.

„Bitte?"

„Ich sagte, du solltest jetzt ins Bett gehen." Erwiderte sie lächelnd und erhob sich von der Couch. „Es ist schon ziemlich spät und wir haben morgen immer noch einige Kartons vor uns." Sie gähnte und streckte sich, bevor sie in die Küche ging, um sich noch einen Tee zu kochen.

Oh ja, Kartons hatten sie allerdings noch vor sich.

Er blickte sich um. Zwar war nun schon alles gemütlicher, aber immer noch standen in den Räumen vereinzelte Kartons die nur darauf warteten, ausgepackt zu werden. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Hätte Cathrin ihn nicht die ganze Zeit daran erinnert, er solle sich doch schonen und bloß vorsichtig sein, wären sie bestimmt schon längst fertig gewesen. Aber er verstand sie ja. Denn nun, wo er so auf der Couch saß und an seinem Tee nippte, hatte er das Gefühl, jeder einzelne seiner Knochen wollte sich bemerkbar machen. Ja, er würde jetzt wirklich ins Bett gehen. Und fast wie auf Kommando entfloh ihm ein Gähnen.

Cathrin, ihre Tasse Tee in der Hand haltend, kam auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss aufs Haar, bevor sie ihn mit einem leisen Lachen in sein Zimmer scheuchte. Dort angekommen ließ er sich fast augenblicklich auf sein Bett fallen und schlief auch bald darauf ein.

~~~

Schmerz.

Unerträglicher Schmerz.

Nicht körperlich, sondern seelisch.

Er hatte das Gefühl, jemand dränge mit einem Messer in ihn ein und risse an seiner Seele, um sie in ihre Einzelteile zu zerlegen.

Er sah seinen Körper. Sah das silbrige Glühen, dass seine Seele darstellte, sah seine Seele zerbersten.

Vier Stücke.

Seine Seele teilte sich in vier Stücke und es tat weh, so unendlich weh.

Er wollte schreien, doch nicht ein Ton verließ seinen Mund.

Nach und nach verschwand ein Seelenstück aus dem Bild. Jemand lachte. Er hielt sich die Ohren zu, doch das Lachen schien in seinem Kopf zu sein, wurde lauter und lauter. Schrill und penetrant bohrte sich diese hysterische, hohe Stimme durch seine Ohren hindurch in seinen Kopf.

Schmerzen.

So viele Schmerzen und dann...

Eine Mauer.

Eine schwarze Mauer.

Unüberwindbar.

Und er schrie.

~~~

Ruckartig setzte er sich auf.

Sein Atem ging in flachen, kurzen Stößen und Schweiß lief ihm über die Stirn hinein in seine Augen.

Mit einer hektischen Handbewegung wischte er sichübder das Gesicht, versuchte seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Verdammt, was war das?

Er hatte das Gefühl, er könne noch immer dieses widerliche Lachen hören und ihm wurde übel. Schrecklich übel.

Zittrig schlug er die Decke zurück und stand auf. Er strauchelte hinüber ins angrenzende Badezimmer.

So realistisch. So verdammt realistisch.

Ohne weiter darüber nachzudenken, schaltete er den Strahl der Dusche an und stellte sich darunter. Das kalte Wasser rann über seinen Körper, benetzte ganz unbefangen seine Kleidung.

Er hatte Angst.

Wieso spürte er diesen Schmerz noch immer? Diesen schrecklichen, tiefen Schmerz?

„Marc...MARCUS!"

Cathrin stand plötzlich neben der Dusche, ihr Gesicht verzerrt in purer Angst.

„Was ist los mit dir Marcus? Oh Gott, mein Junge..." Sie griff hinüber zum Wasserhahn und stellte das eisige Wasser ab, sah wie Marcus auf den Boden der Dusche glitt, aphatisch vor und zurück wippte. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden kletterte sie ebenfalls in die Dusche und schlang ihre Arme um den zitternden Jungen.

„Shhhh, alles ist gut Schatz, alles ist wieder okay. Mummy ist bei dir." Langsam fuhr sie mit ihren Händen über den Rücken des Jungen, drückte ihn an sich und redete leise auf ihn ein. Zuerst war Marcus noch vollkommen angespannt, doch nach und nach spürte sie, wie er sich entspannte, sie gewähren ließ.

„...weh...tut so weh..." wisperte er und Cathrin musste hart schlucken, um ihre Stimme wiederzufinden.

„Was tut dir weh, Schatz?"

Die Antwort kam unerwartet klar und deutlich.

„Meine Seele."

~~~

Als er erwachte, bemerkte er Cathrin sofort, die neben seinem Bett auf dem Boden kniete, den Kopf auf die gefalteten Arme gestützt.

Was...?

Er runzelte die Stirn und versuchte sich an die letzte Nacht zu erinnern, jedoch fiel ihm nicht ein, was hätte passiert sein können. Hatte er irgendetwas gemacht?

Langsam schälte er sich aus seiner Decke, sehr bedacht darauf seine Mutter nicht zu wecken, und schlich hinüber ins Badezimmer. Dort bedachte er die Handtücher und Anziehsachen die so gut wie überall verteilt lagen, mit einem misstrauischen Blick.

Also irgendetwas war hier faul.

Langsam bückte er sich und hob die Sachen auf um sie zu falten und ordentlich wegzulegen. Dabei stellte er überrascht fest, dass alles feucht bis noch nass war.

Er hob eine Augenbraue und entschloss sich, die Sachen erst mal alle auf einen Haufen zu werfen.

Warum ging Cathrin mit Anziehsachen duschen?

Seufzend schüttelte er den Kopf. Seine Mutter war manchmal schon komisch, aber in der Zeit, wo er sie quasi neu kennen gelernt hatte, stellte er bereits jetzt schon fest, dass er sie sehr lieb gewonnen hatte. Cathrin war freundlich und sehr warmherzig und er mochte ihre Haare. Der kurze Schnitt und die knallig rote Farbe, die trotzdem warm schimmerte, standen irgendwie im Gegensatz zu ihrem Charakter und das mochte er. Er konnte zwar nicht erklären warum, aber er mochte es.

Nachdem er die Sachen mehr oder minder ordentlich in einer Ecke des Badezimmers aufgetürmt hatte, schickte er sich an, sich selbst fertig zu machen.

Während er sich das Gesicht wusch, die Zähne putzte und sich die Haare kämmte, ließ er sich noch mal all das was Cathrin ihm erzählt hatte durch den Kopf gehen. Immer noch war da dieses leise Schuldgefühl, dass er sich an nichts erinnern konnte, jedoch wurde es langsam schwächer. Vielleicht musste er einfach nur Geduld haben.

Dann dachte er daran, dass sie heute noch viel auszupacken hatten. Und das Cathrin ihn sicher zum zig tausendsten Mal fragen würde, ob ihm die Wohnung auch wirklich gefiele. Er grinste. Ja, sie gefiel ihm. Und auch wenn Cathrin sich immer wieder entschuldigte, dass sie auf die Schnelle nichts besseres gefunden hatte, mochte er die Wohnung wirklich. Es war gemütlich und hell und er hatte sich auf Anhieb wohl gefühlt. Na gut...wenn er es zugab, dann hätte er ja schon mal gern die „alte" Wohnung gesehen, weil da sicher die Chance bestanden hätte, sich eher wieder zu erinnern, aber er konnte gut verstehen, dass Cathrin nicht wollte, dass er jemals wieder in Kontakt mit seinen „Freunden" trat. Er fand es vielleicht etwas übertrieben, aber okay, sie war seine Mutter, er hatte sich zu beugen.

Er hob den Blick und sah in den Spiegel. Immer wieder war es ein seltsames Gefühl, eine völlig fremde Person darin zu erblicken. Und noch seltsamer war es, wenn man das feststellte, dass man die Person selbst war.

Prüfend hob er seinen Zeigefinger und tippte sich einmal kurz an die Nase. Der Fremde im Spiegel tat es ihm gleich. Eindeutig die selbe Person. Aber...

Er runzelte die Stirn. Irgendetwas war anders.

Zwar blickten ihm immer noch die selben braunen Augen entgegen und auch seine Haare waren nach wie vor dunkelblond, doch...da war etwas, was ihm vorher nicht aufgefallen war. Wieder hob er seinen Zeigefinger und mit einem gemurmelten „Na, wo kommst du denn auf einmal her?" fuhr er sich über die Stirn, auf der sich eine kleine, blitzförmige Narbe befand.

A/N: Yay yay yay *strahlt* Vielen lieben Dank für eure Reviews *alle wuschelt* Tut mir leid, dass es mit diesem Kapitel hier nun etwas länger gedauert hat, aber ich wollte erst mal das nächste fertig kriegen, joa *nickt* Ich hoffe es hat euch gefallen und denkt an Feedback *tihihihi*