### Wir glauben langsam, dass euch unsere Geschichte inzwischen langweilt. Das tut uns zwar leid, doch andererseits war es nicht zu umgehen, dass in den letzten Kapitel mehr geredet als gekämpft wurde. Wir wollten euch eine gute Geschichte liefern, doch dafür bedurfte es etlicher Vorbereitungen im Storyverlauf, damit spätere Geschehnisse auch nachvollziehbar sind. Die Action kommt bald, keine Sorge.
### Uns ist auch klar, dass dies zwar „nur" FanFiction ist, doch wir vergleichen sie jetzt trotzdem mal mit einem „normalen kleinen" Roman. Auch dort baut sich ein Handlungsbogen eher langsam auf, bevor er sich dann in einem Höhepunkt entlädt. Unsere Geschichte ist da nicht anders, daher bitten wir noch um ein wenig Geduld.
### Und noch etwas: Einigen Lesern ist unsere Version von „Aragorn" offenbar etwas zu stur geworden, weil er seinen schmerzenden Fuß so lange verbirgt. Für die geplanten Handlungen brauchten wir diese „dumme" Version des Rangers jedoch. Wieso, wird enthüllt, wenn ihr dran bleibt... und eine klitzekleine Review schreibt. Bitte???
### Da wir die Warnungen FF.nets bezüglich „kleiner" Ausfälle am Wochenende nicht so recht glauben wollen, posten wir dieses Kapitel sicherheitshalber schon mal am Donnerstag Abend. Also viel Spaß allen Lesern und los...
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Schuld und Sühne
von: Salara und ManuKu
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~TEIL 12~
Zur selben Zeit, als Aragorn Rivar die Wunder des Elbentals zu zeigen begann, herrschte in einem gut versteckten, provisorisch anmutenden Zeltlager furchtsame Stille, die nur vom Rauschen der Blätterkronen, dem leisen Schnauben der Pferde und gelegentlichem verhaltenem Klirren von Waffen unterbrochen wurde. Das Lager der Südländer war hinter mannshohen, dichten Brombeerhecken aufgebaut worden, die ihnen als Schutz vor den Blicken der wenigen zufälligen Reisenden in diesem Teil des Waldes dienten. Letzte Spätherbstsonnenstrahlen lagen auf verblichen aussehenden Zeltplanen und ließen mit dem Tanz der sich im Wind wiegenden Äste glänzende Lichtpunkte auf ihnen umhergleiten.
Schon seit Sonnenaufgang herrschte Leben im Lager, doch jeder war bemüht, sich so lautlos und unauffällig wie möglich zu bewegen. Keiner hatte den Anblick Kassams vergessen, den Morag wortlos und mit gesenktem Haupt an ihnen vorbei zu einer Grube geschleift hatte. Die Männer nutzten sie eigentlich als Abfallgrube, doch sie schien auch der passende Ort zu sein, um den Leichnam loszuwerden.
Keiner der Krieger hatte den unglücklichen jungen Mann, der dumm genug gewesen war, sich zu überschätzen, länger als einige wenige Minuten bedauert. Wenn man diesen Fehler beging, bezahlte man auch prompt den Preis dafür.
Das war eben das Risiko bei Gomar.
Jeder im Lager wusste von seiner Sucht und richtete sich danach, denn sie alle wollten nichts anderes als diese Suche überleben, die sich nun schon so lange – viel zu lange, wie die altgedienten Krieger heimlich meinten – ausdehnte.
Die beiden panisch geflüchteten Liebesdienerinnen waren, Wie Gomar es befohlen hatte, wieder eingefangen worden. Zwei Krieger zu Pferd brauchten nur wenige Minuten, um die schreienden und sich heftig wehrenden Frauen ins Lager zurückzutransportieren. Sie verstummten in dem Moment, als sich die Planen von Gomars Zelt hinter ihnen wieder schlossen. Die beiden waren vielleicht verängstigt, doch klug genug, um zu wissen, dass sie besser alles in ihren Künsten Stehende taten, wollten sie ihr Zuhause noch einmal lebend wiedersehen.
Das war nun etliche Stunden her, doch obwohl aus dem Morgen längst Tag geworden war, herrschte noch immer Stille in Gomars Zelt.
Morag warf immer wieder misstrauische Seitenblicke in diese Richtung, während er seine Nerven damit zu beruhigen versuchte, dass er sein Pferd sorgfältig striegelte. Er war in den letzten Jahren so etwas die Gomars rechte Hand geworden und hatte zur Stelle zu sein, wenn sein Herr ihn rief. Das würde auch an diesem Tag nicht anders sein.
Wie gut sein Instinkt ihn beraten hatte, begriff Morag, als Augenblicke später die Plane zur Seite geschoben wurde und Gomar ins Freie trat. Der Anführer der Kriegertruppe reckte sich ausgiebig und sah kurz zum Himmel empor, ehe er schließlich einen prüfenden Blick ins Lager warf.
„Morag!"
Der Ruf hallte wie der unheilverkündende Schlag einer bronzenen Glocke durch die kristallklare Luft.
Der so Gerufene ließ das Striegelzeug achtlos zur Seite fallen und eilte mit raschen Schritten an Gomars Seite. „Ja, Herr! Was wünscht Ihr?"
„Es ist so still heute morgen." Gomar sah sich nachdenklich um und erspähte zwei Krieger, die ihren Herrn erschrocken und respektvoll grüßten, ehe sie mit hastigen Schritten in einem der nächsten Zelte verschwanden. „Was ist denn los mit den Leuten?"
Morag erstarrte innerlich, während sein Verstand auf Hochtouren zu arbeiten begann. Wie gut standen seine Überlebenschancen, wenn er es wagte, Gomar an den Mord an Kassam zu erinnern? Null bis kaum wahrnehmbar, flüsterte die Stimme der Erfahrung in den Gedanken des Kriegers, der darauf nervös schluckte, ohne so schnell eine Antwort formulieren zu können.
„Nun?" Gomars dunkle Augen hielten Morags Blick fest. „Ich habe dich etwas gefragt!"
„Sie... sind ... müde, Herr," druckste dieser herum und hätte sich gleich darauf für seine Worte ohrfeigen können, als er begriff, dass er gerade die dümmste aller möglichen Antworten gegeben hatte. Mitten am Tag waren nur Schwächlinge müde, lautete das ungeschriebene Gesetz ihres Herrn, der im Regelfall keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, jeden Anflug von Schwäche oder Unsicherheit drastisch auszumerzen. In Erwartung einer entsprechenden Reaktion ließ er den Kopf hängen. Eine Bestrafung der Männer erschien ihm so gut wie sicher, und die würden es ihn dann ihrerseits büßen lassen. Der erfahrene Kämpe hasste diese Aussicht zutiefst!
Gomar dachte an diesem Tag allerdings gar nicht daran, seine Männer für Morags Antwort zu bestrafen, doch das konnte dieser nicht ahnen.
Der Anführer der Südländer war nach langen Tagen endlich einmal wieder gut gelaunt. Zwei wirklich begabte Dirnen hatten ihm die Nachtstunden mit ihren Diensten verkürzt, das Sytharm betäubte noch immer die Verzweiflung in ihm, der Mord an diesem Schwachkopf Kassam hatte neue Energie in seinen Körper gepumpt und sogar die Sonne schien endlich einmal wieder. Das Leben konnte manchmal auch ganz angenehm sein!
„Sie sind müde, soso!" Gomar sah sehr genau, dass sein Untergebener in Erwartung der unvermeidlichen Vergeltung Höllenqualen litt. Dieser Anblick war immer wieder unbezahlbar. Er grinste spöttisch. „Dann muss ich wohl dafür sorgen, dass sie munter werden. Ruf die Männer zusammen. Sofort!"
Er beobachtete zufrieden, wie Morag davon hastete und von Zelt zu Zelt lief, um die Krieger zusammenzutrommeln.
Schließlich waren alle vor Gomar versammelt, der mit innerlicher Belustigung registrierte, wie Morag von etlichen bitterbösen Blicken getroffen wurde.
„Morag meinte, ihr wärt müde."
Er ließ seinen Blick über die Krieger schweifen, die nun noch ergrimmter als zuvor wirkten, und dehnte die Pause zwischen seinen Sätzen über Gebühr aus, ehe er fortfuhr.
„Ihr wißt ja, dass ich es nicht dulde, dass meine Kämpfer schwach werden, habe ich recht?"
Die Männer gaben etwas von sich, das man bestenfalls ein halbherzig zustimmendes Murmeln nennen konnte, doch es reichte, um die Stimmung des Mannes weiter zu heben.
„Also müssen wir etwas dagegen unternehmen!"
Mit bewußt langsamen Schritten ging er die Reihen seiner Männer ab, die sich bemühten, dem unergründlichen Blick ihres Anführers standzuhalten. Als Gomar endlich wieder vor seinem Zelt stand, meinte er die Nervosität seiner Leute fast greifen zu können.
„Gewöhnlich lasse ich euch zu so einem Anlass Kampfübungen machen, doch diesmal habe ich etwas anderes mit euch vor. Diesmal..." Erneut zögerte er seine nächsten Worte hinaus. „...habe ich beschlossen, dass es euch gut tun wird, wenn ihr..." Noch eine Pause. Gomar konnte sehen, dass Morag neben ihm am liebsten im Erdboden versunken wäre. „...euch einen ganzen Tag lang..." Dieses Spiel war einfach zu schön, fand Gomar, der das lauter werdende Grollen seiner Krieger nun deutlich vernehmen konnte. Er nahm sich vor, diese Methode von nun an öfter anzuwenden. „...in der nächstgelegenen Stadt so richtig amüsiert!"
Er hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als er sah, wie sich die Köpfe ruckartig hoben und ungläubige Blicke ihn streiften. Gomar lächelte zufrieden. So sichert man sich die Loyalität seiner Männer!
„Die Hälfte von euch darf sofort aufbrechen, die andere bleibt zum Schutz des Lagers hier. Bis zum Morgengrauen sind alle wieder da. Dann kann die zweite Hälfte bis zum darauffolgenden Sonnenuntergang verschwinden. Am Tag darauf werden wir das Lager abbrechen und drei Tagesreisen weiter nach Norden ziehen."
Gutgelaunt winkte er die Männer fort. „Weg mit euch. Die Zeit läuft."
Morag blieb reglos neben seinem Herrn stehen und sah, wie die Krieger sich nach kurzer Absprache erfreut in ihre Unterkünfte zurückzogen, um gleich darauf bewaffnet und mit ihren schwarzen Umhängen bekleidet zu den Pferden zu gehen. Die Erleichterung über den glücklichen Ausgang dieser Sache stand dem Kämpfer deutlich ins Gesicht geschrieben und er hätte es den anderen zu gern gleich getan, doch etwas hielt ihn im Lager zurück.
„Was ist?" Gomar warf ihm einen forschenden Blick zu. „Reitest du nicht mit ihnen?"
„Nein, Herr!" Morag schüttelte den Kopf. „Ich bleibe noch eine Weile hier und werde später mit der zweiten Gruppe gehen."
„Gut, wie du willst. Es ist deine Entscheidung."
Gomar wandte sich schulterzuckend ab, um in sein Zelt zurückzukehren, dann blieb er noch einmal stehen und sah zu Morag zurück. „Aber wenn du schon hier bleibst, dann sorg dafür, dass mir und den Frauen etwas zu essen gebracht wird. Die zwei..." Er grinste kurz. „...bleiben ebenfalls noch eine Weile hier."
Dann verschwand er.
Zurück blieb ein nachdenklicher Morag, der den Männern nachsah, die gerade in Richtung Norden davon ritten.
***
Der Tag, der Elrond jene rätselhafte Vision gebracht hatte, wurde für ihn zu einem der quälendsten seit langer Zeit.
Es kostete den Herrn von Bruchtal erhebliche Mühe, den Ausführungen seiner Berater geduldig zu lauschen und die anstehenden Probleme zu jedermanns Zufriedenheit zu regeln. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu den verwirrenden Bildern zurück, die sich ihm präsentiert hatten. Erst ein einziges Mal in seinem langen Leben hatte er eine so verwirrende Vision erlebt – und ihr ebenso hilflos gegenüber gestanden, wie er es diesmal tat. Damals hatte er sie erst viel zu spät deuten können. Celebrian, seine geliebte Gattin, hatte diese Verzögerung fast mit ihrem Leben bezahlt. Die Ahnung, dass ihm Schlimmes ins Haus stand, wenn dies eine ebensolche Vision war, zerrte entsetzlich an seinen Nerven.
Es bedrückte ihn, dass er trotz aller Mühen auch diesmal nicht zu deuten vermochte, vor was ihn das Gesehene hatte warnen wollen. Ganz besonders machte ihm ein Bild zu schaffen: das Elrohirs, der – von der Klinge des Vaters getroffen – reglos am Boden lag. Der Elbe hätte eher sein Leben hingegeben als einen seiner Söhne verletzt und doch wusste er, dass genau diese Situation eintreten würde, denn er hatte sie gesehen. Seine Visionen traten immer ein. Es gab kein Vielleicht – nur die Gewissheit.
Bedrückt und beunruhigt absolvierte der Elbenfürst seine Pflichten, ehe er sich endlich in seine Privatgemächer zurückziehen konnte.
Der Nachmittag war inzwischen bereits weit vorangeschritten. Nachdem er die Diener angewiesen hatte, ihn unter keinen Umständen zu stören, wandte er sich dem Tuch zu, das er am Morgen aus Estels Zimmer mitgenommen hatte. Er ließ es wieder und wieder durch seine Finger gleiten, doch die erhofften Bilder blieben aus. Erschöpft und niedergeschmettert gab er es schließlich auf und gesellte sich zu seinen Söhnen in die Halle hinunter.
Neben den Zwillingen hatten sich unterdessen auch Rivar und Aragorn wieder eingefunden. Beide waren den ganzen Tag lang in Bruchtal umhergelaufen. Der Ausdruck von Ehrfurcht im Antlitz des alten Mannes ließ erkennen, wie sehr ihn die Schönheit dieses Ortes in ihren Bann gezogen hatte.
Die anfängliche Scheu des Einsiedlers vor den Zwillingssöhnen des Elbenfürsten verlor sich angesichts des unbeschwerten Geplänkels zwischen ihnen und Aragorn schon bald, und als das Abendessen schließlich serviert wurde, war es, als säßen langjährige Bekannte zusammen am Tisch.
Elrond bemerkte dies mit Zufriedenheit. Es hätte ihn noch zusätzlich belastet, wenn sich der Mann, dem er sein Leben verdankte, in seinen Mauern verloren gefühlt hätte. So versuchte er, sich den Anschein des Normalen zu geben, konnte allerdings nicht ganz verhindern, dass seine Gedanken bei den bald einsetzenden Gesprächen erneut abschweiften und er deswegen ungewöhnlich schweigsam blieb. Nur hin und wieder riss ihn eine Frage aus seinen Grübeleien. Er registrierte, dass seine drei Söhne immer wieder fragende Blicke wechselten, wenn sie ihn unaufmerksam wähnten, doch er wusste, dass sie genauer nachfragen würden, sobald er ihnen Gelegenheit dazu gab. Soweit wollte er es jedoch nicht kommen lassen.
Nachdem Rivar verkündet hatte, dass er entschlossen war, am nächsten Morgen aufzubrechen, und auch alle Bitten Aragorns und der Zwillinge ihn nicht umzustimmen vermochten, sah der Elbe seine Gelegenheit zum Rückzug gekommen.
„Bleib noch ein paar Tage, Rivar, ich bitte dich. Wir sind uns doch gerade erst wieder begegnet. Es gibt noch so viel, das ich dich fragen will..." Aragorn sah den alten Mann bittend an.
Rivar schüttelte kurz den Kopf. „Alles, was ich dir erzählen könnte, steht in dem Tagebuch, das ich dir gab."
„Auch ich bitte Euch, diesen Entschluss noch einmal zu überdenken." Elladans ruhige Stimme zog die Blicke aller auf sich. „Der Winter naht rasch, und in diesem Jahr wird er große Kälte mit sich bringen. Man kann sie bereits in der Luft fühlen. Wenn Ihr Bruchtal jetzt verlasst und nach Norden zieht, wie es Eure Absicht ist, erwartet Euch ein schwerer Weg, Rivar. Es wäre vernünftiger, hier abzuwarten, bis das nächste Frühjahr die Wege wieder freimacht."
„Vernunft bedeutet in diesem Falle Wartezeit, und das ist etwas, das sich mein Alter nicht mehr leisten kann." Rivars Lächeln war traurig. „Nein, es bleibt dabei: ich danke für die mir erwiesene Gastfreundschaft..." Er nickte Elrond kurz zu, der diese Geste zunächst wortlos erwiderte. „...aber in der Frühe des morgigen Tages werde ich Euer wunderschönes Tal wieder verlassen."
„Ich akzeptiere Euren Entschluss, mein Freund." Ernste Augen streiften den alten Mann. „Zwar möchte auch mein Herz Euch hier in Bruchtal in Sicherheit wissen, doch es steht weder meinen Söhnen noch mir zu, diese Entscheidung in Frage zu stellen. Es sei, wie Ihr wünscht."
Der Herr von Bruchtal erhob sich unvermittelt aus dem Sessel, in dem er bislang gesessen hatte, und sah Aragorn und die Zwillinge an, die nun – ebenso wie Rivar – gleichfalls aufstanden.
„Sorgt noch heute Abend dafür, dass Rivar für seine Reise mit allem ausgestattet wird, was er brauchen könnte. Der Stallmeister soll das Pferd morgen früh zum hinteren Tor bringen und man soll Proviant für mehrere Wochen und die beste Ausrüstung vorbereiten. Was mich betrifft, so bitte ich, mich zu entschuldigen. Der Tag war überaus anstrengend und hat mir mehr abverlangt, als ich zunächst annahm."
Er sah zu Rivar zurück. Wie am Abend zuvor ruhten die grünen Augen des alten Mannes auch jetzt forschend auf den Zügen des Elben, doch der Zweifel an seinen Worten, den er in den grünen Tiefen erkennen konnte, blieb unausgesprochen. Dafür war er dem Menschen dankbar.
„Ich wünsche Euch eine angenehme Nacht, Be'Nat Rivar'Odan, und danke den Valar, dass sie Eure Schritte unter mein Dach lenkten."
Der Elbe nickte dem Menschen ein letztes Mal zu, dann wandte er sich – ohne auf eine Antwort zu warten – um, durchquerte die Halle und begann die Treppe hinaufzugehen, die in die oberen Gemächer führte. Stumm sahen die Zurückbleibenden Elrond nach.
Elladan, Elrohir und Aragorn hätten es niemals angesprochen, doch selbst Rivars ungeübten Augen war nicht entgangen, dass der Elbenherrscher sich ziemlich hastig verabschiedet hatte. Irgendetwas beschäftigte den Elben.
Aragorn, der die Gelegenheit eigentlich hatte benutzen wollen, um seinen elbischen Pflegevater endlich um Rat zu seinem verletzten Fuß zu fragen, verschob diese Absicht jedoch erneut. Die Anspannung, die über dem ganzen Abend gelegen hatte, ließ seine Schmerzen schnell wieder in den Hintergrund rücken. Vielleicht bot der nächste Tag ja eine bessere Gelegenheit? Bis dahin mussten es eben weiterhin das Darsurion und die schmerzstillenden und fiebersenkenden Kräuter tun. Trotzdem ließ ihn der eigentümliche Rückzug Elronds nicht los. Obwohl er den Großteil seines Lebens in diesem Haus verbracht hatte, war ihm ein solch seltsames Verhalten an seinem Pflegvater neu. Ratlos sah er die Zwillinge an.
„Wisst ihr, was Vater hat? Ich habe ihn noch nie so abwesend erlebt."
„Wir schon," erwiderte Elrohir und sah seinen Zwillingsbruder vielsagend an. „Willst du oder soll ich?"
„Geh du. Du bist der Einfühlsamere von uns," erwiderte Elladan. Er sah dem rasch davoneilenden Elrohir hinterher, bis ihn Aragorns Stimme aus seinen Gedanken riss.
„Willst du uns jetzt den Rest des Abends raten lassen oder erklärst du uns, wovon ihr zwei eben gesprochen habt?"
Elladan öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Rivar kam ihm zuvor.
„Ich denke, euer Vater ist über irgendetwas besorgt," sagte er leise und sah gleichfalls zur Treppe, auf der Elrohir gerade ins nächste Stockwerk verschwand. „Sogar zutiefst besorgt."
„Ihr habt gut beobachtet, Rivar." Anerkennend sah Elladan den Menschen an, dann setzte er sich wieder. Die beiden anderen folgten seinem Beispiel. „Damals, ehe das mit Mutter geschah, hatte er eine Vision und reagierte ebenso."
Rivars etwas ratlose Miene ließ es ihm angebracht erscheinen, weitere Erklärungen abzugeben.
„Unsere Mutter geriet vor über 400 Jahren im Nebelgebirge in eine Falle der Orks, die sie mit einer vergifteten Waffe verletzten. Nicht einmal die Heilkünste Adas konnten ihr helfen. Sie segelte schließlich in die Unsterblichen Lande, sonst wäre sie gestorben."
Elladans Stimme war leise geworden. Das Fortgehen seiner Mutter war für alle in diesem Haus ein schwerer Schlag gewesen, und selbst die inzwischen verflossenen Jahrhunderte machten es nicht einfacher, darüber zu reden.
„Und dort lebt sie noch heute?" Rivar sah den Elben fragend an, der nach unmerklichem Zögern schließlich nickte.
„Ja. Sie lebt dort und wartet, bis wir eines Tages zu ihr kommen." Freude über diese Aussicht lag in der Stimme Elladans, doch Aragorn konnte diese Freude nicht teilen, denn sie bedeutete, dass er dann allein sein würde.
Ganz allein. Ohne die Personen, die er seit 20 Jahren Familie nannte.
Und plötzlich – in diesem einen Moment – begriff er, wie sich Rivar bis vor ein paar Tagen gefühlt haben musste.
Bitte, Eru, lass nicht zu, dass ich mich jemals so einsam fühle, schickte er sein stummes Flehen in die nächtliche Finsternis und verkroch sich gleichfalls in dem Schweigen, das nun Einzug in die Halle gehalten hatte. Doch die Furcht, die mit dieser Erkenntnis in ihm erwacht war, konnte er in dieser Nacht nicht mehr zum Schweigen bringen.
***
Elrond hatte befürchtet, dass seine Söhne sich nicht so einfach fern halten lassen würden. Er fand seine Ahnung auch gleich darauf bestätigt, als er das Geräusch von Schritten hinter sich vernahm.
„Vater, warte!"
Ausgerechnet Elrohir, seufzte der Elbe lautlos, blieb jedoch stehen und wandte sich um. Sein jüngerer Sohn hatte ihn mit wenigen langen Sätzen eingeholt und blieb schließlich vor ihm stehen. Seine Frage stand Elrohir überdeutlich ins Gesicht geschrieben.
„Wenn es nichts Wichtiges ist, verschiebe dein Anliegen bitte auf morgen. Ich bin müde..."
„Wenn mich die zurückliegenden Jahrhunderte etwas gelehrt haben, dann das Einschätzen bestimmter Verhaltensweisen," fiel Elrohir seinem Vater ins Wort, wohl wissend, dass dieser Unterbrechungen solcher Art zutiefst missbilligte. Dass Elrond ihn nicht sofort mit scharfen Worten in seine Schranken wies, sondern schwieg, als würden ihm die Worte fehlen, bestätigte die Ahnung des jüngeren Zwillings. Etwas stimmte nicht!
„Deine Sorge muss schwer wiegen, Vater, denn sie beginnt dein Sternenlicht zu verdunkeln."
„Es ist nur eine Belanglosigkeit, Elrohir, wenn auch eine von vielen. Du weißt so gut wie ich, dass das Leben von solchen Nichtigkeiten erfüllt ist. Je weniger Gewicht man ihnen beimisst, desto schneller verschwinden sie."
Elrond wollte sich abwenden, doch er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit Elrohirs gerechnet. Der gab sich nämlich ganz und gar nicht mit der Antwort seines Vaters zufrieden. Die Ausrede war viel zu einfach als solche zu erkennen und gerade diese Tatsache war es, die den jüngeren Zwilling stärker beunruhigte, als es eine offene Zurückweisung vermocht hätte.
„Du hast Elladan und mich niemals angelogen, Vater." Elrohir verfluchte im Stillen das zu dieser Stunde herrschende Dämmerlicht, denn es verhinderte, dass er die Züge seines Vaters genauer studieren konnte. Doch das Wenige, das erkennen konnte, legte sich wie ein drohender Schatten über seine Seele. „Zweitausendachthundert Lebensjahre sind jedoch genug, um mir zu sagen, dass du gerade damit begonnen hast."
Unerwartet wurden Elronds eben noch abweisende Züge weich, doch die geradezu unheimliche Entschlossenheit, die gleichzeitig um seine Mundwinkel spielte, steigerte Elrohirs Besorgnis noch.
„Es gibt Dinge, die jeder mit sich allein abmachen muss, mein Sohn. Die Sorge, die mich plagt, gehört dazu. Und das ist auch schon alles, was ihr drei von mir dazu hören werdet, also hört auf, mich zu drängen."
Er wollte sich abwenden und die Tür zu seinen Gemächern öffnen, die nur noch einen Schritt weit von ihm entfernt war, doch einem spontanen Impuls folgend drehte sich der Elbenherr noch einmal zu seinem Sohn zurück.
Wie dieser da vor ihm im Gang stand und ihm mit einem Ausdruck aus Bestürzung und Ratlosigkeit hinterher starrte, zerriss es Elrond fast das Herz. Plötzlich waren sie wieder da, die ungebetenen Bilder: er selbst, kämpfend, und der von seiner Waffe durchbohrte Elrohir, den das Leben mit jedem Atemzug verließ.
Was werde ich nur tun? Ich würde nie... und dennoch... noch nie hat eine Vision getrogen... Er schluckte mühsam den Kloß herunter, der sich in seiner Kehle bilden wollte. Ihr Valar, was werde ich tun...
Es war ein Ausdruck seiner Verzweiflung, als er zu seinem Sohn zurückkehrte und ihn fest in die Arme schloss. Momente lang verharrten Vater und Sohn so, dann drückte Elrond den erschütterten Elrohir von sich.
„Ich liebe dich und deine Brüder mehr als sonst etwas in Mittelerde. Vergiss das niemals, mein Sohn. Und nun geh. Geh zurück zu den anderen und sag ihnen, dass sie die Absicht aufgeben sollen, von mir etwas zu erfahren, denn ich werde nichts dazu sagen."
Er presste die Lippen zusammen, um sich ein unerschütterliches Aussehen zu geben und spürte im nächsten Augenblick, wie sich, seiner Absicht zum Trotz, Tränen in seinen Augenwinkeln bilden wollten.
Elrond floh vor seinem Sohn ohne ein weiteres Wort hinein in den Schutz seiner Räume, wo er – nachdem er die Tür hinter sich verschlossen hatte – haltlos in einen Sessel sank und das Gesicht in den Händen vergrub.
Großer Eru, was werde ich Elrohir antun?
Nie zuvor hatte er sich so hilflos gefühlt wie an diesem Abend. An Schlaf war nicht zu denken, denn mit der Dunkelheit war auch die Erinnerung an seine Vision wieder lebendig geworden. Die Bilder kreisten in seinem Denken und verhöhnten den verzweifelten Vater mit ihrer unwandelbaren Gnadenlosigkeit, bis er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.
Zum ersten Mal seit der Abreise seiner Gemahlin verlor der Elbenfürst in dieser Nacht den Kampf gegen die Tränen.
Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein.
***
Rivar verließ Bruchtal wie angekündigt am nächsten Morgen. Es war ein unfreundlicher, grauer, verregneter Spätherbsttag, dessen Kühle erahnen ließ, dass der Winter nicht mehr weit entfernt war.
Neben Rivar und Aragorn, der dem alten Einsiedler kaum von der Seite wich, hatten sich auch Elrond und seine Söhne eingefunden, und in einiger Entfernung stand ein Bediensteter, der Rivars gesatteltes Pferd am Zügel hielt.
„Ich bitte dich ein letztes Mal, Rivar, überlege es dir." Aragorn wusste, dass seine Worte vergeblich waren, doch er wollte den alten Mann nicht einfach so gehen lassen. „Bleib den Winter über in Bruchtal. Hier hast du alle Annehmlichkeiten und musst dir keine Gedanken um die nächste Mahlzeit machen. Außerdem könnten wir dann..."
„Aragorn!" Rivar unterbrach den Redefluss des jungen Mannes, indem er ihm eine Hand auf den Arm legte. „Ich weiß, was du mir damit sagen willst und bin dir dankbar dafür. Doch meine Zeit bei euch endet an diesem Morgen. Nun, da ich dich am Leben und von einer Familie geliebt weiß, kann ich meinen Weg beruhigten Herzens fortsetzen. Etwas bleibt mir noch zu tun, bevor meine Lebenszeit endet. Ich kann es deutlich spüren. Lass mich ziehen, ich bitte dich."
Aragorn spürte, dass er den Abschied von dem alten Mann, den er innerhalb kürzester Zeit liebgewonnen hatte, durch nichts mehr hinauszögern konnte. „Dann kann ich dich wirklich nicht halten?"
Rivar schüttelte den Kopf und lächelte. „Nein, ich denke nicht."
„Dann..." Aragorn schluckte mühsam gegen den Knoten an, der seine Kehle plötzlich zuzuschnüren schien. „Dann ist das also der Abschied." Jetzt nur keine Schwäche zeigen. Nicht vor Vater und den Zwillingen... Aragorn umarmte den alten Mann, dann rang er sich mit aller Willensstärke ein Lächeln ab. „Mögen die Sterne stets deinen Weg beleuchten, auf das er dich eines Tages zu uns zurückführe."
Er trat zurück.
Rivar betrachtete Arathorns Sohn ein letztes Mal. Sein Denken ist ebenso elbisch wie das seines Vaters. Wenn er auch dessen Unbeugsamkeit besitzt, kann er Großes erreichen. Ich muss mir keine Sorgen um ihn machen.
Fast gewaltsam riss er sich von Aragorns Anblick los und trat zu Elrond hinüber, der zusammen mit seinen Söhnen einige Schritte hinter Aragorn stand und die Szene stumm verfolgt hatte.
„Habt Dank für Eure Gastfreundschaft und Großzügigkeit." Er verneigte sich kurz vor dem Elben, der die Geste ernst erwiderte. „Es macht mir meinen Weg leicht, Aragorn in Eurem Schutz zu wissen."
Rivar stand inzwischen dicht genug vor Elrond, um den unterdrückten Schmerz in dessen Augen zu entdecken. Unwillkürlich runzelte er die Stirn. Die Sorgen, die den Herrn von Bruchtal schon am zurückliegenden Abend so schweigsam gemacht hatten, schienen sich über Nacht noch verstärkt zu haben. Man musste nicht einmal mit der Gabe der Voraussicht ausgestattet sein, um das zu erkennen.
Plötzlich tat dem alten Mann der Elbe leid. Gern hätte er etwas Tröstendes zu ihm gesagt, doch die rechten Worte wollten sich nicht finden lassen. So sagte er nach kurzem Zögern: „Ich weiß nicht, was Euch Kummer bereitet, Lord Elrond, doch ich bitte Euch, lasst Euch nicht von der Verzweiflung überwältigen. 20 Jahre lang schien sie das Einzige zu sein, das mir geblieben war, doch als ich es am wenigsten erwartete, veränderte sich für mich all das, was ich für immer festgeschrieben meinte. Vertraut auf die Worte eines alten Mannes: nicht immer sind die Dinge so, wie sie zunächst scheinen."
Elrond starrte den Menschen überrascht an. Es schien fast, als wüsste er von den düsteren Inhalten seiner Vision.
Rivar trat indes noch ein Stück dichter an Elrond heran. „Und wenn die Zweifel zu stark werden, dann erinnert Euch an mich. So lange hielt ich Aragorn für tot, nur um nach all der Zeit erkennen zu müssen, dass doch noch nicht alles verloren war. Es ist niemals alles verloren, solange man die Hoffnung in seinem Herzen behält."
Elrond lächelte kurz. „Ich danke Euch, Rivar'Odan. Ihr seid sehr weise."
Rivar erwiderte das Lächeln. „Ich wünschte, ich könnte das auch so sehen, doch Ihr sprecht mit einem alten Narren, glaubt mir!"
Es gab nichts mehr, was gesagt werden konnte, und jeder der Anwesenden spürte das.
Mit einer letzten, respektvollen Verneigung vor den drei schweigenden Elben stieg Rivar schließlich aufs Pferd, dann sah er sich ein letztes Mal um. Weder das Grau des kühlen Morgens noch der heftiger werdende Regen konnten etwas daran ändern, dass er Bruchtal für den Rest seines Lebens als den schönsten aller Orte in Erinnerung behalten würde. Sein Blick streifte Aragorn, der gerade an die Seite seiner Brüder trat, dann führte Rivar seine rechte Hand zu Mund und Stirn, verbeugte sich leicht und winkte allen ein letztes Mal zu.
„Lebt wohl!" Nach unmerklichem Zögern gab er seinem Pferd die Sporen und ritt durch das steinerne Tor davon.
Das Hufgetrappel wurde schnell leiser, bis schließlich auch die scharfen Ohren der Elben nichts mehr vernehmen konnten.
„Glaubst du, wir werden ihn irgendwann noch einmal wiedersehen?" Aragorn sah nachdenklich zu seinem Ziehvater, der seinen Blick jedoch nicht erwiderte, sondern noch immer in die Richtung starrte, in die Rivar verschwunden war.
Mit ungebrochener Deutlichkeit erinnerte Elrond sich an das Bild des schwerverletzten und blutenden Rivars in seiner Vision und daran, dass der alte Mann ihm irgendetwas hatte sagen wollen. In der Vision hatte Rivar sein jetziges Alter erreicht. Es war also kein Bild aus dessen Vergangenheit gewesen, sondern wahrscheinlich ein Blick in die Gegenwart. Ob in die Rivars oder in ihre gemeinsame vermochte der Elbenfürst jedoch nicht zu sagen.
„Alles ist möglich, mein Sohn," antwortete Elrond knapp, als er spürte, wie die Bilder seiner Vision sich erneut in den Vordergrund zu drängen versuchten.
Die kurzangebundene Antwort irritierte Aragorn. Beunruhigt studierte er die Züge seines Adoptivvaters, der sich des forschenden Blickes nicht einmal bewußt zu werden schien, denn seine Augen waren nach wie vor an ihm vorbei in die Ferne gerichtet.
„Ist mit dir alles in Ordnung, Vater?"
„Ja, natürlich!" Elrond zwang ein beruhigendes Lächeln auf sein Antlitz. „Das sagte ich gestern abend bereits deinem Bruder, und meine Antwort hat sich über Nacht nicht geändert. Am besten gehst du ins Schloss zurück, ehe der Regen dich völlig durchnässt."
Er gab Aragorn einen sanften Schubs, der sich nach kurzem Zögern schließlich widerwillig in Bewegung setzte. Die Nachdenklichkeit, die Rivars Abschiedsworte in ihm geweckt hatten, blieb jedoch. Was auch immer Elrond beschäftigte – Rivar hatte es gesehen und auf seine Art zu helfen versucht. Einmal mehr bedauerte er, dass sich der alte Mann nicht hatte aufhalten lassen.
Während Aragorn ins Schloß zurückging, sah der Elbe noch einmal in die Richtung, in der Rivar verschwunden war.
„Ich habe Euch zwar mein Leben zu verdanken, doch ich hoffe, dass ich Euch nie wiedersehen muß," flüsterte er tonlos, während die Regentropfen an seinem Gesicht hinabliefen.
***
Der Schneefall begann zur dunkelsten Nachtstunde. Dicke Flocken legten sich über die dünnen Eisschichten auf dem Fels und machten den Pfad, der vom Rastplatz der drei Reisenden wegführte, innerhalb einer Stunde zu einer gefährlichen Reiseweg.
Legolas hatte alle Möglichkeiten gegeneinander abgewogen, ehe er Assat und Miro im allerersten Dämmerlicht weckte, doch seine elbischen, den menschlichen weit überlegenen, Instinkte hatten ihm verraten, dass es so schnell keine Wetterbesserung mehr geben würde. In den Nebelbergen hatte in dieser Nacht endgültig der Winter Einzug gehalten, und nach allem, was die Zeichen der Natur erkennen ließen, würde er lang und vor allem hart werden.
Für Legolas wäre der Weg durch die Nebelberge kein Problem gewesen, konnte er mit seinem leichten Elbenschritt doch mühelos auf der obersten Schneeschicht laufen. Den Menschen fehlte jedoch die Körperbeherrschung der Elben. Ihre Fußsohlen sanken bis auf die Eisschicht und dort Halt zu finden, war fast unmöglich.
Der Abstieg aus den gebirgigen Höhen gestaltete sich noch viel schwieriger als vom Elben vorhergesagt, denn zusammen mit dem Schneefall hatte ein bitterkalter Wind eingesetzt. Gnadenlose Böen peitschten um die drei Gestalten und der Frost biss schneidend in Hände, Füße und Gesichter. Besonders die beiden verletzten Männer litten darunter, denn innerhalb von Minuten hatten beide so gut wie kein Gefühl mehr in den Gliedmaßen. So konnten die beiden Pferde auch nur zögernd den eisglatten Pfad entlanggeführt werden, denn trotz des Vertrauens, das die auf Elbenart ausgebildeten Tiere in ihre Herren hatten, scheuten sie immer wieder vor besonders abschüssigen Stellen zurück.
Auf diese Art kamen die Reisenden nur sehr langsam voran.
Ohne, dass darüber noch extra gesprochen werden musste, unterbrachen sie ihren Abstieg nur noch sehr selten. Meist waren es windgeschützte Nischen im Fels, in die sie sich zusammen mit den Tieren drängten, um für ein paar Augenblicke die vor Erschöpfung und Kälte brennenden Augen zu schließen, ein paar Bissen Proviant zu sich zu nehmen oder einfach nur für einige wenige Momente die vom ununterbrochenen Laufen schmerzenden Füße auszuruhen. Lager, die diese Bezeichnung verdienten, schlugen sie überhaupt nicht mehr auf. Die drei tasteten sich über Eis, Schnee und Felspfade, bis die Dunkelheit ihnen vollends die Sicht nahm. Dann kauerten sie sich an Ort und Stelle eng zusammen, schlangen Decken und Umhänge umeinander und harrten aus, bis das altererste schwache Dämmern sie erneut aufbrechen ließ.
War an jenem Abend in der Höhle der mangelnde Proviant noch Legolas' größte Sorge gewesen, so richtete sich die Sorge des Elben schon gegen Ende des ersten Tages auf ihre Wasservorräte. Durch die sehr niedrigen Temperaturen gefror das Wasser in den Schläuchen langsam, aber stetig, zu Eis, und als das Licht am zweiten Morgen des Abstiegs erneut aufdämmerte, musste Legolas feststellen, dass seine schlimmste Befürchtung eingetroffen war. In all ihrem Gepäck gab es nicht einen Tropfen flüssigen Wassers mehr. Mühsam sammelten sie Schnee vom Rand des Pfades in einer kleinen metallenen Schale und tauten ihn allein durch die – für die Menschen schon gar nicht mehr spürbare – Wärme ihrer Hände auf, damit wenigstens die beiden Tiere noch ein wenig trinken konnten. Dann zogen sie weiter.
Mit wachsender Unruhe behielt Legolas die beiden Menschen im Auge. Mirodas und Assat kämpften sich zwar verbissen voran, doch die Strapazen des Weges, die grimmige Kälte und die Verletzungen, die bei diesen Temperaturen nicht verheilten, sondern sich schleichend ins Schwärzliche zu verfärben begannen, kosteten die beiden Männer auch die allerletzten Kraftreserven. Apathisch und ohne aufzusehen setzten sie einen Fuß vor den anderen und reagierten erst, wenn Legolas' Stimme sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit riss.
Der Elbe wusste, dass es die gefährlichste aller Kombinationen war, wenn sich erschöpfte Reisende auf unsicheren Pfaden voranbewegten, doch er hatte die den Menschen eigene Spontaneität unterschätzt. Genau sie war es nämlich, die – angestachelt durch das Fieber einer schweren Erkältung – zu Beginn des dritten Abstiegstages beinahe zu einer Katastrophe führen sollte...
***
Durst... Ich habe Durst...
Wie lange er schon unterwegs war, wußte Miro nicht mehr, doch gemessen an der Zeit, die er nun schon gegen den immer übermächtiger werdenden Drang, sich einfach fallen zu lassen und liegen zu bleiben, ankämpfte, waren es Wochen. Oder Zeitalter. Auf jeden Fall zu lange.
Weiter kann ich nicht mehr... Mir ist so heiß ... nein, mir ist kalt ... kalt ... ich spüre meine Füße schon gar nicht mehr... ich setze mich einfach an den Rand und bleibe sitzen...
Vielleicht noch ein Schritt. Und noch einer. Das leise Geräusch der Pferdehufe in seinem Rücken. Das warme Schnauben der Fuchsstute in seinem Nacken, die auf ihre Art zu versuchen schien, ihrem Reiter zu helfen, indem sie ihm unablässig warme Atemluft in den Nacken blies.
Drei Tage, hat er gesagt... ist es wirklich erst drei Tage her, dass wir mit diesem Wahnsinn anfingen ... wenn ich doch nur ausruhen könnte ... und etwas essen ... ich kann mich nicht daran erinnern, schon einmal solchen Hunger gehabt zu haben ... nicht einmal in Ardaneh ....
Seine Gedanken glitten automatisch in jene Stadt zurück, in der er den größten Teil seiner Jugend als Gelegenheits- und Taschendieb verbracht hatte. Mirodas hatte den Schmutz und den Gestank der verkommenen Stadt gehasst, doch nun – umgeben von schier endlosen lebensfeindlichen Weiten, geplagt von Hunger, Durst, Kälte und Müdigkeit – war ihm, als hätte er die sicherste aller Zufluchten zurückgelassen.
Ardaneh... Es war nie kalt in Ardaneh...
Vergessen waren all die Nächte, in denen er zitternd in irgendeinem Torweg gelegen und auf das Morgendämmern gewartet hatte.
...ich hatte nie richtigen Hunger...
Aus den Tagen, in denen nicht einmal Diebstahl ihm zumindest eine karge Mahlzeit eingebracht hatten, wurde in Miros Phantasie eine endlose Zeit üppiger Schwelgereien.
...immer war Wasser zum Trinken da...
Die stinkenden, von Unrat angefüllten Löcher, aus denen er getrunken hatte, weil man ihn stets von den Brunnen verjagte, waren nun klare Wasserläufe. Wenn er sich anstrengte, konnte er sogar ihr sanftes Murmeln in der Ferne hören.
...genauso hat es geklungen... im Wald ... das Plätschern des Baches, wenn er über die Kieselsteine floss...
Miro begann gedankenverloren zu lächeln. Seine rechte Hand, den Zügel des Pferdes haltend und über den Kopf erhoben, sank langsam nach unten.
... dieser Felsblock, auf dem ich immer gesessen habe... meine Füße hingen ins Wasser, wenn ich nach vorn an den Rand rutschte...
Der Zug des um die Hand geschlungenen Zügels wollte den Arm des jungen Mannes in der Höhe halten, doch ohne bewusstes Zutun öffnete sich die Faust. Der lederne Zügel entglitt dem kraftlosen Griff der eisigen Hand.
...ich konnte trinken...
Miro sah in die Ferne, jedoch nicht auf die nicht enden wollenden Berge, sondern auf einen Wald, in dessen schattigen Grün irgendwo ein Bach fließen musste. Er konnte ihn hören – irgendwo in der Nähe...
...es ist nur ein Abstecher... nur ein Schluck aus dem Fluss...
Miro blieb stehen. Lauschte angestrengt.
...irgendwo links von mir muss er sein, hinter den Bäumen...
...wo die Felsblöcke waren, neben denen es in steilem Winkel abwärts ging...
...nur zwei, drei Schritte, dann kann ich ihn bestimmt zwischen den Stämmen sehen...
Ein spähender Blick des Jungen ging nach links, doch die braunen, vor Fieber glänzenden Augen sahen nicht die Felshänge, die in die Tiefe führten, sondern einen von Zwielicht erfüllten Wald. In ihm musste das Wasser sein, das seinen Durst stillen würde.
Der Junge machte einen Schritt nach vorn – zu auf die glitzernden Wasser, die in diesem Moment in seiner Phantasie auftauchten ... und zu auf einen schräg abfallenden Hang, von dessen Rand ihn nur noch ein Schritt trennte...
...da ist er ja...
Miro konnte das Wasser schon förmlich auf der Zunge schmecken. Der Durst war nun so unerträglich, dass es ihm egal war, dass es kalt sein würde. Eiskalt. So eisig, dass schon der Gedanke daran seinen gesamten Körper heftig erzittern ließ.
...egal... nur trinken...
Das Pferd, der Weg, Hunger, Müdigkeit, Assat und sogar Legolas waren endlich im Nebel dieses einen Gedankens verschwunden.
...nur einen Schluck, dann kann ich weiter... Weiter? ...Wohin will ich überhaupt? ... egal...
Er lief los.
Zu den Bäumen. Dem Wasser.
Und fiel. Unerwartet.
Die Bäume erzitterten. Verschwanden. Im nächsten Moment sah er wieder die Felsgrate, die sich in übelkeitserregendem Tempo um ihn drehten. Weit über ihn hinauswuchsen.
Und fiel. Lautlos.
Begriff, was geschah, als der erste Aufprall kam. Ihm den Atem nahm.
Wie konnte ich die Berge vergessen...
Die Schwärze kam und verschluckte ihn, noch bevor er zum zweiten Mal auf einen Felsen aufprallte und dort reglos – zwei Schritte neben einer in die Tiefe führenden Quelle – liegen blieb.
***
wird fortgesetzt
Shelley: Gut möglich, dass wir nicht genügend Augenmerk auf die Fußverletzung unseres Lieblingsrangers gelegt haben. Diese Verletzung macht ihm aber wirklich zu schaffen, auch wenn das vielleicht nicht deutlich genug herausgekommen ist. Es ist halt sehr schwer, etwas eigentlich so Profanes wie einen aufgerissenen Fuß so lange in der Handlung zu halten, bis er zu einem wirklichen Haupthandlungspunkt wird. Ach ja, übrigens besorgte sich Aragorn nach dem Frühstück bereits das zweite, stärkere Schmerzmittel, weil das bisherige, das er sich nach der Auseinandersetzung mit Glorfindel besorgt hatte, nicht so stark wirkte, wie er sich das vorgestellt hatte. Außerdem nahm er gleich noch Kräuter mit, die sein Fieber senken sollten (was sie ja auch taten und weiterhin tun werden). Und die Sache mit den Zwillingen... Nun, lass es uns mal so ausdrücken: Warum sollen sie nicht auch ihren Teil der tragischen Entwicklungen abbekommen?
Isadora: Na, wie wirkt der Rausch des ME-(Basilikum-)Dopes? Kreativitäts- (...die Hände eines Königs...) oder eher appetitanregend (...ein leckerer Sommersalat mit Basilikum...)? *g* Vielen Dank an dieser Stelle für das Lob zum 11. Kapitel. Wir geben zu, dass es inzwischen schon ganz schön schwer ist, die Übersicht über alle eingefügten Handlungsfäden zu behalten. Gottseidank ist der Zeitpunkt nicht mehr fern, da sich alle Fäden zu einem verknüpfen. Das wird auch genau der Moment sein, in dem ihr so viel Action bekommt, dass es bestimmt fast schon wieder als zuviel anmuten wird...
Ne-chan: Naja, Gomar ist echt ein tragischer Fall – und mies, weil er es wirklich genießt, so zu sein, wie er ist. Das werden die späteren Kapitel noch besser zeigen. Elronds Vision... Der Tradition unserer zwei vorangegangenen Geschichten gemäß wollten wir auch diesmal eine einbauen, doch da jede „herkömmliche" Vision euch die Spannung auf das Kommende genommen hätte, entschieden wir uns für diese Form der wechselnden, irgendwie videoclipartigen Bilder. Damit haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: unserer Tradition entsprochen und trotzdem nichts verraten. *bg* Glorfindels geplante Aussprache mit Aragorn ist übrigens nicht vergessen. Keine Sorge.
Celebcristien Beshi: Oh, tut uns leid, dass wir mit unseren Sätzen unwissentlich an einen deiner empfindlichen Punkte gerührt haben. Um so erleichterter sind wir natürlich, dass du dennoch Gefallen an dem Kapitel gefunden hast. Stephen King gehört auch zu meinen [Salara] Lieblingsautoren.
Mystic Girl: Da wir uns bemühen, immer so dicht wie möglich an wirklichen (jedenfalls unseren eigenen) Empfindungen zu bleiben, entschlossen wir uns, Aragorn diese „Nein, das stehe ich allein durch"-Trotz-Haltung zu verpassen. Irgendwie ist sein späteres Verhalten in den Filmen doch auch so entschlossen angelegt. Und demgemäss versucht er natürlich erst mal eine Zeitlang, ob er die Sache mit dem Fuß allein in den Griff bekommt. Was nun die zukünftigen Entwicklungen angeht, so war die Vision nur ein winziger Anriss.
Luinaldawen: Natürlich lassen wir Legolas nicht im Nebelgebirge heimisch werden. Es dauert halt nur so seine Zeit, bis er – vor allem mit zwei verletzten Menschen im Schlepptau – durch die Berge durch ist. Und die Beschreibung dieser Reise ist naturgemäß nicht ganz so spannend wie die Ereignisse um Aragorn. Trotzdem hat auch er noch das eine oder andere Hindernis zu überwinden, bis er endlich in Bruchtal ankommt, womit sein Teil des Abenteuers dann beginnt. Doch noch ist es – unserer Plotplanung entsprechend – nicht soweit. Also bitte hab noch ein wenig Geduld, okay? Die Länge der Geschichte ist noch nicht ganz raus, doch es werden wohl so was um die 21, 22 Kapitel, schätzen wir.
