### Hey, Ihr da draußen! Wisst ihr, wie gut eure Reviews wirklich für uns sind? Ihr seid unsere MUSEN... Ehrlich!!! Wir müssen gestehen, wir haben ab und zu mal eine eurer Ideen aufgegriffen, mit denen ihr spekuliert habt. Quasi sind uns eure Wünsche bzw. Fantasien Befehl! Der Beginn dieses Kapitels wird euch zeigen, was wir meinen. *g*
### Ab geht's mit dem nächsten Kapitel! Viel Spaß beim Lesen!
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Schuld und Sühne
von: Salara und ManuKu
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~TEIL 9~
Glorfindel war zutiefst konzentriert und hatte jeden Gedanken, der nicht zur Ausführung seiner Schattenübungen gehörte weit von sich geschoben.
Seit seiner Rückkehr aus den weitläufigen Gärten Bruchtals, in denen er lange über den Vorfall mit Aragorn nachgesonnen hatte, kämpfte er gegen einen imaginären Gegner, gegen den er die ganze Bandbreite seiner Kampftechniken einsetzen konnte. Der Tag war längst zum Nachmittag geworden und der Abend nicht mehr fern, doch für den Elbenkämpfer hatte die Zeit an diesem Tag an Bedeutung verloren. Mit der Präzision, die nur jahrtausendelange Erfahrung hervorbringen konnte, vollführte er jede der notwendigen Bewegungen, wieder und wieder, bis die Abfolge der Abwehr- und Angriffsschläge beinahe einem martialischen Tanz glich.
Doch der Kämpfer aus Gondolin war weit davon entfernt, mit sich zufrieden zu sein. Immer wieder schnaubte er verärgert auf, wenn eine Figur in seinen Augen nicht exakt genug gelang. Als das Licht des Tages schließlich an Kraft zu verlieren begann, gab er kopfschüttelnd auf. Er streifte seine Tunika ab, um seinen verschwitzten Oberkörper mit einem feuchten Handtuch zu erfrischen, das abseits auf einem Hocker bereit lag. Gedankenverloren griff er danach, zuckte jedoch zusammen, als plötzlich eine Stimme hinter ihm ertönte.
„Es geschieht nicht oft, dass ich unbemerkt an dich herantreten kann." Elladan, Elronds ältester Sohn, stand mit vor der Brust verschränkten Armen einige Schritte zu seiner Rechten und sah ihn abwartend an. „Wirst du alt oder hattest du einen schlechten Tag?"
Es waren nicht so sehr die für den sonst überlegten Elladan erstaunlich respektlosen Worte, die Glorfindel störten, sondern der Klang, der in ihnen lag.
Verlegenheit und Verärgerung kämpften in ihm, als er sich umdrehte.
„Ich bin alt, wie du weißt." Es klang schärfer als beabsichtigt, also nahm der Kämpfer sich zurück. „Nebenbei bemerkt, solltest du das Anschleichen ohnehin langsam perfektioniert haben. Schließlich habe ich es dir beigebracht." Glorfindel konnte einen mürrischen Tonfall nicht ganz verbergen. Es ärgerte ihn immer noch, dass er den jüngeren Elben tatsächlich nicht gehört hatte.
Elladan kam dichter heran und überlegte, wie er sein Anliegen zur Sprache bringen sollte. Glorfindel zog sich unterdessen seine Tunika wieder über, nachdem er sich erfrischt hatte, dann wandte er sich um.
„Was führt dich zu mir, Elladan? Willst du mit dem Schwert üben? Du weißt, dass du einige Techniken noch vervollkommnen kannst," ermahnte er ihn. „Du darfst nie aufhören, an dir zu arbeiten!"
Das war genau das Thema, das Elladan mit dem blonden Elben hatte besprechen wollen. Elronds ältester Sohn wusste nicht, warum ihn die als Frage gedachten Worte des Kämpfers ärgerten, als seien sie eine Beleidigung. Er sah Glorfindel so ruhig, wie es die Sorge um seinen menschlichen Bruder zuließ, an.
„Ist es das, was du Estel mit deinen harten Lehrmethoden beibringen willst? Soll er lernen, dass er nie so perfekt kämpfen wird wie du, dass er immer der Unterlegene bleibt? In diesem Fall kann ich dir versichern, dass er ebendiese Lektion schon lange begriffen hat! Es ist unnötig, ihm das immer wieder deutlich zu machen!"
Elladan bemerkte erschrocken, dass seine Worte schärfer klangen, als er es beabsichtigt hatte. Er kannte die harten Unterweisungen des Kämpfers aus Gondolin aus eigener Erfahrung und wusste, dass es nicht ohne blaue Flecken und kleinere Schrammen abging. Doch Estels Erschöpfung und seine offensichtlichen Schmerzen hatten seinen Beschützerinstinkt geweckt.
Elronds ältester Sohn hatte Glorfindel nicht aus den Augen gelassen und war überrascht, als dieser seinem Blick auswich und zur Seite sah. Das war etwas, das Elladan seit einigen Jahrhunderten nicht mehr bei dem anderen Elben beobachtet hatte.
„Was passiert ist, tut mir leid. Ich weiß selbst nicht, wie das geschehen konnte. Glaub mir, ich wollte Estel nicht wehtun," erwiderte Glorfindel mit für ihn untypisch leiser Stimme. Es dauerte einige Augenblicke, bis der Kämpfer Elladan wieder offen ansah. „Aber irgendetwas an ihm war heute anders. Er war so... so unaufmerksam. Jede Bewegung, jeder Abwehrhieb war halbherzig ausgeführt. Im Ernstfall hätte ihn diese Verteidigung seine Gesundheit gekostet. Und genau das habe ich ihm den ganzen Vormittag über klarzumachen versucht. Aber mit Estel ist es manchmal ... schwierig."
Er sah Elladan an, der den Erklärungen Glorfindels mit ernstem Gesicht lauschte, im Stillen jedoch keine Ahnung hatte, worauf dieser hinauswollte.
„Heute war es besonders schlimm. Er war nicht bei der Sache. Ich ermahnte ihn, ein Wort gab das andere und..." Glorfindel brach ab und zuckte mit den Schultern.
Elladan nickte, doch die Geste war alles andere als bestätigend oder zustimmend. „Und was?"
„Ich war so wütend darüber, dass er nicht mit sich reden lassen wollte. Also beschloss ich, ihm zu demonstrieren, was ich meinte. Als ich meinen Arm um seinen Hals legte, wollte ich ihm nur seine Hilflosigkeit vor Augen führen und ihm zeigen, dass er noch lange nicht für jeden Kampf bereit ist. Als er dann das Bewusstsein verlor, begriff ich, dass ich zu weit gegangen war. Doch da war es schon zu spät."
Elladan brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, was Glorfindel ihm soeben gesagt hatte. Ungläubig zog er die Augenbrauen in die Höhe und schüttelte den Kopf, als glaubte er, sich verhört zu haben.
„Du hast WAS getan?"
„Estel verlor das Bewusstsein, als ich ihm zeigen wollte, dass ihm sein Schwert im Ernstfall nicht..." begann Glorfindel von Neuem zu erklären, doch Elladan stürmte auf ihn zu und blieb so dicht vor ihm stehen, dass ihre Gesichter sich fast berührten.
„Du hast ihm den Atem genommen, bis er bewusstlos wurde?" Elladan konnte sich nur mühsam beherrschen. „Wie konntest du dich nur so vergessen?"
Glorfindel trat einen Schritt zurück. Zwar war er neben Elrond der beste Kämpfer in Bruchtal, doch die Besorgnis des wütenden Elladan machte Elronds Ältesten zu einem ernstzunehmenden Gegner. Es war eine Sache, Estel während der Übungen hart anzufassen, eine andere allerdings, den ältesten Sohn seines Herrn in einem Verteidigungskampf zu verletzen. Glorfindel wagte nicht, sich auszumalen, wie Elrond darauf reagieren würde.
„Estel war stur. So stur, wie es nur Menschen sein können. Er war der Meinung, schon bereit zu sein. Seinen Übungen fehlte es jedoch an der Schärfe, die nötig ist, um auf alles gefasst zu sein. Ich musste ihm zeigen, dass selbst ein Freund plötzlich zu einem Feind werden kann."
„War er dir noch nicht respektvoll genug? Wolltest du, dass er dich fürchtet, dass du die Angst in seinen Augen erkennst, wann immer er dich ansieht? War es das?" Elladan war immer noch wütend. Er hatte bisher geglaubt, sein menschlicher Bruder würde Prellungen, kleine Schnittwunden oder Verspannungen mit den Kräutern aus der Kräuterkammer behandeln. Doch dass Glorfindel so weit gegangen war, hatte er sich nicht vorstellen können.
Die gleiche Selbstsicherheit, die gleiche Hitzköpfigkeit. Der eine ist so unüberlegt wie der andere. Es ist kein Wunder, dass Estel so reagiert. Es wird ihm von den Zwillingen vorgelebt... Glorfindel spürte, wie die Wut erneut in ihm aufsteigen wollte. Nur der Gedanke an seinen Herren hielt den Kämpfer zurück. „Ich muss mich lediglich vor deinem Vater für die Wahl meiner Mittel rechtfertigen, doch ich will auch mit dir keinen Streit. Es bedarf deiner Vorwürfe nicht, um mir zu zeigen, dass ich zu weit gegangen bin."
„Das bist du. Doch geschehen ist geschehen." erwiderte Elladan, jetzt schon etwas beherrschter.
„Und was jetzt? Wirst du es deinem Vater erzählen?" Glorfindels Stimme klang seltsam gepresst und Elladan war sich nicht sicher, ob Furcht oder eine erneute Herausforderung darin mitschwangen.
„Nein. Das ist eine Sache zwischen dir und Estel. Ihr müsst das miteinander klären!"
„Das werde ich, Elladan. Glaub mir, ich werde mit Estel darüber reden!"
Glorfindel lachte plötzlich und schüttelte den Kopf.
Irritiert sah Elladan ihn an. „Was ist so komisch?"
„Ich habe gegen den Hexenkönig von Angmar gekämpft und einen Balrog zur Strecke gebracht. Doch ausgerechnet ein gewöhnlicher Mensch schafft es, mich aus der Fassung zu bringen. Bin ich wirklich schon zu alt für diese von Menschen überbevölkerte Welt? Sollte ich mich vielleicht endlich auf den Weg in die Unsterblichen Lande machen?"
„Ich denke, nicht einmal mein Vater könnte dir eine befriedigende Antwort auf diese Frage geben. Und dabei hat er mehr Zeit mit Estel verbracht, als jeder andere hier – Elrohir und mich mal ausgenommen. Aber falls es ein Trost für dich ist: Estel ist kein gewöhnlicher Mensch!"
„Das wundert mich nicht," entgegnete der Elbenkrieger und grinste schwach. „Er hat ja auch keine gewöhnlichen Brüder..."
Elladan stutzte einen Moment, dann grinste er zurück, ehe er sich schließlich zum Gehen wandte. Noch in der Bewegung drehte er sich zu Glorfindel zurück.
„Ich weiß zwar nicht, was du mit Estel geübt hast, aber mein Bruder hat Schmerzen. Nimm ihn in den nächsten Tagen nicht so hart ran, ich bitte dich."
Glorfindel nickte bestätigend. „Ich verspreche es dir!"
Mehr hatte Elladan nicht hören wollen. Er ging zum Schloss zurück, während die Abenddämmerung sich langsam auch über Bruchtal legte und einen ratlosen Glorfindel sah, der ergebnislos darüber nachsann, bei welcher Übung sich der jungen Mann wohl verletzt haben konnte...
***
Aragorn erwachte übergangslos.
Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht, doch inzwischen war es Abend geworden und sein Zimmer begann sich mit Dämmerung zu füllen.
Insgeheim gestand sich der junge Mann ein, dass es gut tat, einfach nur reglos auf dem Bett zu liegen, keine Schmerzen mehr zu empfinden, an nichts zu denken, die an der Zimmerdecke schwebenden Schatten zu beobachten und sich unter die warme Decke zu kuscheln, die bis an sein Kinn hochgezogen war. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sein noch schlaftrunkener Verstand ihm mitteilte, dass etwas an diesen Empfindungen nicht stimmte. Langsam ging er alles durch, bis er schließlich begriff.
Eine Decke? Aragorn stutzte und betrachtete die Zudecke, die ihn bis zum Hals einhüllte. Wann habe ich mir die denn genommen?
Vergeblich durchforstete er sein Gedächtnis nach einer entsprechenden Erinnerung.
Das heißt, jemand war hier, während ich schlief!
Schlagartig war er munter. Er richtete sich auf und sein erster Blick ging zur Nachtkommode. Die aus der Kräuterkammer heimlich beschafften Heilmittel waren noch da, doch die Art, in der sie nun auf der Nachtkommode standen, erschien ihm anders als zuvor. Irgendwie ... ordentlicher, gerader.
Na, und wenn schon! Die Stimme seines unabhängigen Ichs klang sicher. Es ist doch kein Verbrechen, sich ein paar Kräuter zu holen.
Nein, aber in diesen Haus wird es fast als eines betrachtet, Verletzungen so lange zu verheimlichen, wie du es getan hast, tadelte ihn eine andere Stimme, die Aragorn auf geradezu unheimliche Weise an seinen Pflegevater erinnerte. Jeder Elbe in diesem Haushalt weiß, was die Kräuter bewirken, die du dir besorgt hast.
Aragorn ließ sich wieder aufs Bett zurückfallen. Das angenehme Gefühl, das ihn bei seinem Erwachen begrüßt hatte, war inzwischen vollständig verflogen. Einen Moment lang dachte er darüber nach, so zu tun, als sei nichts geschehen, doch ein innerer Zwang, den er noch nie zuvor an sich gespürt hatte, ließ ihn seine Handlung fast wie etwas Verbotenes ansehen. Der junge Mann spürte zum allerersten Mal in seinem Leben Furcht, als ihm vom Fieber erzeugte Halluzinationen wechselnde Szenarios väterlicher Strafpredigten auszumalen begannen. Er legte einen Arm über die Augen, doch auch das sperrte die Bilder nicht aus, die sich schneller und schneller in seinem Geist zu drehen begannen. Vorwurfsvolle Blicke seiner Familie mischten sich mit laut hallenden Worten, die plötzlich von überall zu kommen schienen und in ihrer tadelnden Schärfe bereits Strafe genug für ihn waren.
Er war so sehr darauf konzentriert, gegen die Flut seiner aus den Fugen geratenen Vorstellungskraft anzukämpfen, dass ihm die ungewöhnliche Hitze seines Körpers ebenso wenig auffiel wie die Tatsache, dass er in gleichem Maße schwitzte, wie er fror. Das Kältegefühl gewann schließlich die Oberhand und drängte seine Fieberfantasien zurück. Aragorn begann zu zittern.
Erst jetzt registrierte er, dass seine Kleidung trotz der schon längere Zeit zurückliegenden Übungsstunden noch immer völlig durchgeschwitzt war. Er missdeutete den Schüttelfrost, der ihn durchzog, als einfaches, von feuchter Kleidung hervorgerufenes, Frösteln.
Ich muss mich einfach nur umziehen. In trockenen Sachen werde ich mich gleich viel besser fühlen...
Schweren Herzens richtete er sich ein zweites Mal auf, dann schwang er die Beine über den Bettrand und stellte die Füße auf den Boden.
Die bloße Berührung ließ neuen Schmerz durch seinen verletzten Fuß zucken. Aragorn biss die Zähne zusammen, doch ein leises Stöhnen vermochte er dennoch nicht zu unterdrücken. Behutsam arbeitete er sich zur bloßen Fußsohle vor.
Der Schnitt begann inzwischen mit einem breiten, dunkelroten Hof zu umgeben. Die Schnittränder waren fast purpurfarben, verkrustet und machten nicht den Eindruck, als würden sie sich in nächster Zeit wieder schließen.
Behutsam betastete Aragorn die beängstigend heiße Wunde. Bereits die sanfte Berührung mit seinen Fingerspitzen weckte weiteren Schmerz.
Verdammt! Aragorn wusste, dass die in ihm aufkommende Wut ganz allein ihm selbst galt und im Grunde nutzlos war, doch diese Empfindung half ihm, sich für eine Weile nicht ganz so krank zu fühlen. Alles nur, weil ich unbedingt auf einen Baum klettern musste, statt gleich mit Glorfindel zu sprechen. Jetzt komme ich wohl doch nicht mehr umhin, sie Vater zu zeigen.
Trotzdem stahl sich bei diesem Gedanken ein kurzes Lächeln auf seine Lippen, als er mit einer Hand nach dem Fläschchen mit dem Darsurion angelte, den Stöpsel entfernte und einen weiteren Teil davon über die Wunde laufen ließ. Wenn ich beichte, bin ich den Zwillingen wenigstens keinen Gefallen mehr schuldig...
Das Darsurion, eine schwach nach Kräutern riechende, sirupartige, wasserklare Flüssigkeit, legte sich wie ein schützender Film über den Schnitt und zog tief in die Wunde ein, während die Pflanzenextrakte gleichzeitig ihre heilende Wirkung entfalten konnten.
Sorgsam zog Aragorn sich seine Fußbekleidung wieder an, ehe er vorsichtig aufstand und testend seinen Fuß belastete. Der Schmerz war nicht mehr ganz so intensiv wie zuvor. Wenn er die Zähne zusammenbiss, würde er nicht einmal humpeln, wenn er vor Elrond hintrat und diesem die Verletzung als „kleineren Kratzer" beichtete.
Er zog sich um, dann verließ er das Zimmer und steuerte auf die Gemächer seines Vaters zu. Aragorn nahm an, ihn um diese frühe Abendstunde dort zu finden. Dennoch konnte er einen Anflug von Beklommenheit nicht unterdrücken, als er klopfte und die Tür nach der leisen Aufforderung schließlich öffnete.
***
Nur ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte gesehen, dass sich Elronds Gestalt unmerklich versteifte, als sein menschlicher Pflegesohn ins Zimmer trat und nach zwei Schritten stehenblieb. Arathorns Sohn war so sehr zu einem Teil seines eigenen Lebens geworden, dass der Elbenfürst über den Gesprächen mit Rivar völlig vergessen hatte, dass Aragorn für alle außerhalb dieses Schlosses schon lange als tot galt.
Was, wenn Arathorns Freund in Estels Antlitz vertraute Züge findet? Zwanzig lange Jahre habe ich das Geheimnis um ihn gehütet, doch nun droht ein einziger Augenblick alles zunichte zu machen. Das darf nicht sein!
Er erhob sich und kam auf Aragorn zu. Elrond hoffte, dass seine hochgewachsene Gestalt genügen würde, um ihn vor Rivar zu verbergen. „Estel, nicht jetzt! Geh! Ich komme zu dir, sobald ich kann!"
Die Stimme des Elben klang so reserviert, wie Aragorn sie noch nie zuvor gehört hatte. Schlagartig war die Sorge um seine Fußverletzung vergessen, als er darüber nachzugrübeln begann, ob er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen.
Verunsichert blieb der junge Mann stehen. Er wollte seinen Pflegevater nach dem Grund für die unerwartete Härte fragen, doch er kam nicht dazu. Im nächsten Augenblick fühlte er, wie sein Vater ihn am Arm nahm und wieder zur Tür hinauszuschieben begann.
„Geh, ich bitte dich!"
Diesmal klangen die Worte des Elben eher drängend als abweisend und das Ganze ergab für Aragorn immer weniger Sinn. Da er jedoch viel zu viel Respekt vor seinem Pflegevater hatte, nickte er nur. „Wie du wünschst, Vater."
Er wollte sich schon zum Gehen wenden, als unvermittelt sein linkes Handgelenk gepackt wurde. Der Griff, der ihn festhielt, war so stark, dass es schmerzte.
Unwillig blieb er stehen. „Was soll das...?" Vergeblich versuchte er sich aus der Umklammerung zu befreien.
„Wartet einen Moment, ich bitte Euch," bat eine Stimme. Im nächsten Moment schob sich ein älterer, ärmlich gekleideter Mann an Elrond vorbei und blieb vor ihm stehen.
Aragorn war sich sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Dennoch: etwas an ihm, für das er keinen Namen zu finden wusste, erschien dem jungen Mann ... vertraut.
„Das ist doch nicht möglich..." Die Worte richteten seine Aufmerksamkeit von Elrond fort auf den alten Mann, der ihn mit einer geradezu unheimlich wirkenden Intensität von allen Seiten anstarrte. „Das kann nicht sein. Meine alten Augen müssen mich täuschen. Aber dieses Gesicht. Und diese Augen, das gleiche Grau wie bei ihm..."
Abwechselnd sah Aragorn, der den gemurmelten Worten Rivars mit wachsender Verwunderung lauschte, den Fremden und seinen Pflegevater an.
Elrond wusste, dass jedes Argument sinnlos bleiben würde. Das aufkommende Erkennen stand dem alten Einsiedler bereits deutlich im Gesicht geschrieben. Es konnte nur noch Momente dauern, bis Rivar verstand, wen er da vor sich hatte. Dazu sah Aragorn seinem Vater viel zu ähnlich. Er hoffte nur, dass er dem alten Mann begreiflich machen konnte, wieso Aragorns Identität unter allen Umständen auch weiterhin geheim bleiben musste.
Der Elbenfürst sammelte sich einen Moment, dann legte er seine Hand auf die Rivars, die Aragorns Handgelenk noch immer wie ein Schraubstock umklammert hielt. „Lasst ihn los, Rivar, ich bitte Euch. Ihr tut ihm weh."
Rivar ließ Aragorns Handgelenk im selben Augenblick los, doch es sah nicht so aus, als registrierte er diese Handlung wirklich. Sein Blick hing wie gebannt an Aragorn, dem so viel Aufmerksamkeit an seiner Person längst mehr als unangenehm war.
Fragend sah dieser Elrond an. „Vater, erklärst du mir, was hier vor sich geht? Ich verstehe es nicht."
Elrond seufzte vernehmlich.
„Das hier, Estel, ist der Mann, der sowohl deinem Vater als auch mir und Prinz Legolas das Leben rettete."
Dann sah der Elbe Rivar an, der der Erklärung fassungslos gefolgt war. Elrond war sich nicht ganz sicher, ob der alte Mann sie wirklich zur Gänze verstanden hatte, doch schon die nächsten Worte würden das zeigen. Er deutete auf Aragorn, der das Geschehen nun stirnrunzelnd verfolgte.
„Und das hier, mein Freund, ist Estel, mein Pflegesohn." Er zögerte kurz. „Ihr irrt Euch nicht. Er ist Arathorns Sohn! Sein Leben hängt nun von Eurer Verschwiegenheit ab!"
***
„Aragorn..."
Es war nicht mehr als ein gequälter Hauch, doch der Unglaube in den Zügen des alten Einsiedlers wurde innerhalb von Sekunden von Freude abgelöst.
„Aragorn!" wiederholte Rivar und seine grünen Augen leuchteten in einem inneren Feuer. „Bist du es wirklich?"
Er musterte den jungen Mann vor sich, wieder und wieder, als könnte das Gesicht des jungen Mannes im nächsten Moment verschwinden. Doch es veränderte sich nicht. Zögernd berührte er noch einmal Aragorns Arm, als wollte er sich vergewissern, dass sich das angebliche Trugbild nicht vor seinen Augen auflöste, sobald er es berührte.
Aragorn hatte unterdessen einen Blick mit seinem Pflegevater gewechselt. Das unmerkliche Nicken des Elben bedeutete nichts anderes, als dass er dem nach wie vor fassungslosen alten Mann die Wahrheit sagen durfte.
„Ich bin Aragorn, Arathorns Sohn!" bestätigte er daher und musterte Rivar nun ebenfalls genauer.
Das Gefühl, diesen Mann zu kennen, war immer stärker geworden, seit er den Raum betreten und den unbekannten Besucher gesehen hatte. Doch erst, als er ihm nun bewusst in die Augen sah und den Schmerz darin erblickte, löste sich schließlich eine Blockade in ihm. Aragorn konnte sich nicht dagegen wehren, dass die Flut der Erinnerungen aus seiner frühesten Kindheit mit ungebändigter Wucht auf ihn einstürzte.
Schlagartig war alles wieder da: das Bild des freundlich dreinblickenden Mannes, dessen auffallendstes Merkmal seine grünen Augen gewesen waren; das Gefühl, zu fliegen, als dieser ihn vor langer Zeit mit Schwung auf ein Pferd gehoben und ihm zum Abschied lachend zugewinkt hatte; längst vergessen geglaubte Worte, die plötzlich durch seinen Kopf hallten.
//"Ich treffe dich in Bruchtal, kleiner Dúnedain. Und dass du mir gut auf deinen Vater aufpasst!//
Aragorn schüttelte den Kopf, um sich aus dem Griff der Erinnerungen zu befreien.
„Onkel Rivar?" fragte er beinahe tonlos und registrierte nicht einmal, dass plötzlich ein kindlicher Unterton in seiner Stimme lag. Rivar hingegen bemerkte es sehr wohl - Tränen traten in seine Augen.
Im nächsten Augenblick fühlte Aragorn sich in einer Umarmung gefangen, die er nach kurzem Zögern erwiderte. Es störte ihn nicht, als sich seine Halsbeuge plötzlich nass anfühlte, weil der Mann, an den er sich seit Jahren nicht mehr erinnert hatte, Tränen der Freude an seiner Schulter vergoss.
Einen Moment später hatte Rivar sich dann aber wieder gefangen und löste sich von Aragorn.
„Verzeih einem alten Mann, Aragorn," bat er verlegen und trat einen Schritt zurück.
„Da gibt es nichts zu verzeihen!" antwortete Aragorn, während ein glückliches Lächeln sein Gesicht zu überziehen begann.
Elrond, der dem Wortwechsel der beiden stumm gefolgt war, schob sie sanft in seine Gemächer hinein, ehe er sich unauffällig zurückzog. Er wusste, dass die beiden sich eine Menge zu erzählen hatten, und wollte ihnen dafür so viel Privatsphäre wie möglich geben.
Rivar indessen ließ seinen Blick nicht von Aragorn.
Er konnte noch immer nicht fassen, dass aus dem kleinen Jungen seiner Erinnerung inzwischen ein Mann geworden war, der in beinahe jeder Hinsicht ein Spiegelbild seines Vaters darstellte. Der bloße Anblick Aragorns ließ Rivar tausend Fragen durch den Kopf schießen. Er wollte sie stellen, sich nach jeder Einzelheit aus dem Leben Aragorns erkundigen – und schwieg, weil ihm plötzlich die Stimme fehlte. Von all den Fragen, die seinen Kopf eben noch gefüllt hatten, war nichts geblieben außer Dankbarkeit über diesen Augenblick.
Es war Aragorn, der dem Schweigen schließlich ein Ende bereitete, indem er Rivar zuerst in den Sessel zurückdrückte, den er bis vor wenigen Augenblicken noch innegehabt hatte, ehe er sich gleichfalls setzte und den alten Mann kopfschüttelnd ansah. „Wo warst du nur in all den Jahren?"
Rivar wusste nicht, wie er das erklären sollte, verstand er den Grund für sein langjähriges Exil plötzlich doch selbst nicht mehr. So sagte er das Erste, das ihm durch den Sinn ging.
„Du... du bist inzwischen so ... groß geworden!"
Aragorn lächelte verlegen. Er hatte bemerkt, wie aufgewühlt der Einsiedler noch immer war und beschloss, ihn nicht zu drängen. Rivar würde ihm schon noch alles erzählen, wenn er sich erst wieder beruhigt hatte. So ging er zunächst auf die Worte des alten Mannes ein.
„Es ist immerhin beinahe zwanzig Jahre her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. In dieser Zeit wird man älter und zum Glück auch größer," lachte er.
Rivar, der sein Schmunzeln nicht verbergen konnte, schüttelte nun gleichfalls den Kopf. „Ich sehe dich trotzdem noch immer als den kleinen Mann, der trotzig versucht, auf den Rücken eines Pferdes zu steigen, obwohl er kaum an den Steigbügel heranreicht..."
Er schwieg einen Augenblick, dann sah er Aragorn an, beugte sich zu ihm hinüber, hob seine rechte Hand und strich dem jungen Mann über die Wange.
„Ich habe dich für tot gehalten, Aragorn." Plötzlich klangen seine Worte so erstickt, als würde das Schuldbewusstsein über seinen damaligen Trugschluss ihm die Kehle zuschnüren. „Du weißt nicht, wie sehr ich dich vermisst habe. An jedem einzelnen Tag in den letzten beiden Jahrzehnten sah ich dein Gesicht. Wann immer ich ein Kind lachen hörte, wurde es zu deinem hellen Lachen, und plötzlich..." Er schluckte, sah auf seine schwieligen, runzligen Hände. „...konnte ich mich wieder daran erinnern, wie es sich anfühlte, wenn du deine winzige Hand in die meine schobst. Es tat so weh und ich..." Seine Stimme wurde brüchig. „...ertrug diese Erinnerung nicht. Aber loslassen konnte ich sie auch nicht... Später, später wollte ich dann nur noch vergessen. An manchen Tagen gelang mir das sogar. Doch nicht für lange."
„Und deswegen verbargst du dich im Wald?" fragte Aragorn behutsam.
„Dort war ich allein. Niemand war da, der an diese Wunde rühren konnte." Rivars Blick sank zu Boden. „Außer mir selbst..."
„Doch nun hat dich dein Weg hierher geführt." Aragorn wusste nicht, wie er auf Rivars Gefühlsausbruch reagieren sollte. Im Grunde kannte er diesen Mann ja gar nicht. Trotzdem wollte er ihn nicht zurückstoßen oder verletzen.
„Es ist zu kompliziert, um alles zu erklären!" versuchte Rivar abzuwehren, doch er hatte nicht mit Aragorns gerade erwachter Neugier gerechnet.
„Ich habe in nächster Zeit nichts vor und Vater hat sicher auch nichts dagegen, wenn du ein paar Tage bleibst."
Noch während er seinen Satz vollendete, bemerkte Aragorn, wie Rivar beim Wort Vater zusammenzuckte.
„Es ist schön, dass du hier eine neue Familie gefunden hast, die dich aufzog," ließ sich der alte Einsiedler nach kurzem Zögern schließlich vernehmen. „Dieses Wissen hätte Arathorn... deinen Vater sicher glücklich gemacht. Er hat Lord Elrond immer als guten Freund bezeichnet, dem er sein Leben anvertraut hätte. Und das gilt sicher auch für seinen Sohn."
Rivar verstummte. Zu tief waren seine Gedanken nun in der Vergangenheit versunken.
Aragorn wartete einen Augenblick, dann sprach er ihn leise an. „Erzählst du mir dennoch, wo du die letzten zwanzig Jahre gewesen bist?"
„Ich war ganz in der Nähe." Rivar sah auf. Bedauern lag wie ein Schatten auf seinen Zügen. „Ich zog mich nach eurem Tod..." Er zögerte kurz. „... nach Arathorns Tod in ein entlegenes Tal zurück."
„Und du kamst nie auf die Idee, Bruchtal zu besuchen? Du wusstest doch, dass Elrond als Arathorns Freund dich jederzeit mit offenen Armen empfangen hätte."
„Zwanzig Jahre lang sperrte ich mich gegen jeden Gedanken, mein selbstgewähltes Exil aufzugeben. Erst die vor ein paar Tagen eingesetzte Kälte zwang mich schließlich dazu. Hätte ich es doch nur früher getan."
Rivar sah aus dem Fenster und fuhr dann nach einer Weile fort.
„Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr, doch ich folgte damals einen Tag später eurer Reisegruppe. Unterwegs fand ich die Spuren des Kampfes. Ich erfuhr vom Tod deines Vaters und dann..." Rivars Stimme zitterte. „...dann fand ich den Umhang, den ich dir zum zweiten Geburtstag geschenkt hatte. Er war blutig..."
Rivar schwieg wieder einen Moment, um sich zu fassen. „Als ich erfuhr, dass man dich nach Bruchtal gebracht hatte, ritt ich wie ein Nazgul dorthin."
„Als ich im Schlosshof ankam, hörte ich zwei Männer über deinen und den Tod deines Vaters sprechen..."
„Va... Lord Elrond hat die Nachricht von meinem Tod verbreitet. Er sagte mir, dass es geschah, um mich zu schützen, doch ich hatte keine Ahnung, welche Folgen diese Entscheidung haben würde." Aragorns Blick ruhte unverwandt auf Rivar. „Nur wenige Eingeweihte wussten, wer ich wirklich war. Für die anderen war ich ein menschliches Findelkind, das der Fürst von Bruchtal in seiner Güte aufgenommen hatte."
„Ich kann verstehen, warum er es getan hat, doch gleichzeitig hasse ich ihn und das Schicksal, das uns getrennt hielt."
„Elrond wusste nicht, dass du meinem Vater so nahe wie ein Bruder gestanden hast. Er kannte dich nicht, sonst hättest auch du sicher zum engen Kreis der Eingeweihten gehört."
„Das ist nun Vergangenheit. Ich kann nichts mehr daran ändern, sondern nur versuchen, noch einmal ein neues Leben zu beginnen." Rivar nahm das Tagebuch vom Tisch und reichte es Aragorn. „Dieses Buch wegen bin ich hierher gekommen. Es ist mein Tagebuch und enthält die Erzählungen, Hoffnungen und Wünsche deines Vaters. Er hat sie mir anvertraut und ich habe sie mitgeschrieben, denn so ein Mann wie Arathorn darf von der Geschichte nicht vergessen werden... erst recht nicht von seinem Sohn!"
Behutsam nahm Aragorn das Buch entgegen und strich fast zärtlich über das feine Tuch mit dem aufgestickten Symbol.
„Was bedeutet dieses Symbol?" Aragorn tastete über die sieben Sterne und sah Rivar dann an.
„Am Tage deiner Geburt leuchteten sechs Sterne zusammen mit Earendil, der an diesem Tag besonders hell schien. Deine Mutter wusste, dass dich deine wahre Bestimmung eines Tages einholen würde und du den Weg gehen würdest, den dein Vater nicht gegangen ist. Doch bis du diesen einzig wahren Weg beschreitest, würde dein Schicksal dich zuerst viele andere Wege betreten lassen."
„Hatte meine Mutter die Gabe der Vorhersicht?"
„Nein, doch deine Großmutter Ivorwen wusste, dass aus der Ehe ihrer Tochter Gilraen mit deinem Vater die Hoffnung der Menschen wachsen würde. Am Tag deiner Geburt wachte ich vor der Tür deiner Mutter und als du geboren wurdest und der erste Schrei aus deinen Mund drang, trat ich ans Fenster. Als ich die sieben hellleuchtenden Sterne am sonst finsteren Nachthimmel sah, wusste auch ich plötzlich tief in meinem Inneren, dass dein Schicksal Mittelerde verändern würde. Nach Jahren, in denen ich längst in meiner Einsamkeit lebte, erinnerte ich mich wieder an diese Nacht. Ich setzte mich hin und bestickte dieses Tuch für dich."
Rivar schwieg, gefangen in den vergangenen Ereignissen.
„Ich danke dir, Rivar. Ich kann mit Worten nicht ausdrücken, was mir dies hier bedeutet. Lord Elrond hat mir einiges von meinem Vater erzählt, doch du bist in seinen letzten Jahren fast immer bei ihm gewesen. Du kennst ihn besser als jeder andere. Ich habe beinahe keine Erinnerungen an ihn. Verschwommene Bilder, die ich als Kind nicht zuordnen konnte, sind alles, was mir von ihm geblieben sind."
„Dann lies in dem Buch und es wird ein wenig so sein, als sei dein Vater bei dir."
Eine Weile saßen sie schweigend beieinander, jeder in Gedanken versunken. Rivar war müde. Der Weg nach Bruchtal hatte zwar nur anderthalb Tage gedauert, doch es hatte ihn Kraft gekostet, alles, was in den letzten Jahren seine Welt gewesen war, für immer hinter sich zu lassen. Ein Neuanfang war immer schwierig.
„Mein junger Aragorn. Verzeih einem alten Mann, doch ich bin müde und werde mich zurückziehen. Ich freue mich darauf, noch ein paar Tage mit dir zu verbringen, bevor ich weiter ziehe."
„Du willst also nicht in Bruchtal bleiben?" Aragorn war bestürzt.
„Dies ist nicht mehr meine Heimat, selbst mit dir darin nicht. Ich werde sehen, wohin das Schicksal mich treibt."
Rivar erhob sich und strich Aragorn leicht übers Haar, wie er es so oft bei dem kleinen Jungen Aragorn getan hatte.
„Ich freue mich über unser Wiedersehen, Aragorn!"
„Mir geht es ebenso, Onkel Rivar!"
Aragorn begleitete den müden Rivar zu seinem Zimmer, das Diener inzwischen hergerichtet hatten. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Rivar alles hatte, was er brauchte, ging er in sein eigenes Zimmer zurück. Dort hatten Diener inzwischen das Kaminfeuer zu neuem Leben angefacht und überall im Raum Kerzen entzündet. Ihr heimeliger Schein vermittelte dem von wilden Gefühlen erfüllten jungen Mann endlich ein wenig Ruhe. Nachdenklich setzte Aragorn sich in einen am Fenster stehenden Sessel und schaute eine Weile ins Nachtdunkel hinaus. Ein frischer Wind wehte herein und pustete ihm die Haare aus dem Gesicht. Aragorn schloss die Augen und genoss die Kühle auf seiner erhitzten Haut.
Nach einer Weile schlug er das Tuch, in dem das Buch eingeschlagen war, zur Seite. Eine Weile betrachtete er die schön geschwungenen Buchstaben auf dem Buchdeckel
Be'Nat Rivar'Odan
Schließlich siegte jedoch seine Neugier und da das Licht der Kerzen hell genug war, schlug er das Tagebuch auf und fing an, darin zu lesen.
[Ankaradas, 14. Juli 2929 DZ]
Ich, Be'Nat Rivar'Odan, Sohn von Nia und Odan'Isem Hassu'Benef, habe einen Mann getroffen, der mich durch seine Integrität und seinen Mut beeindruckt hat. Er nennt sich Aradoran, doch ich glaube nicht, dass dies sein wahrer Name ist. Ich habe ihn im Verlies kennengelernt, wo ich die Gefangenen beaufsichtige. Mein Herr vertraut mir keine höheren Aufgaben an, weil ich ein Bastard und nicht reinen Blutes bin. Dieser Aradoran ist vor einigen Tagen zusammen mit seinen Männern gefangen genommen worden. Seine Begleiter hat man sofort getötet, doch in ihm sieht mein Herr wohl etwas Besonderes...
Aragorn ließ das Buch einen Augenblick sinken.
So hatten sich Rivar und sein Vater also kennengelernt! Sie standen anfangs offenbar als Feinde auf verschiedenen Seiten. Was war dann geschehen? Wie wurden sie Freunde? Aragorn war begierig darauf, mehr zu erfahren, also blätterte er einige Seiten weiter.
[Ankaradas, 8. August 2929 DZ]
Aradoran begegnet mir mit einer Höflichkeit, derer ich es an seiner Stelle hätte mangeln lassen. Er ist der Gefangene und hätte allen Grund, mich zu beschimpfen und seine Freiheit zu fordern. Doch vielleicht fühlt er, dass ich ebenso wie er nur ein Gefangener bin. Mein Herr lässt ihn beinahe jeden Tag foltern, weil er glaubt, dass Aradoran als Kundschafter in die Südlande gekommen ist, um jemanden zu bekämpfen, der in allen anderen Ländern nur „Der dunkle Istari" genannt wird. Doch Aradoran widersteht der Folter und schweigt. Ich hoffe, dass sein Tod schnell kommen wird, denn statt eines Lebens erwartet ihn auf dieser Welt dank meines Herrn nur noch die Hölle...
Aragorn wagte sich nicht vorzustellen, welche Qualen sein Vater ertragen haben musste. War sein Vater wirklich wegen des Dunklen Istari in die Südlanden gezogen? Aragorn wusste aus seinen Geschichtslektionen, dass vor unendlich langen Zeiten fünf Istari nach Mittelerde gekommen waren. Doch von einem Dunklen Istari hatte Aragorn noch nie etwas gehört. Wer oder was war der Dunkle Istari? Aragorn blätterte neugierig ein paar Seiten weiter.
[Ankaradas, 12. Oktober 2929 DZ]
Aradoran hat den Sommer in diesen brütenden Gemäuern als einer von Wenigen überlebt. Ich nehme es als ein Zeichen der Götter, dass es diesem Mann nicht bestimmt ist, hier zu sterben. Es ist unfassbar, aber dieser Fremde mit den eindringlichen grauen Augen ist mir zu einem Freund geworden. Nie zuvor hat mich jemand mit dem Respekt behandelt, den er mir entgegenbringt. Was muss es für ein Gefühl sein, ihn zum Freund zu haben? Auch, wenn ich das vielleicht nie herausfinden werde: Ich werde ihm zur Flucht verhelfen und so er will, ihn in sein Land begleiten. Hier hält mich nichts mehr. Dort, wo er lebt, suche ich mir ein neues Leben... Sei es auch fernab der Heimat, die mir nie freundlich gesinnt war. Heimat ist dort, wo das Herz fühlen kann. Hier fühle ich nichts mehr. Hier bin ich tot.
[Ankaradas, 14. Oktober 2929 DZ]
Das Chaos, das unsere gestrige Flucht auslöste, wird nur noch von der Erinnerung an den Hass übertroffen, den ich in den Augen meines Herrn sah, als wir in seine Zeremonie platzten. Aber endlich sind wir in Sicherheit! Es gab Momente, wo ich nicht geglaubt hatte, dass wir es noch schaffen könnten. Ein Brandpfeil hat mich während der Flucht in die Schulter getroffen. Es war einer dieser schmerzhaften Kreuzpfeile, deren Form sich wie eine Faust ins Fleisch bohrt. Wer überlebt, behält zur Erinnerung eine kreuzförmige Narbe zurück. Ich überlebte dank Aradorans heilerischen Fähigkeiten. Er rettete mein Leben. Jetzt bin ich ihm sogar durch das Blut verpflichtet. Mein Leben gehört ihm!
[17. Oktober 2929 DZ]
Seit unserer Flucht sind 4 Tage vergangen, doch noch immer fühle ich den Schatten des Dunklen Istari auf mir ruhen. Wie eine unheilvolle Vorahnung quälen mich Träume, doch Aradoran beruhigt mich. Ohne ihn hätte ich jeglichen Halt in dieser Welt verloren. Er hat die Würde eines Königs und spricht doch die Sprache des einfachen Mannes ebenso wie die der Poeten. Er hat mir endlich auch seinen wahren Namen verraten. Er ist Arathorn, Aradors Sohn und Führer der Dúnedain! Ich bin ihm und seiner Familie mit meinem Leben verpflichtet...
Aragorn schloss das Tagebuch, doch sein Blick ruhte immer noch darauf. So viele Fragen verlangten nach einer Antwort. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte Rivar in seinem Zimmer aufgesucht, doch der ältere Mann hatte erschöpft ausgesehen, als er ihn verließ. Aragorn wusste, dass er sich in Geduld üben und warten musste.
***
Aragorn hatte fast die halbe Nacht hindurch im Tagebuch geblättert, doch als der Morgen hinter den Baumwipfeln von Bruchtal anbrach, fand ihn das erste Licht des Tages schlafend in seinem Sessel vor. Aragorns Züge zeigten den gleichen Frieden, der aus den Zeilen sprach, die er gelesen hatte, bevor der junge Mann dem Schlaf erlegen war. Das geöffnete Buch lag auf seinen Knien und die Hand ruhte über dem letzten Eintrag, den Aragorn gelesen hatte.
[1. März 2931 DZ]
Heute ist ein wundervoller Tag. Aragorn wurde geboren. Ich habe Arathorn noch nie so glücklich und strahlend gesehen wie am Tag der Geburt seines Sohnes. Er sagte zu mir: 'Mein Freund, was immer mit mir in der Zukunft geschehen wird, durch meinen Sohn lebt ein Teil von mir weiter. Mein Blut fließt durch seine Adern, sein Herz schlägt im gleichen Takt wie das meine. Ich fühle mich plötzlich freier durch ihn und lebendiger als jemals zuvor.' Arathorns Glück ist so überwältigend, dass ich zu allen Göttern flehe, dass nichts es je trüben möge. Was in meiner Macht liegt, werde ich tun, um beide zu schützen: den Vater, der mir teurer als mein eigenes Leben ist, und den Sohn, der bereits jetzt solches Glück in anderen Menschen erwecken kann...
Aragorn hatte die Liebe seines leiblichen Vaters Arathorn zwischen den Zeilen lesen können und das war alles, was er jemals wissen wollte. Er würde diese Worte, die er mit hinüber in den Schlaf genommen hatte, nie wieder vergessen.
***
wird fortgesetzt
Ehe es zu den Einzelantworten geht, erst mal ein dickes Danke an euch alle. Eure Reviews waren der Ansporn, den unsere verschlafenen Musen gebraucht haben! :)
Cheyenne: Dein Freudestrahlen angesichts deines bestätigten Verdachtes vom letzten Kapitel hat uns beide natürlich mitgefreut. Hoffentlich lächelst du uns auch noch an, wenn wir das Verhängnis über unsere Helden hereinbrechen lassen. Es ist – zumindest beim Schreiben – fast soweit... Die Szene mit Klein-Aragorn war zu ihrer Entstehungszeit ein Spontan-Einfall, inspiriert von ManuKus kleiner Tochter, die mit ihren noch nicht einmal 2 Lebensjahren schon ganz genau weiß, wo Mama die Kekse aufbewahrt und was für Kulleraugen man machen muss, damit man welche bekommt.
BlackPearl: Naja, nachdem „Hitzkopf" Aragorn durch die Kletterei im Schlosspark die Fußwunde erneut aufgerissen hat, bleibt ihm keine andere Wahl, als sie einem erfahrenen Heiler zu zeigen. Immerhin weiß er genau, was geschehen kann, wenn sich nicht bald jemand darum kümmert. Wer wäre da besser geeignet als Elrond? Der macht ihm wenigstens nicht noch mit Witzen über seine Tollpatschigkeit das Leben schwer... Und was deine Vermutung bezüglich Legolas' Ärger auf 2 Leute angeht: Sorry, aber du ahnst nicht, wie sehr du daneben liegst. Und was die Szene im Dorf angeht: dein Hinweis hat uns dazu gebracht, das Verhältnis „Südländer – Dörfler" in einem der nächsten Kapitel noch einmal genauer zu beleuchten. Dann erklärt sich auch der unverhältnismäßig hohe Schreck-Faktor des alten Händlers.
Luinaldawen: Cliffies sind einfach zu schön, um ihnen zu widerstehen. Stimmt schon, eigentlich bringt es nichts, uns zu piesacken, damit wir mehr verraten. Aber versuchen kannst du es ja trotzdem. Autoren stehen auf so was... *eg* Wie Rivar auf Aragorn reagiert, ist inzwischen ja kein Geheimnis mehr, ebenso wenig wie einige erste (und gemein kurze, zugegeben) Hinweise auf die Umstände, die Aragorn demnächst zum Verhängnis werden. Für Assats Verarbeitung seines Verhaltens ist noch genug Zeit – der Gentleman-Gauner bleibt euch noch eine Zeitlang erhalten.
Dragon-of-the-north: Kleine Leserwünsche (oder auch ausgefallene wie „Bitte, lasst uns/mich noch eine Weile weiterzappeln") erfüllen wir doch prompt, gern und mit Begeisterung. *BG* Die nächsten Kapitel werden mehr als reichlich Zappel-Material für jeden Leser haben. Wäre dies eine Story mit Soundtrack, so wäre genau das die Stelle, an der die drohende Musik beginnt. Das Verhältnis von Assat und Miro bleibt in der nächsten Zeit erst mal in der Schwebe. Immerhin schüttelt man jahrelange Todesfurcht vor jemandem nicht ganz so einfach ab. Für grimmigen Humor wird Assat in der nächsten Zeit keinen Grund haben. Später dafür um so mehr. Und was die intelligenten Orks angeht: wir waren der Meinung, dass diese Geschöpfe viel zu stupide dargestellt sind. Immerhin befindet sich ja auch etwas „Elbe" in ihrem Gen-Pool, wie man weiß, und so dämlich sind Elben für gewöhnlich ja auch nicht. Hey, (fast) alle kleinen Kinder sind anstrengend. Elronds „Flucht" sollte so etwas wie eine literarische Verbeugung vor allen Mamis und ihrer Kraft sein. Tja, die Idee mit dem Buch, das Aragorn im ersten Film las, kam uns spontan und wurde prompt mit in die Handlung eingebaut.
Amlugwen: Wir haben Glorfindel hauptsächlich deswegen auf dieser Bank platziert, weil er unverhältnismäßig durcheinander war – immerhin hatte er (immerhin ein sonst überaus beherrschter Elbe!) gerade zum ersten Mal nach Zig Jahrzehnten die Kontrolle über seine Handlungen verloren und dabei mal eben so den Adoptivsohn seines Lehnsherren gewürgt. So ein wenig Muffensausen vor seinem Freund Elrond dürfte er schon gehabt haben. Unser „neuer" Bösewicht ist ziemlich vielschichtig angelegt. Ob man ihn bemitleiden muss? Hmm... Irgendwie muss jeder Bösewicht bemitleidet werden – immerhin wird niemand böse geboren. Die kommenden Kapitel erzählen dazu mehr – und erhöhen damit auch das Wissen des Lesers um die Gefahr, die Aragorn droht. Aber mehr wird noch nicht verraten.
Silver-Chan: Herzlich willkommen im Kreise der Reviewer. Unseren Update-Rhythmus haben wir auf Freitag abend/Samstag Vormittag gelegt und bislang ist es uns auch fast immer gelungen, ihn einzuhalten... wenn FF.net es zuließ. Tja, und unsere Vorliebe für Cliffhanger zum Kapitelende liegt wohl jedem Autor im Blut. Inzwischen hat ja auch das Fernsehen diese Art des Endes für sich perfektioniert. Wer „ALIAS" sieht, weiß, wovon wir reden...
Mystic Girl: Hey, wir haben Elrond doch nur ein wenig weh getan. Und inzwischen geht es ihm doch wieder gut. Also, kein Grund zur Besorgnis. Andererseits... Als Fan dieses Herrn müsstest du ihn doch auch mal ganz gern so sehen wollen, oder??? *BG* Die Sache mit den Pfandgütern und den Nazgul-Gerichtsvollziehern – wär' das nicht was für eine Parodie? Und was machen A-Hörnchen und B-Hörnchen? War da nicht auch noch was? Dass Rivar Aragorn erkannt hat, ist inzwischen ja kein Geheimnis mehr. Familienähnlichkeiten sind halt auch in Mittelerde nichts ungewöhnliches.
Arlessiar: Tja, das mit dem Königskraut/Basilikum ist die Schuld meiner [Salaras] Mutter. Sie wollte wissen, was man mit Basilikum alles kurieren kann (außer wunde Grippe-Hälse), denn der Garten ist voll von dem Kraut. Also wurde ein Kräuterheilkundebuch gekauft. Na ja, und da stand das dann. Ich [Salara] bin fast umgefallen, als ich mir vorstellte, dass Aragorn Frodo nach dem Stich mit der Morgul-Klinge mit Basilikum behandelt. Also wir würden ja behaupten, dass Aragorn nicht so auf Basilikum steht, bei dem Gesicht, dass er beim Kauen verzieht. Tja, Legolas' Reise durch die Nebelberge wird, mit zwei verletzten Menschen im Schlepptau, zum Abenteuer, soviel ist klar. Die Buch-Filmszene war so ein spontaner Einfall, der aber prächtig zu unseren Plänen passte. Übrigens kamen wir erst auf diese Szene, nachdem Rivars Tagebuch in „Kreuzwege" bereits Erwähnung gefunden hatte. Übrigens gibt es da noch einen „Klein-Agon", dessen Schicksal wir nach dem Ende deiner Hausarbeit gern weiter verfolgen würden! (Autorinnen winken mit dem Zaunpfahl...)
Nili: Die Elrond-wird-verletzt-Szene stammt zwar aus meiner [Salaras] Tastatur, aber ausgetobt habe ich mich mit ihr nicht! Nein! Nie! Niemals! Nicht auf einer knappen halben Seite!!! Das war eher so ein „Ich-will-ihm-jetzt-aber-wehtun-sonst-bin-ich-grumpfig"-Notfall, und ManuKu mit ihrer Mama-Erfahrung weiß, dass man quengelnden Kindern (und Co-Autorinnen) manchmal ihren Willen lassen muss, um sie ruhig zu bekommen. Wenn es nach mir [Salara] ginge, wäre die Szene viel länger und detaillierter und leidenspotentialreicher und... Was? Ja, okay, ich hör' ja schon auf *grummel - ich will aber...* Aber was (noch) nicht ist, wird bald... (greller Lichtstrahl richtet sich von unten auf ein sonst im Dunkeln liegendes Gesicht, das unheilverkündend – und ein klein bisschen irre – auf den Rechner späht). Übrigens hat nicht ER SICH aus dem Kampf abgesetzt, sondern allerhöchstens ICH [SALARA] IHN! Jawohl! Gut, einigen wir uns darauf, dass sein Gaul Schuld ist, ja?
Du riechst Verwicklungen? Hey, guter Riecher!!! Eingefädelt haben wir jetzt alles, was für einige richtig miese Verwicklungen reichen sollte.
Wie jetzt? Elrond springt zur Seite und fängt den „fliegenden" Estel nicht auf? Slapstick in Mittelerde! Ha, ha, ha! Sind wir hier bei Dick und Doof? *bg*
Du kaufst dir einen Laptop? Och, Neid! Was würde ich [Salara] für so ein Teilchen geben, wenn ich's hätte! Hach, seufz. Dann könnte ich unseren Lieblingen sogar dann wehtun, wenn mich elterlich verordnete Grillwochenenden ins Grüne verbannen. Das wäre perfekt: ein gegrilltes Steak auf dem Teller, ein schönes, kühles Glas Wein dazu und auf dem Monitor unsere Lieblinge, die einem auf die eine oder andere Art Gesellschaft leisten. Was könnte die Welt schön machen... *träumt und driftet davon*
