### Vielen lieben Dank, dass Ihr uns gezeigt habt, wie wichtig Euch unsere Geschichte noch ist und dass wir doch nicht so langweilig geschrieben haben, wie wir es zeitweise glaubten. Ihr wisst ja – wer traut sich schon wirklich was zu? Die Zweifel an sich selbst gehören wohl zum Autorengeschäft dazu...
### Seid also alle ganz lieb umarmt und bleibt uns einfach treu!
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Schuld und Sühne
von: Salara und ManuKu
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~TEIL 13~
Aragorn kehrte nach Rivars Abschied in sein Zimmer zurück und lehnte sich dort erleichtert gegen die Wand, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen wusste.
Noch vor dem Morgengrauen hatte der Schmerz in seiner Fußsohle mit der nun fast schon vertrauten Heftigkeit wieder eingesetzt, so dass erneut die Schmerzkräuter herhalten mussten, die er sich besorgt hatte. Nach einiger Zeit war die erwartete Wirkung auch eingetreten. Dennoch war es ihm schwergefallen, nicht vor den Augen Elronds und der Zwillinge zu humpeln. Seit dem Tagesmarsch mit Rivar durch Bruchtal war es, als hinge ein bleiernes Gewicht an seinem Fuß, das sich bei jedem Schritt in die Sohle bohrte.
Ich sollte endlich Vater die Verletzung zeigen. Anscheinend habe ich doch nicht die richtigen Kräuter für den Heilungsprozess ausgewählt.
Aragorn schnaufte resignierend. Er wusste, dass sein Adoptivvater nicht erfreut über das Aussehen der Wunde sein würde und fürchtete die Enttäuschung, die er dann unweigerlich hinter den Worten Elronds wahrnehmen würde. „Ich dachte, du hättest Vertrauen zu mir," würde die eigentliche Botschaft lauten; die, die sein schlechtes Gewissen mehr fürchtete als alle Vorhaltungen. Dabei ging es nicht um fehlendes oder vorhandenes Vertrauen. Es ging um die Fähigkeit, sich allein und ohne elbische Hilfe mit allem auseinandersetzen zu können. Und das konnte für ihn als Waldläufer später überlebenswichtig sein. Wenn er jetzt nicht lernte, solche harmlosen Probleme selbst zu lösen, lernte er es nie, davon war Aragorn fest überzeugt.
Vorsichtig ging er zu dem am Fenster stehenden Sessel hinüber, ließ sich hineinsinken, schloss erschöpft die Augen und wartete darauf, dass das Pulsieren in seiner Fußsohle sich endlich wieder legte.
Und plötzlich – von einem Augenblick auf den nächsten – klang der Schmerz in seinem Fuß übergangslos ab. Es geschah so rasch, als würde man eine Kerze ausblasen.
Aragorn brauchte einige Augenblicke, bis sein Verstand die Tragweite dieser neuen Empfindung in den richtigen Zusammenhang brachte.
Er stand auf, testete die neue Schmerzlosigkeit einige Male, holte sich sogar ein Glas Wasser aus der Karaffe, die auf dem Tisch neben der Tür stand. Es blieb dabei: Endlich waren die Schmerzen abgeklungen. Lediglich eine umfassende Taubheit war zu spüren, doch die störte ihn nicht.
Aragorn fühlte sich schlagartig wie befreit. Endlich lief er nicht mehr wie auf Messern.
Haben die Kräuter also doch gewirkt. Ich dachte schon, ich hätte sie zu niedrig dosiert. Manche Dinge erledigen sich eben doch von selber, dachte Aragorn zufrieden und war froh darüber, nun doch nicht die Heilkünste Elronds bemühen zu müssen. Seit dem zurückliegenden Abend hatte dieser offensichtlich schwerwiegende Sorgen, über die zu reden er sich jedoch nach wie vor hartnäckig weigerte.
Aufgeräumt schnappte er sich das Tagebuch, machte es sich damit wieder in seinem Sessel bequem und vertiefte sich erneut in die Aufzeichnungen Rivars, ohne der Fußsohle auch nur einen einzigen Blick zu gönnen. Endlich war alles wieder in Ordnung...
***
Miro war gefangen in einem Netz aus Schmerzen, die überall gleichzeitig in seinem Körper zu sein schienen und ihn mit einem Chaos aus Worten, Bildern und Gefühlen betäuben wollten.
Was ist geschehen? Wo bin ich?
Diese Fragen blieben und nach einiger Zeit ergaben sie sogar einen Sinn für Miro, einen der zu den Schmerzen zu passen schien und der ihn die Antwort fast fürchten ließ. Er vermochte sich plötzlich an Berge zu erinnern, die er tagelang durchwandert hatte, doch die Erinnerung entglitt ihm, sobald er sich näher mit ihr zu befassen versuchte. So ließ er sie los und versuchte statt dessen, sich zu bewegen.
Trotz aller Bemühungen gelang es ihm nicht und einen Moment lang war Miro versucht, aufzugeben, sich einfach treiben zu lassen. Es schien viel einfacher zu sein, als ergebnislos gegen einen unsichtbaren Widerstand anzukämpfen.
Doch etwas blieb, eine Frage, deren Gewicht immer schwerer auf ihm zu lasten schien. Wenn er zurück ins Vergessen wollte, musste er sie erst loswerden, indem er sie beantwortete.
Wo bin ich?
Unter Aufbietung allen Willens ging er gegen den Ungehorsam seines Körpers an, ließ es zu, dass sein Kampfeswille doch noch erwachte. Mit aller Macht versuchte er, wenigstens seine Augen zu öffnen. Nach endlos anmutender Zeit gelang es ihm auch. Er zwang die Lider einen kleinen Spalt weit auseinander und versuchte, seine Umgebung zu erkennen, doch das Licht, das ihn begrüßte, schmerzte in seinen Augen und entfachte ein Stechen in seiner Schläfe.
Miro blinzelte, wollte den Kopf vom Licht wegdrehen und gab den Versuch sofort auf, als etwas Neues hinzukam: das Gefühl zu schweben.
Wieso schwebe ich? Sollte ich nicht ... reiten?
Die Frage verschwand genauso schnell, wie sie entstanden war, denn diese neue Empfindung war viel zu angenehm, um sie durch mühevolle Grübeleien zu verscheuchen.
Mirodas konnte nicht wissen, dass Legolas ihn trug, weil der immer noch vereiste Pfad durch die Nebelberge gerade auf diesem nach unten führenden Teilstück besonders gefährlich war und die Pferde alle Kraft aufwenden mussten, um sich selbst sicher über diesen beschwerlichen Weg zu bringen. Für den Elben war es nicht weiter schwer, das Gewicht des Jungen über längere Zeit hinweg zu tragen, und so hatte Legolas es Assat überlassen, die beiden Tiere zu führen.
Miro indes wußte von all dem nichts. Er sah verschwommen, wie sich ihm ein dunkler Schatten näherte und meinte, gedämpft ein paar Worte zu hören.
„Halt durch, Junge. Wir haben das Nebelgebirge fast hinter uns gebracht. Nur noch ein paar Stunden, dann können wir ausruhen und..."
Miro wollte weiter zuhören, um herauszufinden, wer der sprechende Schatten war, doch der bohrende Schmerz in seinem Kopf verstärkte sich wieder und er verlor das Bewusstsein.
***
Uralte Baumriesen, die der Zeit ihre Rindenschichten entgegenstreckten, breiteten ihre Kronen wie ein Dach über den Waldboden und das inzwischen spärlich gewordene Laubwerk ihrer Zweige hielt den überwiegenden Teil des Regens ab. So ritt Rivar verhältnismäßig geschützt in den nächsten Stunden durch die einsamen Wälder, die das Tal der Elben umgaben.
Anders als auf seinem Hinweg sah er diesmal keine der Patrouillen, die das Gebiet um Bruchtal beschützten, und so vergaß er ihre Anwesenheit schnell, während er eine Richtung einschlug, die ihn in fast gerader Linie nach Norden führte. Obwohl das Nebelgebirge mindestens zwei Tagesritte entfernt war, wies das hügelige Gelände auch hier noch auf die Nähe der Berge hin.
Seine Emotionen, die er beim Abschied von Arathorns Sohn und seiner neuen Familie nur schwer hatte verbergen können, legten sich angesichts des Friedens in den Wäldern schließlich und machten der Erkenntnis Platz, dass er nun wirklich und unwiderruflich zu seiner vermutlich letzten Reise aufgebrochen war. Das erwartungsvolle Gefühl, das er schon bei seinem Abschied aus der alten Waldhütte verspürt hatte, war zurückgekehrt, allerdings viel intensiver, unbeschwerter. Der tragische Ballast vergangener Jahre war unter dem Wissen verschwunden, dass von seinem Freund Arathorn nun doch mehr geblieben war als nur die unzureichenden Worte in einem ledernen Tagebuch: sein Sohn Aragorn!
Bei Aragorn verweilten die Gedanken des alten Einsiedlers noch immer, als er kurz nach der Mittagsstunde einen etwas höher gelegenen Hügel hinaufritt, der sich in einem weiten Bogen quer durch das Gelände zog. Durch den seit dem Morgen anhaltenden Regen war der Untergrund rutschig und sein Pferd hatte Mühe, die steile Steigung zu bewältigen. Oben angelangt zügelte Rivar das Tier, denn vor ihm breitete sich eine nunmehr beinahe eben zu nennende Landschaft aus.
Aus dieser Höhe wirkte das Land ungemein friedlich. Noch immer standen die Bäume dicht an dicht, doch der Abstand zwischen ihnen wurde sichtbar größer und ließ Buschwerk und niedrigen Sträuchern mehr Raum zum Wachsen. Bei Sonnenschein mochte das Gebiet sogar freundlich wirken, doch auch das Grau des Himmels konnte ihm diesen Eindruck nur teilweise nehmen. Diese Gegend war bestens geeignet, wenn man nach einem Platz zum Leben suchte, fand der alte Mann und sah sich das vor ihm liegende Gelände genauer an.
Nach einigen Momenten entdeckte Rivar schließlich etliche schwache Rauchfahnen, die – von Wind und Regen niedergedrückt – schräg gen Himmel stiegen.
Das hieß, dass sich dort ein Dorf oder möglicherweise sogar eine Stadt befand.
Rivar wusste, dass man ihm in Bruchtal genügend Proviant für mindestens eine Woche mitgegeben hatte. Er musste also nicht schon zu diesem Zeitpunkt eine menschliche Ansiedlung aufsuchen. Etwas in ihm war spürbar erleichtert darüber, denn zwanzig in selbstgewählter Isolation verbrachte Jahre ließen sich nicht über Nacht abschütteln. So viele Menschen um sich zu wissen widerstrebte dem alten Einsiedler sehr, daher entschloss er sich, die Siedlung in weitem Bogen nordwestlich zu umreiten!
Er nickte zufrieden. Es schien, dass seine Reise endlich einen glücklichen Verlauf nehmen würde.
***
Als Miro erneut aus seiner Bewusstlosigkeit zurückfand, hatte der Schmerz in seinem Kopf sich auf ein erträgliches Maß gemildert. Wie er gleich darauf feststellte, tat es dieses Mal auch nicht mehr so weh, die Augen zu öffnen.
Was er sah, überraschte und verwirrte ihn zugleich. Anstelle der schneebedeckten Felsen, sah er nun grüne Baumkronen über sich, die sachte im Wind schwangen. Von Schnee und Eis war keine Spur mehr zu entdecken und von der Kälte, die das Fieber durch ihn hindurchgejagt hatte, war nur mehr ein leichtes Frösteln geblieben.
Haben wir es geschafft? Sind wir wirklich aus dem Nebelgebirge heraus?
Erleichterung durchflutete ihn jäh, dann drängten sich neue Fragen in sein Bewußtsein.
Wieviel Zeit ist inzwischen vergangen? Wie haben der Prinz und Assat den Weg nur geschafft? Hat unser Vorrat an Lembas-Brot gereicht? Und wo sind die beiden überhaupt?
Nun, wo der Junge endgültig wach war, schossen ihm Fragen über Fragen durch den Kopf, die nach einer Antwort verlangten. Behutsam drehte Miro den Kopf und schaute sich um, ob er Legolas oder Assat sehen konnte, doch er fand sich allein auf einer Decke im Gras wieder. Jemand hatte ihn zugedeckt, um die Kühle abzuhalten, die der Wind als Vorbote des heranziehenden Winters mit sich trug.
Gedankenverloren ruhte sein Blick in den Wipfeln der Bäume, die ihr Blätterwerk über ihm rauschend nach dem Wind drehten. Plötzlich schob sich ein Gesicht in sein Blickfeld. Blaue Augen unter einem schwarzen Haarschopf musterten ihn besorgt.
Assat? Er sieht fast so aus, als würde er sich um mich sorgen. Das kann doch gar nicht sein. Er ist ein Verbrecher, skrupellos und ohne Mitleid. Jemand wie er sorgt sich um niemanden...
„Möchtest du etwas trinken?" unterbrach Assat seine Überlegungen und hielt einen neu gefüllten Wasserschlauch in Reichweite seiner Hände. Doch als er sah, dass Miro noch nicht genug Kraft besaß, um den Schlauch eigenständig an die Lippen zu führen, half er ihm wortlos.
„Danke," murmelte Miro ein wenig widerwillig, weil er nicht wusste, was er über das freundliche Verhalten Assats denken sollte.
„Wo ist Prinz Legolas?" Miros immer noch brüchig klingende Stimme verriet, wie schwach der junge Mann sich fühlte.
„Er hat sich vor einiger Zeit seinen Bogen gegriffen und ist wortlos im Wald verschwunden. Ich glaube er wollte auf die Jagd, um etwas zu erlegen. Wir schaffen den letzten Teil des Weges bis nach Bruchtal sonst nicht. Ich will dir nichts vormachen: wir sind am Ende unserer Kräfte." Assat hatte sich inzwischen neben Miro auf den Boden gesetzt und ließ ihn nicht aus den Augen.
„Aha..." Miro sah kurz zur Seite, dann wieder zu Assat zurück. „Was ist mit mir geschehen?"
„Deine Kleidung war für das eisige Wetter in den Bergen zu dünn. Wir bemerkten nicht, dass du Fieber bekamst und zu halluzinieren anfingst. Schließlich bist du einen Abhang hinabgestürzt. Dabei hast du dir das Bein gebrochen..." Er hob kurz die Decke zur Seite und deutete auf das provisorisch geschiente Bein des Jungen. „...und den Schädel angestoßen. Legolas hat dich geborgen und deine Verletzungen versorgt. Das war vor über einem Tag. Wir haben uns ernsthafte Sorgen um dich gemacht, weil du seither nicht aufwachen wolltest."
Miro hob überrascht eine Augenbraue. „Wir?"
„Der Prinz. Und ich natürlich auch. Wir sitzen alle im selben Boot, Miro. Warum sollte ich mich ausgrenzen? Dafür habe ich auf dieser Reise zu viel verloren." Assats Stimme war leise geworden. „Viel mehr, als du dir vorstellen kannst."
Es war, als hätte er schon zu viel gesagt, zu viel von sich offenbart. Abrupt stand Assat auf, wandte sich ab und ging zu den Pferden hinüber, die sich am Gras gütlich taten. Miros Blick folgte ihm, und plötzlich sah der junge Mann etwas, das er zuvor noch nie bei Assat gesehen hatte: Empfindsamkeit, Verletzlichkeit.
Und noch etwas war da, für das Miro erst nach längerem Überlegen einen Namen fand: Menschlichkeit.
In diesem Augenblick – mitten im Bruchtaler Wald – wurde aus dem gefürchteten, gehassten Verbrecher Assat für Mirodas endlich ein Mensch.
***
Nie zuvor hatte der Wald dem Mädchen solche Angst gemacht, doch es hatte sich auch noch nie zuvor in ihm verirrt.
Der Regen hatte sie längst völlig durchnässt. Er schlängelte sich über die zu zwei Zöpfen geflochtenen dunkelbraunen Haare den Hals des Kindes hinab, tropfte aus der dünnen Kleidung und sammelte sich schließlich in den zerschlissenen Schuhen.
Nolana fror erbärmlich, doch sie war viel zu wütend, um zuzugeben, dass sie am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre.
„Nein, du wolltest dir den Weg merken, nicht ich," schnaufte sie verärgert und kletterte mühsam über einen riesigen umgefallenen Baumstamm, der ihr selbst liegend noch bis an die Hüfte reichte. Auf der anderen Seite angekommen, blickte sie einen Moment lang neben sich, als stünde dort jemand. Doch der Platz war leer. Das schien die Kleine trotzdem nicht davon abzuhalten, weitere Vorhaltungen in den Raum zu schicken.
„Du hast gesagt, du weißt, wo wir sind. Dabei weißt du es gar nicht, gib es zu!"
Sie sah sich kurz suchend um, entschied sich dann für eine Richtung, in der sie ihr Zuhause vermutete, dann ging sie weiter.
„Papa und Mama haben bestimmt schon Angst um mich." Trotzig setzte sie einen eiskalten, schmerzenden, kleinen Fuß vor den anderen. „Sie haben gesagt, ich darf nicht im Regen nach draußen gehen. Ich wollte es ja auch nicht, aber du. Es ist alles deine Schuld! Wenn wir nicht mehr nach Hause finden, rede ich nicht mehr mit dir. Nie, nie wieder!"
Zornig wischte sie mit der Hand die Regentropfen vom Gesicht, die ihr immer wieder in die Augen laufen wollten, doch ohne viel Erfolg. Der eisige Wind blies ihr ins Gesicht und trieb ihr den Regen unaufhörlich entgegen.
„Mir ist so kalt," jammerte die Kleine leise und blieb schließlich stehen. So weit sie auch lief – der Wald sah immer gleich fremd aus und zeigte ihr weder Weg noch Hütten. Irgendwann vor einiger Zeit hatte sie schließlich zu zittern begonnen. „Ich bin müde, habe Hunger und will nach Hause..."
Sie begann nun doch leise zu schniefen, und das leise Prasseln des Regens schien ihren Kummer noch zu verstärken. Plötzlich sah sie kurz zur Seite.
„Ach, lass mich in Ruhe!"
Das Kind schlug einen nur für ihre Augen sichtbaren Arm zur Seite, der sie trösten wollte. „Ich bin böse mit dir!"
Um ihre Worte zu unterstreichen – und weil ihr die Füße vom vielen Laufen und der Kälte so weh taten, dass sie keinen Schritt mehr gehen zu können meinte – ließ sie sich schließlich am bemoosten Stamm einer riesigen, alten Fichte hinabgleiten. Dort zog sie die Knie so dicht wie möglich an den Körper, schlang ihre dünnen Ärmchen darum und verbarg das Gesicht im nassen Kleid. Momente später begann sie erneut zu schluchzen. Zunächst leise, dann immer lauter und verzweifelter.
Es dauerte lange, bis ihre Tränen endlich versiegten, doch als sie es taten, sah die Kleine wieder auf. Sie warf einen furchtsamen Blick in die unfreundlichen Tiefen des sie umgebenden Waldes, dann legte sie ihren Kopf so vertrauensvoll an die Rinde des Baumes, als befände sich dort die Schulter der Mutter.
„Du gehst nicht weg, ja?" flüsterte das Kind und hielt eine Hand umklammert, die nur sie sah. „Du bist nämlich jetzt mein einziger Freund, Harweduil."
Die Wipfel der Bäume bogen sich im Wind, doch für die Augen des Mädchens war es wie das Nicken ihres unsichtbaren Begleiters.
Sie presste sich an den Baumstamm, doch in ihrer Vorstellung schmiegte sie sich an ihren Freund. Er war hier bei ihr, so wie er immer bei ihr war und es auch bleiben würde...
***
Die Geräusche in diesem Gebäude waren die, die man im Inneren eines Freudenhauses auch erwarten konnte.
Es war das beste Haus der Stadt und bot als einziges seine Dienste zu jeder Stunde an. Die Zimmer waren vergleichsweise sauber und die Mädchen durchweg jung und ansehnlich. Das wussten die dunkelgekleideten Fremden und deswegen kamen sie immer wieder hierher.
Erst war am späten Nachmittag des Vortages eine Gruppe gekommen, dann war ihr am nächsten Morgen zur Frühstücksstunde eine zweite gefolgt. Ohne viel Federlesens waren alle Männer mit den Dirnen in den Zimmern verschwunden.
Frau Helyn, die Betreiberin des Hauses, die sich von ihren Mädchen stets mit „Mutter Helyn" anreden ließ, hatte das Verhalten der Fremden zu Anfang besorgt beobachtet. Doch zu ihrer Erleichterung hatte es nur beim ersten Mal Probleme gegeben, als die Krieger der Mädchen wegen mit normalen Kunden aneinander geraten waren. Die gezückten Waffen der Fremden hatten die Diskussion mit den Städtern ebenso schnell beendet wie sie keinen Zweifel daran gelassen hatten, dass Helyn es hier mit gefährlichen Männern zu tun bekam. Seither fürchtete sie um ihr Wohl wie auch das ihrer Mädchen, wann immer diese schwarzäugigen Raubeine in ihrem Haus auftauchten.
Sie sah durch das kleine Fenster der rückwärtig gelegenen Kammer nach draußen. Das einheitliche Grau des Himmels machte es unmöglich, die genaue Tageszeit abzuschätzen, doch der Abend konnte nicht mehr allzu fern sein.
Frau Helyn seufzte laut und vernehmlich erleichtert, denn das hieß, dass die Fremden bald wieder fortreiten und Platz für die weitaus ungefährlichere Stadtkundschaft machen würden. Sie blieben nie länger als einen halben Tag.
Wenn es nur erst schon soweit wäre, dachte sie und begann ein weiteres Mal die Münzen nachzuzählen, die ihr die Krieger als Bezahlung in den Schoß geworfen hatten. Sie wusste längst, welche Summe vor ihr lag, hatte sie sie doch schon dreimal gezählt, doch es tat niemandem weh, wenn sie es noch ein viertes Mal tat. Außerdem beruhigte es und vertrieb die Wartezeit auf jenen Moment, in dem wieder Friede in ihr Haus einkehrte.
***
Morag erwachte, weil ein Arm quer über seiner Kehle lag. Die Frau, die zu diesem Arm gehörte, lag an seiner Seite und schlief friedlich. Sie ließ sich auch nicht davon stören, dass er sich aus ihrer Umarmung befreite, die Bettdecke zur Seite schob und sich dann erhob, um zu dem winzigen Fenster zu gehen. Von hier aus sah man zwar nur auf einen schäbigen Innenhof hinaus, doch wer hierher kam, tat es gewiss nicht der Aussicht aus dem Fenster wegen.
Wie lange er geschlafen hatte, wusste Morag nicht, doch seinem Gefühl nach war es inzwischen Nachmittag geworden. Er kniff gedankenvoll die Augen zusammen und schaute abermals nach draußen, doch außer einem an Unrat schnüffelnden Hund war keine lebende Seele zu sehen.
Er kam nicht umhin, die Männer langsam von den Mädchen loszueisen. Wenn sie pünktlich bis zum Einbruch der Dunkelheit im Lager zurück sein wollten, mussten sie bald aufbrechen.
„Hey, was machst du da am Fenster?" erklang die verschlafene Stimme seiner Bettgefährtin.
Morag drehte sich zu ihr um, doch sein Gesicht blieb ernst. „Es wird Zeit. Wir müssen fort."
„Schade." Die Dirne schälte sich aus dem Bett und wickelte sich in das Laken, um so ihre Nacktheit zu verhüllen. „Wann kommt ihr wieder?"
„Gar nicht." Morag war bereits dabei, sich anzukleiden. Er sah kurz hoch. „Morgen brechen wir in den Norden auf."
„Dann kommt ihr ja doch noch mal hier vorbei."
Sie warf ihm einen erfreuten Blick zu, doch das Lächeln verschwand aus ihren Zügen, als er den Kopf schüttelte.
„Nein, sicher nicht. Unser Anführer wird dann bei uns sein. Und der hat was gegen eure Städte. Er lässt uns nicht noch einmal hierher, verlass dich drauf."
„Tja, daran ist wohl nichts zu ändern." Auch das Mädchen zog sich nun an.
Fast zeitgleich waren beide damit fertig und gingen zur Tür, wo Morag die Frau – eine hübsche dralle Rothaarige, die er sich jedes Mal genommen hatte – ein letztes Mal küsste, ehe er die Tür öffnete. Er ließ sie vorgehen und beobachtete, wie sie nach einem letzten flüchtigen Blick auf ihn die Treppe zum Erdgeschoss hinabstieg, wo – wie er wusste – das Kämmerchen der Betreiberin war. Ganz bestimmt würde die sich über diese Neuigkeit freuen. Morag hatte die Furcht in ihren Augen gesehen, wann immer er mit seinen Leuten zur Tür hereingekommen war. Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. Na, und wenn schon. Das alles spielte schon morgen keine Rolle mehr.
Seine Miene war beinahe unbewegt, als er an die Nachbartür hämmerte. „Mach schon, steh auf. Wir müssen los!"
Eine halbe Stunde später waren alle versammelt. Sie schwangen sich auf ihre Pferde und verließen, lauthals Erzählungen über ihre „Heldentaten" austauschend, die Stadt in Richtung Süden. Der Wald, der sie in seinen regenfeuchten Tiefen aufnahm, enthüllte ihnen nicht, dass der aufregendste Teil des Tages noch vor ihnen lag.
***
Rivar hatte die Stadt wie geplant im Nordwesten umritten. Die Bäume, die rings um Bruchtal noch dicht beieinander gestanden hatten, lichteten sich sichtlich, nachdem er den Hügel hinter sich gelassen hatte. Der nun größer gewordene Abstand zwischen den Bäumen sorgte dafür, dass der Einsiedler bald bis auf die Haut durchnässt war. Der Umhang, den er trug, war nur ein unzureichender Schutz gegen den prasselnden Regen, der ihm in dünnen Rinnsalen auch den Rücken hinablief.
Um sich von der unangenehmen Kälte abzulenken, ließ Rivar seine Gedanken schließlich wandern. Er ließ seinem Pferd die Zügel lose und beschränkte sich darauf, hin und wieder die Richtung zu korrigieren, die es lief. Die Eintönigkeit der Wälder und die nur vom Geräusch des Regens unterbrochene Stille bewirkten schließlich, dass Erinnerungen an vergangene Zeiten in ihm emporstiegen.
Als wäre er erst vor Tagen von dort fortgegangen, erinnerte Rivar sich plötzlich wieder deutlich an jene Räume, durch die er als Sohn der Nordvolk-Sklavin Nia geschlichen war, wenn alle anderen längst in tiefen Träumen gelegen hatten. Lautlos wie ein Schatten war er von Saal zu Saal gehuscht, hatte die vielen kunstvoll verzierten Gegenstände bestaunt und mit angehaltenem Atem betastet, als wäre allein das bereits ein Verbrechen. Und das wäre es gewesen, wenn man ihn je bei einem dieser Streifzüge ertappt hätte, denn er war nur ein Sklaven-Mischlings-Kind, dem diese Säle verboten waren.
Das einzige Zimmer, in dem man ihn geduldet hatte, war das Quartier, in dem er als Kind mit seiner Mutter gelebt hatte. Spärlich eingerichtet war es, zudem klein und schmucklos – eben eine Kammer für eine der vielen Frauen, die als Gefangene in den Harem des Herrn gebracht worden waren. Wann immer es ihm möglich war, hatte er zwischen den eisernen Blumen der Fensterverzierungen hindurch nach draußen gestarrt, dorthin wo er die Freiheit sehen konnte, die man ihm verwehrte. Sie sehen und nicht erreichen zu können war wie Durst, der angesichts einer nahen und doch unerreichbaren Quelle immer größer wurde, weil man ihn nicht stillen konnte. Und das wurde schließlich auch zu Rivars Qual, so wie dieses Eingesperrtsein seine Mutter quälte.
Irgendwann ertrug ihr Herz diese Gefangenschaft nicht mehr und sie starb, ihren halbwüchsigen Sohn ohne jeden Schutz zurücklassend. Manchmal fragte sich Rivar, wie es wohl gewesen wäre, wenn sein südländischer Vater nicht so früh in einem Kampf für seinen Herrn gefallen wäre. Hätten sie vielleicht eine Familie werden können? Doch blonde Frauen besaßen einen besonderen Wert in den Südlanden und so ließ es sich sein Herr Gomar nicht nehmen, Nia in seinen eigenen Harem zu holen.
Rivar, nun 14 Jahre alt und für sein Alter hoch gewachsen, wurde in die Unterkünfte der Soldaten gebracht, wo man ihm einen Waffenrock anzog und so lange im Kampf unterwies, bis er als Wachsoldat zu gebrauchen war. Man teilte ihn den Wachen des Kerkers zu. Der Junge, der bisher geglaubt hatte, dass das heimliche nächtliche Weinen der Mutter die Grenzen des Schrecklichen markiert hätten, lernte nun, was wahrer Schrecken war.
Als er zum ersten Mal die elenden Gestalten erblickte, die an die Wände der ewig dämmerigen Kerkerzellen angeschmiedet waren und mit stumpfen, grauen Gesichtern knapp aufsahen, wenn er ihnen die tägliche Ration hineinschob, fehlten ihm die Worte.
Als er eines Tages eine der mit seiner Mutter gefangen genommenen Haremsfrauen erblickte, die an ihm vorbei in jenen Teil des Kerkers geführt wurde, aus dem nie wieder jemand lebend herauskam, liefen ihm die Tränen an den Wangen hinab, denn das geschah nur, weil sie als zu alt für den Harem befunden worden war. Er begriff, dass dieses Schicksal auch seiner Mutter gedroht hätte, wenn sie nicht vorher gestorben wäre.
Als er die qualvollen Schreie der Gefolterten hörte, presste er sich die Hände auf die Ohren, bis die Fäuste seiner „Kameraden" sie von dort wieder wegprügelten. Doch erst, als er den aufgerissenen Rücken eines solchen Gefolterten sah, begriff er endgültig, dass hier nicht nur die Gefangenen gequält wurden, sondern auch er. Tag für Tag sah er sich von nun an einem Schrecken ausgesetzt, dem er nicht mehr entfliehen konnte, denn er war überall in diesen Mauern, die ihn bis zum Ende seines Lebens ohne jede Kette festhalten würden.
Viele Jahre lang vegetierte Rivar selbst wie ein Gefangener dahin – gehasst von den Kameraden, die ihn als Bastard beschimpften, gehasst von den Eingekerkerten, die in ihm nur einen Peiniger mehr sahen und gequält von der Frage, ob das Blut seiner Mutter, dass zur Hälfte in seinen Adern floss, Schuld daran war, dass er nicht als Südländer dachte und empfand.
Bis zu jenem Tag, an dem Arathorn in die Finsternis des Verlieses geschleift wurde. In dem Moment, in dem die intelligenten grauen Augen dieses Fremden Rivar zum ersten Mal ansahen, hatte eine Veränderung eingesetzt. Die Art, in der dieser Fremde ihm begegnet war, mit ihm gesprochen hatte, war etwas völlig Neues für Rivar, der sich längst an die Ablehnung und Verachtung seiner Person gewöhnt hatte. Plötzlich nahm ihn jemand ernst, legte auf seine Meinung Wert und betrachtete ihn als gleichwertig. Dieses neue Gefühl zog Rivar schließlich in seinen Bann. Immer öfter ertappte er sich dabei, dass er lange Gespräche mit dem Fremden führte und über die Dinge nachdachte, die dieser zu ihm gesagt hatte. Als man Arathorn dann zu foltern begann, war Rivar da, um sich um ihn zu kümmern. Nächtelang saß er heimlich an dessen Seite, wusch die Wunden und pflegte ihn mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, bis eines Tages überraschend eine Erkenntnis in ihm auftauchte: Arathorns Schicksal war ihm wichtig geworden!
Es dauerte lange, bis sich das passende Wort zu diesem Gefühl gesellte.
FREUND.
Sie, die eigentlich auf verschiedenen Seiten standen und sich im Grunde doch so gleich waren, waren Freunde geworden.
Als er es Arathorn schließlich mit vor Verlegenheit hochrotem Kopf gesagt hatte, immer darauf gefasst, sofort verlacht zu werden, hatte dieser nur schwach zu ihm empor gelächelt und gesagt: „Ich dachte schon, dieses Wort existiert in der Sprache der Südländer nicht..."
Das hatte es bis dahin auch nicht. Jedenfalls nicht für Rivar. Dass Arathorn ihm die Bedeutung dieses Wortes gezeigt hatte, war das größte Geschenk, das dieser ihm machen konnte. Rivar hatte ihm das nie gesagt, doch der Anblick Aragorns, der seinem Vater nicht nur im Aussehen, sondern auch im Wesen so unglaublich ähnlich geworden war, hatte Rivar an all das wieder erinnert.
Er lächelte gedankenverloren – und registrierte erst in diesem Augenblick, dass sein Pferd die Unaufmerksamkeit des Reiters ausgenutzt und eine weit nach Westen führende Richtung eingeschlagen hatte. Die Nadelbäume, die hier statt des rings um Bruchtal wachsenden Laubwaldes wuchsen, standen auf Armesspanne voneinander entfernt und der Boden war mit Gras, Moos und einer dichten Matte alter, abgestorbener Nadeln bedeckt. Er sah aus, als hätten ihn noch nie die Hufe eines Pferdes berührt.
„Das Gelände gefällt dir wohl, mein Alter?" Gutmütig strich Rivar seinem Reittier über den Hals, während er die Gegend eher beiläufig betrachtete.
Durch die Feuchtigkeit, die längst in alles eingesickert war, wirkte alles einheitlich grau und so ungemütlich, dass Rivar unwillkürlich den gleichfalls regennassen Umhang enger um sich zog. Dabei fiel sein Blick ungewollt auf etwas, dessen Farbigkeit sich so deutlich von der Eintönigkeit des Waldes unterschied wie ein Olifant von einem Pferd.
„Was ist denn das?" murmelte er.
Er richtete sich im Sattel auf und spähte mit gerunzelter Stirn angestrengt in die Richtung, in der er einen seltsamen leuchtenden blauen Fleck ausmachen konnte. Es dauerte einige Augenblicke, bis seine Augen dem seltsam zusammenrollten Etwas den passenden Begriff zuordnen konnten.
„Das ist ein Kind," entfuhr es ihm erstaunt." Was macht ein Kind bei diesem Wetter im Wald, noch dazu um diese Zeit und so weit von der nächsten Stadt entfernt?"
Kopfschüttelnd holte Rivar tief Luft. Es gab nur eine Antwort auf seine Frage, und sie gefiel ihm nicht im mindesten. Das Kind hatte sich zweifellos verlaufen! Die Entscheidung, zu der ihn das zwang, gefiel ihm nicht im mindesten, hatte er sich doch ganz bewusst weitab jeder Siedlung halten wollen.
„Irgendwie scheine ich um diese Stadt doch nicht herumzukommen," seufzte er leise. „Aber ich kann die Kleine wohl unmöglich hier sitzen lassen. Dann lauf, mein Alter, damit wir das alles schnell hinter uns bringen..."
Als hätte das Pferd die Worte seines Reiters verstanden, setzte es sich eher widerwillig in Bewegung – auf das Kind zu, das so tief in seiner eigenen Welt versunken zu sein schien, dass es ihr Näherkommen zunächst nicht bemerkte.
***
Nolana hatte längst aufgehört, die Kälte zu spüren, die mit dem Regen unaufhaltsam in ihren Körper gesickert war. Inzwischen waren Hände und Füße beinahe taub, und es half auch nichts mehr, dass sie ihre Arme erneut um die Knie geschlungen und sich auf diese Art so eng wie möglich zusammengerollt hatte. Das Zittern, das ihren schmächtigen Leib schüttelte, hatte sich schon vor einiger Zeit ihrer Kontrolle entzogen.
Das Mädchen hatte es auch aufgegeben, darauf zu hoffen, wieder heim zu finden. Dies war nicht der Teil des Waldes, in dem sie für gewöhnlich spielte und den sie daher fast wie die Hütte der Eltern kannte. Dieser Bereich des Waldes war ihr fremd und seine uralte, regendüstere Bedrohlichkeit nahm zu, je weiter das ohnehin dürftige Tageslicht abnahm.
Selbst die Gespräche mit ihrem unsichtbaren Spielgefährten hatte Nolana vor einiger Zeit eingestellt. Was brachte es ihr schon, Rat von jemandem zu erhoffen, der ebenso ratlos wie sie selbst war? So hatte sie irgendwann den Kopf auf die Knie gelegt, die Augen geschlossen und sich darauf beschränkt, dem Geräusch des Regens zu lauschen. Die Gleichförmigkeit des leisen Tropfens hatte sie schließlich beinahe eingeschläfert, als sich plötzlich ein anderes Geräusch darunter mischte.
Im ersten Moment störte sie dieses eigentümlich unregelmäßige Klopfen noch nicht einmal, doch schnell wurde es lauter und riss sie schließlich aus der Welt des Dämmerschlafes zurück in die Realität, die sie wiederum mit Kälte und Nässe empfing.
Noch während das Kind überlegte, ob es sich die Quelle des Geräuschs vorsichtshalber doch lieber ansehen sollte, ließ eine Stimme sie zusammenfahren.
„Hast du dich verirrt, Kleines?"
Nolana hob den Kopf, öffnete die Augen – und erstarrte, als sie sich einem Unbekannten gegenübersah. Der Mann war schon alt – viel älter als ihr Vater, wie sie erstaunt feststellte –, hatte graues Haar, auffallend grüne Augen und er saß auf einem Pferd, das aus der Sicht des am Boden kauernden Mädchens geradezu riesig und vor allem furchterregend aussah.
„Hmm," nickte sie eingeschüchtert, ohne das Tier eine Sekunde aus den Augen zu lassen oder sich von der Stelle zu rühren. Noch nie hatte sie sich getraut, an ein Pferd so nahe heranzutreten.
„Du kommst aus der Stadt?" fragte der alte Mann weiter.
„Hmm." Sie nickte wieder und beäugte weiterhin das Pferd, das nun seinerseits scheele Blicke auf den winzigen vor ihm hockenden Menschen warf.
„Wie heißt du?"
Die Kleine schwieg und starrte weiterhin zu Rivar empor, als würde ihm soeben ein zweiter Kopf wachsen.
„Du kannst nicht sprechen, nehme ich an." Die Worte klangen ernst, doch in den Augen des Mannes tanzten dabei übermütige Funken, die sie verspotten wollten. Spott war nun aber etwas, das Nolana so ganz und gar nicht ausstehen konnte; noch weniger als die sabberigen Küsse, die die dicke Tante Tamra ihr jedes Mal aufdrückte, wenn sie Mama besuchte, um viele Stunden lang mit ihr zu erzählen.
„Natürlich kann ich sprechen," antwortete sie und warf ihren Kopf dabei so entrüstet hoch, dass ihre Zöpfe zur Seite flogen. „Mein Name ist Nolana, aber Harweduil kennt dich nicht. Und ich auch nicht. Und Mama hat gesagt, wir sollen nicht mit Leuten reden, die wir nicht kennen. Also rede ich nicht mit dir."
„Ah, so ist das!" Der Mann nickte, todernst, und Nolana war stolz auf sich, dass er ihre Worte wirklich ernst nahm. „Dann habe ich wohl auch recht, wenn ich denke, dass deine Mama dir verboten hat, mit Fremden mitzureiten?"
„Hmm." Nolana nickte nachdrücklich. Wenn Mama das doch nur sehen könnte. Dann würde sie endlich glauben, dass ich ihr wirklich zuhöre...
„Nun, wenn das so ist..." Der Grauhaarige hob bedauernd die Schultern. „...dann will ich ... euch ...auch nicht weiter stören. Lebt wohl!"
Er lächelte Nolana noch einmal zu und griff dann nach den Zügeln, als wolle er wirklich weiterreiten und sie hier mitten im Wald zurücklassen.
Das jedoch konnte das Mädchen nun auch wieder nicht fassen. Der Mann konnte doch nicht einfach so wegreiten und sie hier allein zurücklassen?
Mit fassungslos aufgerissenen Augen starrte das Kind den Mann an, der – scheinbar irritiert – die Zügel wieder sinken ließ und mit schräg gelegtem Kopf zu ihr hinabsah. „Wolltest du noch etwas von mir?"
„Ja... also, ich... wir... Harweduil und ich ... haben uns verirrt..." stammelte die Kleine und spürte, wie ihr die Röte der Verlegenheit durch die Wangen schoss. „Harweduil sollte sich den Weg merken, aber er hat ihn vergessen, und nun wissen wir nicht, wie wir wieder nach Hause zurückkommen sollen."
„Harweduil?" Der Fremde sah mit gerunzelter Stirn nach allen Seiten, dann kehrte sein verständnisloser Blick zu Nolana zurück. „Ich kann keinen Jungen entdecken. Wo ist dein Freund denn? Hat er sich versteckt?"
„Harweduil versteckt sich nie." Jetzt schien das Kind noch entrüsteter als zuvor zu sein. „Er ist immer bei mir."
Sie verstummte, als wäre damit bereits alles gesagt, und Rivar hatte Mühe, sich seine Verblüffung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen.
Gibt es denn auch in diesem Teil Mittelerdes unsichtbare Wesen?
Zwar hatte man ihm schon als Kind in den Südlanden Geschichten von solchen Wesen erzählt, doch immer waren es bösartige Kreaturen, die den Menschen nur Streiche spielten oder ihnen zu Diensten waren, wenn man sich Macht über sie verschaffte. Keine von ihnen war je der Freund eines Menschen gewesen.
Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um, konnte aber keines der in jenen Geschichten beschriebenen Zeichen entdecken: keinen Rauch, keinen Nebel, kein verräterisches Glühen. Oder war die Kleine so allein, dass sie sich auf diese Art einen Freund schaffen musste?
„Und wo ist er jetzt, dieser..." Er zögerte kurz. „...Harweduil?"
„Direkt neben dir!" Mit interessiertem Blick spähte die Kleine zu Rivar herauf. „Er sagt, du hast da oben auch noch Platz für uns. Stimmt das?"
„Ja-a-a..." Rivar zog das Wort in die Länge, als wüsste er nicht so recht, ob er dem Kind vertrauen sollte. „...aber ich weiß nicht so recht. Ich dachte, du... ihr hättet gesagt, ihr sollt mit keinem Fremden mitreiten."
„Das schon." Verlegen spielte das Kind an einem Zopf. „Aber wir wissen nicht mehr, wo unser Zuhause liegt. Und wenn du da oben wirklich so viel Platz hast, dann kannst du uns ja vielleicht nach Hause bringen."
Sie sah mit großen bittenden Augen zu ihm hoch. Rivar, der längst entschlossen war, das völlig durchnässte und frierende Kind nicht allein im Wald zurückzulassen, begann zu schmunzeln.
„Na gut, du hast mich überzeugt," sagte er und winkte sie zu sich. „Komm, steig auf."
Diesmal zögerte das Mädchen nicht. Sie erhob sich und kam zu Rivar, blieb aber misstrauisch stehen, als das Pferd neugierig den Kopf wandte, um sie genauer zu beäugen. „Will es mich beißen?"
„Nein, keine Sorge, es hat noch niemanden gebissen. Es ist ganz lieb und will nur sehen, wer da gleich auf seinen Rücken klettert," beruhigte Rivar sie und streckte ihr die Hand hin. „Komm, ich helfe dir hoch!"
Zaudernd ergriff Nolana Rivars schwielige Hand. Gleich darauf spürte sie, wie sie scheinbar mühelos auf den Pferderücken gezogen wurde. Ein Arm schlang sich von hinten um ihre Taille und hielt sie auf dem rutschigen Sattel fest, während von der anderen Seite ein zwar alt aussehender, aber dicker und Wärme versprechender Umhang um sie herumgezogen wurde. Es tat gut, sich in diesen Umhang zu wickeln und nicht mehr schutzlos dem Regen ausgesetzt zu sein.
Rivar spürte, dass das Kind vor Kälte zitterte. Es wurde höchste Zeit, dass die Kleine ins Trockene kam. „Bist du soweit?"
„Harweduil muss aber auch mit!" Nolana wollte die Wärme des Umhangs nicht aufgeben, doch sie wollte ihren Freund auch nicht vergessen. Sie drehte ihren Kopf so weit nach hinten, bis sie schräg zu Rivar empor sehen konnte. „Bitte, darf er?"
Rivar hatte Mühe, ein Kopfschütteln zu unterdrücken. Kinder... Ergeben nickte er. „Sicher, wenn er allein aufsteigen kann."
„Er sagt, das kann er. Er meint, alle Elben können gut mit Pferden umgehen."
Das Wort ELBEN ließ Rivar aufhorchen. „Ist dein Freund denn ein Elbe?"
„Nein." Die Kleine schüttelte kurz den Kopf, ohne zu sagen, was Harweduil in ihren Augen nun tatsächlich war. „Aber er wäre gern einer. Und ich auch."
„Du wärst... ihr wärt gern Elben?" fragte der Einsiedler verständnislos. „Warum?"
„Weil Elben schön sind, sagt Mama. Und stark. Und weil jeder sie gern hat, der sie sieht." Das schmale Kindergesicht leuchtete förmlich bei dem Gedanken an jene Wesen.
Unwillkürlich erschienen vor Rivars innerem Auge die Bilder von Elrond und seinen Söhnen. Alterslos, hätte Rivar sie auf eine entsprechende Frage hin beschrieben, wohl auch ehrfurchteinflößend, aber schön und stark trafen es zweifellos mindestens genauso. „Hast du denn schon einmal einen Elben gesehen?"
„Nein!" Deutliches Bedauern lag in der Stimme des Kindes.
„Aber ich!"
Rivar sah, wie die Kleine sich ruckartig zu ihm umwandte. Augenblicklich schienen Kälte, Angst und sogar Harweduil vergessen. „Wirklich? Du schwindelst auch nicht?"
„Wirklich," bestätigte er und sah kurz über seine Schulter. Wie erwartet sah er nichts. „Ich erzähle dir gern davon, sobald wir losgeritten sind. Ist dein Freund denn inzwischen aufgestiegen?"
„Hmm," nickte die Kleine und deutete vage nach vorn. „Er sitzt vor mir. Aber jetzt erzähl mir von den Elben."
Rivar konnte ein weiteres Schmunzeln nicht mehr unterdrücken, als er sein Pferd wieder in Bewegung setzte. Und während er im regengrauen Dämmerlicht des Nachmittags langsam nach Nordosten ritt, auf die dort liegende Stadt zu, begann er der staunenden Nolana von Bruchtal und den dort lebenden Elben zu erzählen.
***
wird fortgesetzt
Black Pearl: Hey, es war schön, wieder von dir zu lesen. Ha, endlich sehen wir, wie die ersten Storyfäden zusammenlaufen. Was für ein schöner Moment – zumindest für uns Schreiberinnen. Euch als Leser hingen dürfte ganz bestimmt langsam die (wohlbegründete) Unruhe packen. Und die Ankunft von Legolas und seinen menschlichen Reisegefährten würdest du ganz weit hinauszögern, wenn du wüsstest, was sie einläutet... *beg* Du wünschst dir einen Lichtblick? Na ja, eigentlich hält die Geschichte von nun an bis zum Ende keinen mehr bereit, doch vielleicht ist ja in diesem Kapitel wenigstens ein heiterer Moment für dich dabei gewesen?
Dragon-of-the-north: Die Bemerkung zur Langeweile in unserer Story war durchaus nicht als „fishing for compliments", sondern wirklich ernst gemeint. Irgendwie zerrt die sommerlochbedingte Flaute bei den Reaktionen doch mehr an den Nerven, als uns zunächst bewußt war. Das nächste Mal suchen wir uns den dicksten, kältesten Winter aus, wenn die Leser angesichts eines draußen heulenden Schneesturms die Nasen nicht vor die Tür zu stecken wagen und sich vor den heimelig leuchtenden PC-Monitoren versammeln, um wenigstens die winterkalten Gedanken etwas mit ihren Lieblingen aufzuwärmen... *g* Zu Gomar gäbe es soviel zu sagen, aber das meiste davon würde die Spannung nehmen. Also lassen wir es mal bei der Bemerkung, dass er nicht nur genau weiß, mit welcher Behandlung er seine Leute bei Laune hält. In ihm stecken Fähigkeiten, die einige unserer Lieblinge noch hautnah spüren „dürfen". Ja, die Sache mit den Wasserschläuchen... Wir sind mal davon ausgegangen, dass nicht nur die beiden Menschen von der sehr kräftezehrenden Reise durchs Nebelgebirge erschöpft sind, sondern auch Legolas, der ja – seit er den beiden begegnet ist – in jeder Nacht Wache hält und größtenteils auf Schlaf verzichtet. Selbst als Elbe haben seine Kräfte irgendwo ein Limit. Und wir wissen ja selbst alle: je näher man dem kommt, desto weniger sonst selbstverständliche Dinge fallen uns ein. Für dein Examen halten wir natürlich die Daumen. Und natürlich weiterhin gute Besserung!
Ne-chan: Was Miros Aufprall in der Nähe einer Quelle angeht, so standen eigentlich ganz andere Gedanken im Vordergrund, als diese Szene entstand. Wenn man so hohes Fieber hat, dass man anfängt zu halluzinieren, dann können ganz gewöhnliche Reize ungeheure Auswirkungen haben. In Miros Fall hieß das, dass sein Fieber den Durst des Jungen weckte. Dieser Durst wurde noch weiter angestachelt, als das Unterbewusstsein das Plätschern der Quelle hörte. Spätestens an diesem Punkt waren rationale Überlegungen nicht mehr möglich, und so ging der arme Miro halt dorthin, wo das Wasser war... Wie Legolas Miro bergen kann und welche Bedeutung Elronds Visionen in der Wirklichkeit haben, zeigen die nächsten Kapitel, also schnapp dir besser die nächste Cleenex-Box – die wirst du brauchen...
Mystic Girl: So richtig gute Finsterlinge sind doch das Salz in einer schmackhaften Autorensuppe. Ohne Männer wie Gomar gebe es doch keine Herausforderungen und Leidensmomente für unsere Helden. Irgendwie war er auch Inspiration für uns. Wir konnten uns immer fragen: Wenn wir an Gomars Stelle wären, was würden wir unseren Helden antun wollen? *bg* Also Herr Freud hätte sicher seine Freude an uns gehabt!
Shelley: Hey, wir wissen genau, welche Szene im „Schuh des Manitou" du meinst. Ganz ehrlich? Die geisterte so ein bisschen auch durch unsere schräge Phantasie. Nur hätte sich das mit dem „Jetzt geht jeder noch mal aufs ..." nicht so publikumswirksam gemacht – mitten im Wald. Unsere Lösung hatte aber fast denselben Effekt auf die Männer *Autorinnen grinsen und werden nun so gar nicht rot*. Bis Elrond (und damit auch der Leser) begreift, was mit Elrohir geschehen wird, dauert es noch ein bisschen. Wir zwei werden diese Zeit jedoch tunlichst nutzen, um die Spannung weiter anzuheizen. Von jetzt an geht das nämlich ganz einfach! (Das Leben kann ja so schön sein... *bg*) Deine Ahnung zu Rivar ist ... hmm ... nicht schlecht. Und was das Auftauen von Eisstückchen im Mund angeht, so sind wir mal davon ausgegangen, dass diese wirklich strapaziöse Reise alle drei (auch Legolas) sowohl körperlich als auch geistig ziemlich erschöpft hat. Als mit größerer Ausdauer und Zähigkeit ausgestatteter Elbe hat Legolas nicht so ein starkes Bedürfnis nach regelmäßigem Trinken wie die beiden Menschen, die überdies noch verletzt sind. Keiner von den dreien hat an so was gedacht. Und deine Bemerkung zu den Reviews ist natürlich berechtigt. Die Saure-Gurken-Zeit ist ganz schön nervenaufreibend! Jawoll!!! *g*
Celebcristien Beshi: Schön, dass du es so positiv siehst.
Luinaldawen: Hmm... Sind Fanfics nicht eigentlich dazu gedacht, dass man seine sadistische Ader an fiktionalen Figuren auslebt? *grübel* Doch, eigentlich schon? Oder? Gegenmeinungen? *Autorinnen sehen sich um, doch im Leser-Publikum bleibt es – außer gelegentlichem Verlegensheitspfeifen – verdächtig still* Mal ganz abgesehen davon, dass wir auch in dieser Geschichte unsere inzwischen traditionelle Elrond-Vision einbauen wollten, sollte es diesmal doch eine ganz andere werden. Wann was wie eintrifft? Schön dranbleiben. Und Aragorns „kleine Rolle" hat ihren Grund. Genau wie die Sache mit dem immer wieder erwähnten und dann heruntergespielten Fuß. Aber auch dem schlägt demnächst die Stunde. Dann seid ihr als Leser die Fragen zum Sinn und Zweck der ganzen Angelegenheit und wir diesen vermaledeiten Fuß endlich los! Nein, die drei Reisenden bleiben NICHT im Nebelgebirge, auch wenn es fast so anmuten mag. Obwohl – zumindest einer von ihnen wird sich genau das bald wünschen. Tja, jede Menge Antworten, die noch mehr Fragen aufwerfen, stimmts? *g*
Elanor: Willkommen unter den Reviewern. Schön, dass dir unsere Geschichten bislang so gut gefallen haben. Wir werden uns größte Mühe geben, unseren Stil und die Qualität der Geschichte zu halten.
Amlugwen: Wenn du unseren Gomar jetzt schon nicht mehr magst, was soll dann in der Zukunft erst werden? *g* Klar war die verwirrende Art der Vision Absicht. Jede „normale", also geschildert-erzählerische Vision hätte zuviel verraten. Aber das wollten wir nicht. Also griffen wir zur Abwechslung mal auf die „Video-Clip"-Methode zurück. Die hat's gebracht, wie wir sehen: eine Vision, jede Menge Andeutungen – und noch mehr Spannung. Glorfindels Absicht, mit Aragorn zu reden, ist nicht vergessen. Nächstes Mal kommen wir auch darauf zurück. Tja, die Sache mit Miros „Flugstunde" war für ihn unerfreulich und für die Zukunft unserer Geschichte notwendig. Die drei sind dann demnächst endlich auf flachem Land, mit Bruchtal in greifbarer Nähe. Aber ob sie das dann noch so gut finden werden??? *Autorinnen grinsen wissend*
Soviel für diesmal. Wir lesen uns nächste Woche wieder! Bis dann!
