### Und wieder ein neues Kapitel für all die hungrigen Leseratten dort draußen, die nicht genug von Aragorn, Legolas und Co. bekommen können.
### Worum wird es gehen? Aragorn kommt zu Verstand, Elrond verliert seinen fast vor Sorge und die Südländer... aber genug der Vorworte. Lest selber und habt ein schönes Wochenende!
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Schuld und Sühne
von: Salara und ManuKu
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~TEIL 14~
Glorfindel stand in der hinteren Halle des Bruchtaler Schlosses und starrte zu einem der Fenster hinaus, doch der Elbe war viel zu sehr in Gedanken verloren, um wirklich etwas zu sehen. An schönen Tagen erfreute sich dort sein Herz am Anblick der funkelnden Kaskaden der Wasserfälle, die von hieraus zu sehen waren, doch heute war das der einzige Ort, an dem er seinen grübelnden Gedanken freien Lauf lassen konnte.
Seit zwei Tagen trug er schwer an der Last der so unglücklich verlaufenen Übungsstunde mit Aragorn, und mit jeder Stunde, die er das klärende Gespräch vor sich her schob, wurden es weniger Worte, die zu sagen ihm angemessen erschienen.
Noch am Abend des bewussten Vorfalls wollte er zu Aragorn gehen und mit ihm reden, hatte ihn aber weder beim Abendessen noch später in seinem Zimmer gefunden. Als er dann erfuhr, dass ein früherer Freund Arathorns überraschend aufgetaucht war, mit dem Elronds Adoptivsohn jede freie Minute verbrachte, verschob er sein Vorhaben auf den Moment, in dem er Estel allein antreffen würde.
Das war nun anderthalb Tage her.
Der Mensch, dieser Rivar, hatte Bruchtal an diesem Morgen wieder verlassen und Glorfindel hatte gesehen, wie Aragorn in seine Gemächer zurückgekehrt war. Er befand sich noch immer dort und eigentlich wäre dies der passendste Augenblick für eine Aussprache, doch etwas – ein nicht erklärbares Zögern – hielt den Elben zurück.
Und so stand er nun seit zwei Stunden an diesem Fenster, beobachtete den leichten Regen und sann darüber nach, was ihn zurückhielt.
„Es sind Tage wie diese, die uns klarmachen, dass auch an uns die Zeit nicht spurlos vorbeigeht, nicht wahr, mein Freund?"
Glorfindel war so tief in seiner Gedankenwelt versunken, dass er das Näherkommen des Herrn von Bruchtal nicht bemerkt hatte. Er fuhr unmerklich zusammen und wandte sich um. Auf Elronds Zügen lag die selbe Nachdenklichkeit, die Glorfindel in sich spürte.
„Manchmal vergeht sie so schnell, dass man sie festhalten möchte," erwiderte er schließlich und wich Elronds forschendem Blick aus, indem er erneut zum Fenster hinaussah. „Zumindest solange, bis man die Kraft gefunden hat, um zu tun, was getan werden muss."
Elrond trat neben ihn ans Fenster. „Doch nur die Valar haben die Macht, die Zeit anzuhalten. Wir müssen ihren Fluss hinnehmen, so sehr wir das auch manchmal bedauern."
Die Stimme des Elbenfürsten war so dunkel, wie Glorfindel sie nur selten zuvor gehört hatte. Er kannte Elrond nun schon lange, doch einen so tiefen Kummer wie jetzt hatte er zuvor nur ein einziges Mal in dessen Worten vernommen: kurz vor Celebrians Abreise in die unsterblichen Lande.
Beunruhigt sah er zur Seite. „Wenn Ihr mit mir reden wollt..."
„Ich weiß dein Angebot zu schätzen," unterbrach ihn Elronds sanfte Stimme. „Aber wie ich schon sagte: nichts kann den Fluss der Zeit aufhalten." Der Elbenherr schüttelte den Kopf. „Wir alle haben keine andere Wahl als uns dem, was er bringt, zu stellen. Doch ich gebe zu, dass ich mich vor diesem Moment fürchte..."
Er verstummte und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, doch Glorfindel ließ sich dadurch nicht täuschen. Er sah, dass sich Elrond mit irgendeinem Problem herumschlug, das ihm schwer auf der Seele zu liegen schien.
„Wenn es etwas gibt, das ich für Euch tun kann, mein Fürst, dann zögert bitte nicht, es zu sagen!"
„Ja, da gibt es tatsächlich etwas, um das ich dich bitten wollte." Elrond holte tief Luft. „Etwas naht, das sich nicht abwenden lässt. Etwas Schlimmes. Es wird alle betreffen, doch mich wohl am meisten..."
„Ich schwöre Euch, meine Aufmerksamkeit..." begann Glorfindel, doch der Elbenherr hob eine Hand und unterbrach ihn.
„Lass mich ausreden. Die Dinge, die ich dir jetzt sagen werde, sind nur für deine Ohren bestimmt. Zu keinem ein Wort darüber. Schon gar nicht zu meinen Söhnen. Und das ist keine Bitte."
„Ich verspreche es Euch!" erwiderte Glorfindel ernst, doch sein Herz krampfte sich in Erwartung der kommenden Worte zusammen.
„Dunkle Tage stehen Bruchtal bevor. Gewalt und Blutvergießen, das den Tod mit sich bringen wird. In einer Vision sah ich, dass es meine Hand sein soll, die..."
Er zögerte kurz, sah dann schmerzerfüllt zur Seite.
„...jemandem den Tod bringt, doch ich bin fest entschlossen, es nicht soweit kommen zu lassen. Ich hatte seit der Vision viel Zeit zum Nachdenken, und habe mich entschlossen, Bruchtal zu verlassen und meiner Gemahlin zu folgen. Vielleicht kann ich so das Schlimmste verhindern."
Glorfindel war zutiefst erschüttert. „Das..." begann er und verstummte wieder, um sich zu sammeln. „Das könnt Ihr unmöglich ernst meinen, mein Lord!!"
„Glaub mir, noch nie meinte ich etwas ernster! In ein paar Tagen werde ich alles Notwendige mit Lord Erestor besprochen haben. Dann wird es meinen Söhnen obliegen, das Tal zu führen. Sie werden Unterstützung benötigen. Auch die deine, mein Freund. Ich bitte dich, bleib an ihrer Seite, hilf ihnen, doch vor allem: beschütze sie. Mehr als alles andere liegt mir dieser Wunsch am Herzen: Beschütze meine Söhne. Wenn nötig, auch vor sich selbst. Sie werden es nicht verstehen. Vor allem Aragorn nicht. Er ist noch sehr jung und neigt manchmal zu übereilten Reaktionen, doch du weißt so gut wie ich, dass er fähig ist, in nicht mehr allzu ferner Zeit das Schicksal ganz Mittelerdes zu bestimmen."
Nach Rivars Abreise war Elrond blitzartig klargeworden, dass er nur eine Chance hatte, den in der Vision gesehenen Tod Elrohirs zu verhindern: wenn er nicht mehr in seiner Nähe war. Von dieser Erkenntnis bis zum Entschluss war es dann nur noch ein kurzer Schritt gewesen, doch erst jetzt, da er ihn vor jemandem ausgesprochen hatte, kehrte endlich Ruhe in sein Denken ein. Es war, als habe dieser Entschluss bereits darauf gewartet, gefunden und gefasst zu werden. „Versprich mir, dass du auf alle meine Kinder acht gibst!"
Glorfindel schluckte mehrmals. Tausend Worte, tausend Argumente schossen durch seinen Sinn, doch alle verschwanden angesichts der eisernen Entschlossenheit, die er in Elronds Blick wahrnehmen konnte. Nichts, was er tun oder sagen konnte, würde die Absicht des Elbenfürsten noch ändern. Elrond war entschlossen, Bruchtal zu verlassen – und er würde sich wohl nur noch durch ein Wunder aufhalten lassen. Das ließ Glorfindel nur eine Wahl.
„Ich schwöre es Euch, mein Fürst," sagte er, und seine Stimme war voll feierlichem Ernst. „Ich werde sie schützen, mit all meiner Kraft und all meinem Wissen, so lange die Valar es mir gestatten!"
Endlich – zum ersten Mal seit dem Beginn ihres Gespräches – begann Elrond zu lächeln. „Das zu hören, hatte ich gehofft. Nun kann ich leichteren Herzens daran gehen, meine Abreise vorzubereiten, denn ich weiß das Kostbarste in meinem Leben in den besten, den allerbesten Händen." Er legte einen Arm um Glorfindels Schultern und drückte sie kurz. „Ich danke dir. Für alles."
Ein letztes Mal nickte Elrond Glorfindel zu, dann wandte er sich ab und verschwand über die Treppe in das obere Stockwerk.
Glorfindel blieb allein zurück. Die Stille, die nun wieder in die Halle zurückkehrte, war plötzlich so unerträglich, wie sie zuvor tröstlich gewesen war. Die Verantwortung, die er mit seinem Versprechen übernommen hatte, wog schwer, doch sie gab ihm auch die nötige Kraft, das zu tun, was er längst hätte tun sollen: mit Aragorn zu sprechen. Wenn es überhaupt einen richtigen Zeitpunkt dafür gab, dann war es dieser!
Er setzte sich in Bewegung, erklomm gleichfalls die Treppe ins nächste Stockwerk und schlug den Weg zu Aragorns Räumen ein. Dort angekommen klopfte er kurz.
„Herein!"
Er holte tief Luft, dann öffnete er die Tür. Aragorn saß in einem Sessel am Fenster und las in einem alt aussehenden, dicken Buch. Er ließ es aber auf die Knie sinken, als er Glorfindel erblickte.
„Estel, hast du einen Moment Zeit? Ich denke, wir müssen endlich miteinander reden!"
Er sah, dass Aragorn das Buch sorgsam zuklappte und zur Seite legte, ehe er auf einen zweiten Sessel deutete und nickte. „Sicher."
Aragorn wartete, bis Glorfindel sich gesetzt hatte, dann ergriff er als erster das Wort.
„Ehe Ihr etwas sagt, Lord Glorfindel, möchte ich etwas loswerden. Ich will Euch sagen, dass mir mein Verhalten vor zwei Tagen leid tut. Ich habe impulsiv gehandelt, weil ich zornig war. Und Zorn..." Aragorn lächelte verlegen. „...verleitet mich hin und wieder zu unüberlegten Worten..." Er sah kurz auf seine Füße. „...oder Taten. Ich weiß, dass Ihr mir nur helfen wollt, doch es ist schwer für mich, immer die dafür notwendige Geduld aufzubringen."
„Ich weiß," nickte Glorfindel und dachte an Elronds Worte. ...er ist noch sehr jung und neigt manchmal zu übereilten Reaktionen... „Und auch mir tut es leid. Ich wollte das Richtige, doch mit falschen Mitteln. Dich bewusstlos zu würgen war nicht meine Absicht. Ich wollte dir nur demonstrieren, dass es viele Wege gibt, jemanden zu töten. Selbst dann, wenn dieser Jemand bis an die Zähne bewaffnet ist."
„Das habe ich inzwischen auch begriffen." Aragorn lächelte verlegen, während seine Gedanken unwillkürlich zu Rivars Aufzeichnungen zurückschweiften. Er hatte darin inzwischen schon einiges über das Leben seines Vaters gelesen und bereits die ersten Seiten zeigten, dass dieser sich selbst in der gefährlichsten Lage behauptet hatte – etwas, das Aragorn bislang noch nicht von sich sagen konnte.
Mein Vater war um so vieles anders als ich, dachte Aragorn. Er war überlegt, verlässlich und ernsthaft, während ich bisher nichts anderes im Kopf hatte, als den Zwillingen Streiche zu spielen oder mit ihnen die Umgebung unsicher zu machen! Mit einem Mal erschien ihm all das, was seine Kindheit und Jugend ausgemacht hatte, nur noch als gedankenloser Zeitvertreib. Es wurde höchste Zeit, damit aufzuhören und erwachsen zu werden, und der beste Anfang war sicher, seine Aufgaben und Pflichten ernster als bisher zu nehmen.
„Ich habe inzwischen begriffen, wie viel ich noch von Euch lernen kann. Darum sollten wir die Ausbildung fortsetzen, sobald das Wetter es gestattet," schloss Aragorn seine Gedankengänge laut ab und sah Glorfindel an, während er im Stillen bereits überlegte, auf welche Art er sein Leben zukünftig führen wollte.
„Gut, dann wäre das also besprochen." Der goldhaarige Elbe war sehr erstaunt über die plötzliche Ernsthaftigkeit Aragorns, unterdrückte aber ein Kopfschütteln. Wie ist eine solche Veränderung in nur zwei Tagen erklärbar? Ist das eine dieser spontanen Reaktionen, von denen Lord Elrond vorhin sprach, oder meint er es wirklich ernst? Die nächsten Tage würden das zeigen.
Glorfindel stand auf, denn es war alles gesagt. „Dann ist jetzt alles geklärt zwischen uns?"
„Das ist es." Aragorn nickte und stand nun gleichfalls auf. „Ich danke Euch für die offenen Worte, Lord Glorfindel."
Von denen wirst du in Zukunft noch viele von mir hören, falls dein Vater sein Vorhaben wirklich wahrmacht, Bruchtal zu verlassen, dachte Glorfindel und neigte in einer Geste des Abschieds den Kopf. „Dann sehen wir uns beim Abendessen."
„Sicher," bestätigte Aragorn und wartete, bis er wieder allein war, dann setzte er sich zurück in den Sessel. Sein Blick ging hinaus zum Fenster. Es regnete seit ein paar Stunden und die Natur veränderte sich und nahm jeden Tropfen wie ein Geschenk entgegen. Der Herbst ging unweigerlich dem Winter entgegen.
Alles ist im Wandel, dachte er. Nur Vater und die Zwillinge bleiben ewig dieselben. Vor allem die Zwillinge...
Er lächelte bei dem Gedanken an seine elbischen Brüder, sah im Geiste noch einmal ihr letztes Picknick im Wald vor sich, jenes, bei dem er in die Pfeilspitze getreten war. Und plötzlich wusste er, womit er dieses neue, ernsthafte Leben beginnen wollte. Mehr als alles andere war diese Pfeilspitze ein Symbol für jene Unachtsamkeit, die abzulegen er entschlossen war. Gab es einen passenderen Beginn für sein neues Leben, als sie zu beseitigen?
Aragorn erhob sich. Er wusste, wo er zu suchen hatte...
***
Aragorn lief den Gang bis zum Zimmer von Elrohir entlang. Er erinnerte sich daran, dass dieser am Fluss die Pfeilspitze als letztes in der Hand gehabt und dann eingesteckt hatte. Innerlich hoffte er, dass ihn sein Gedächtnis nicht trog, denn sonst würde er gezwungen sein, auch noch Elladans Zimmer zu durchsuchen. Aragorn wusste zwar, dass die Zwillinge nach dem Frühstück ausgeritten waren und sicher erst zu Mittag zurückkehren würden, doch es gab immer Überraschungen im Hause Elronds. Dass sein Glück also zwei Suchaktionen lang anhalten würde war unwahrscheinlich, und falls nicht, würden die Zwillinge sicher noch einen weiteren Gefallen von ihm verlangen.
Doch er war entschlossen, mit diesen Kindereien aufzuhören. Er hatte im Gegensatz zu den Zwillingen keine Zeit, das Kind in sich so lange zu bewahren wie sie es mit ihrer Unsterblichkeit vermochten. Seine Lebensspanne als Mensch war begrenzt und Rivars Erzählungen über seinen Vater hatten ihm gezeigt, dass er schnell erwachsen werden musste, wenn er das Schicksal der Menschen Mittelerdes auch in Arathorns Sinn wandeln wollte.
Aufmerksam lauschte er in den Gang hinein, ob vielleicht einer der Diener käme, dann huschte er beinahe lautlos in Elrohirs Zimmer und verschloss die Tür hinter sich. Falls es notwendig wurde, konnte er immer noch unerkannt über den Balkon fliehen.
Aufmerksam sah er sich im Zimmer seines elbischen Bruders um. Es war ordentlich und aufgeräumt, so wie es dem Naturell des jüngeren Zwillings entsprach.
Wo hat er die Pfeilspitze versteckt? fragte sich Aragorn. Wo würde ich dieses Beweisstück verstecken?
Aragorn überlegte und wanderte vorsichtig durch den Raum, jede Ecke und jedes Möbelstück musternd. Plötzlich fiel sein Blick auf ein Tischchen am Fenster, auf dem eine Vase mit einer burgunderfarbenen Blüte stand. Daneben erblickte er eine aufwendig geschnitzte große Holzschatulle.
Einen Versuch ist es wert, bevor ich anfange, seine Kleidung zu durchsuchen, dachte sich Aragorn und öffnete mit einem mulmigen Gefühl im Magen die Schatulle. Als er dort jedoch tatsächlich die gesuchte Pfeilspitze fand, konnte er sein Glück kaum fassen. Sein angesichts des Einbruchs schlechtes Gewissen meldete sich jedoch sofort wieder, als er neben der Pfeilspitze auch noch andere persönliche Dinge in dem Kästchen fand: eine getrocknete Blume, die zwischen zwei Blättern Pergament lag, eine Kette mit einem Ring und ein Bildnis, von dem Aragorn wusste, dass es Elladans und Elrohirs Mutter darstellte.
„Verzeih mir, Bruder!" murmelte Aragorn und schloss hastig die Schatulle. Dann verließ er das Zimmer wieder und hoffte, dass sein elbischer Bruder nie erfahren würde, was mit der Pfeilspitze geschehen war, denn er wusste nicht, ob Elrohir ihm diesen Vertrauensbruch jemals verzeihen würde.
***
Aragorn schritt durch die fragilen Gänge, die die einzelnen Gebäudeteile miteinander wie Brücken verbanden und dabei immer wieder den Blick auf die Natur frei gaben. Seit er Elrohirs Zimmer verlassen hatte überlegte er, was er nun mit der Pfeilspitze machen sollte.
Wenn er sie in seinem eigenen Zimmer versteckte, kämen die Zwillinge sicher irgendwann auf die Idee, auch dort nach dem vermissten Stück zu suchen. Doch was sollte er sonst damit anfangen? Sie wie eine Trophäe mit sich herumtragen, bis sie irgendwann zufällig aus der Tasche rutschte?
Nein, dachte sich Aragorn. Es muss etwas Endgültiges sein, so endgültig wie mein Entschluß.
Sein Blick wurde in diesem Augenblick gerade von einem der rauschenden Wasserfälle eingefangen, die von allen Seiten über die steilen Hänge ins Tal stürzten und dort durch ausgeklügelte Flussbetten sowie der Macht Vilyas in die gewünschte Bahn gelenkt wurden.
Es war kein direkter Eingriff in die Natur, das Wasser auf diese Weise in die entsprechende Richtung zu leiten. Vielmehr war es die sanfte Art der Elben, seiner Kraft einen nutzbaren Sinn zu geben. Auch aus diesem Grund war Bruchtal von so unbeschreiblicher Schönheit, angefüllt mit Pflanzen und Tieren, ein Ort des Friedens und der Zuflucht.
Aragorn blieb stehen. Für einen Augenblick war er berauscht von der Kraft des herabstürzenden Wassers, das nur wenige Meter neben der Balustrade, auf der er stand, in eines der geformten Wasserbetten stürzte. Feiner Nebel lag in der Luft – er konnte das darin mitgeführte Wasser beinahe auf seiner Zunge schmecken.
Gedankenverloren starrte er in die Tiefe und drehte die Pfeilspitze zwischen seinen Fingern. Der Gedanke, der ihm plötzlich kam, war so einfach, dass er staunte, nicht sofort darauf gekommen zu sein. Gab es einen endgültigeren Abschluß, als sie dieser Urkraft zu übergeben?
Aragorn trat dicht an das Geländer heran und warf die Pfeilspitze in hohem Bogen in die schäumende Gischt, die sich tief unter ihm bildete. Sie verschwand augenblicklich - unwiederbringlich.
„Das war es," murmelte er und schaute in die Ferne. „Das Ende meines alten Lebens."
Die Worte klangen gut und befremdlich zugleich, doch sie verloren sich nach kurzer Zeit im Rauschen des Wassers. Schließlich riss Aragorn sich von seinen Grübeleien los und ging langsam zurück in sein Zimmer. Dort wartete ein ganz bestimmtes Buch darauf, weitergelesen zu werden.
***
Die Stadttore und damit auch das Freudenhaus lagen etwas mehr als eine Stunde hinter ihnen zurück, als Morag aus den Augenwinkeln sah, dass einer der Männer unruhig in seinem Sattel umherzurutschen begann. Er sah kurz zur Seite. „Was ist?"
Der betreffende Krieger, ein vor wenigen Jahren in den Landen der Rohirrim angeworbener junger Mann, erwiderte den Blick, doch er war alles andere als verlegen. „Wir sind so schnell aufgebrochen, dass keine Zeit mehr war..."
„Zeit für was?" Morag glaubte die Antwort bereits zu kennen, doch sein Verstand weigerte sich noch, sie zur Kenntnis zu nehmen. Das konnte nicht wahr sein, das konnte einfach nicht wahr sein! Nicht nach so kurzer Zeit! Sie würden sich ohnehin beeilen müssen, wollten sie bis Sonnenuntergang wieder im Lager sein.
„Na, ich hatte keine Gelegenheit mehr, um auf den Abtritt zu gehen, alter Mann!" vollendete der Gefragte sein Geständnis und starrte den älteren Südländer herausfordernd an.
Morag erkannte diese Geste sofort und zügelte prompt sein Pferd.
Während die anderen Reiter seinem Beispiel folgten, wandte er sich dem Schuldigen zu. Seine finstere Miene ließ erkennen, dass er alles andere als begeistert von der Unterbrechung war, doch keiner seiner Gefährten konnte ahnen, dass die beleidigende Respektlosigkeit des jungen Burschen die seit langem in Morag angesammelte Wut zum Überkochen gebracht hatte. Es war längst überfällig, die Machtverhältnisse zu klären!
„Du weißt, dass Gomar jemanden auch schon für weniger getötet hat, oder?"
„Ja." Der junge Mann nickte lässig. „Aber Ihr seid nicht Gomar."
„Nein, aber in der Rangfolge komme ich gleich nach ihm. Und als solches bin ich nur ihm Rechenschaft schuldig, wenn ich mich jetzt entschließe, bei dir so zu verfahren, wie er es mit Kassam getan hat." Er musterte den jungen Krieger kalt, der sich in der letzten Zeit dadurch hervorzutun gesucht hatte, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit Morags Autorität auf geradezu unverschämte Weise vor den anderen in Frage stellte.
Der Angesprochene schwieg kurz, sich noch immer recht sicher fühlend. „Ich fürchte Euch nicht, Morag!" Häme lag auf seinen Zügen. „Ihr seid alt, Euer Stern ist im Sinken begriffen. Nicht mehr lange, dann wird Gomar mich zu seiner neuen rechten Hand machen. Ihr wisst das und ich weiß das! Und dann werde ich..."
Er kam nicht dazu, diesen Satz zu vollenden. In einer blitzschnellen, fliegenden Bewegung hatte Morag seinen Dolch gezogen, sich über sein Pferd zur Seite gebeugt und die lange, schmale Klinge in den Hals des Kriegers gestoßen, wohl darauf bedacht, nur den Kehlkopf zu verletzten. Die Worte des Mannes versanken in einem Gurgeln, während ein Schwall roten Blutes aus der Wunde spritzte und sich über Kleidung, Pferd und Sattelzeug ergoss.
Der Krieger griff sich mit beiden Händen an den Hals, um nach dem Dolch zu greifen – und zog sie mit lautlosem Schrei wieder fort, als Morag genau jenen Augenblick wählte, um seinen Dolch wieder aus dem Hals des Kriegers zu ziehen und dabei gezielt beide Handgelenke aufschlitzte.
Einen ungläubigen, ewigen Moment lang starrte der junge Mann auf seine blutigen Hände, dann auf das viele Blut, das noch immer aus seiner Halswunde auf den Sattel und seine Oberschenkel floss, um gleich danach seitlich aus dem Sattel zu rutschen, auf den Boden aufzuschlagen und zusammengekrümmt dort liegen zu bleiben.
Reglos verharrten die übrigen Männer, darunter auch ein paar der älteren Südländer, die zufrieden grinsten. Zu oft hatten auch sie sich über die jugendliche Respektlosigkeit der angeworbenen Männer geärgert. Doch Gomar duldete keine Kämpfe unter den Männern seines Lagers. Sie hatten ihre Kraft und Leidenschaft in die Suche nach Aradoran und Rivar'Odan zu stecken. Alles andere war nur Gomar vorbehalten. Und wenn es bei einem dieser Ausfälle mal wieder einen der Jungen erwischte, so wie vor kurzem Kassam, dann war es eine Genugtuung für jene, die die Südlande noch immer ihre Heimat nannten.
Die Augen aller klebten wie gebannt an dem schrecklichen Schauspiel, das sich da vor ihren Blicken entfaltete. Keiner wagte, etwas zu sagen, sich auch nur zu regen. Noch nie hatten sie Morag so zornig gesehen, doch allein dieser Anblick genügte, ihnen schlagartig klar zu machen, dass der alte Kämpe unberechenbar wurde, wenn man ihn über ein gewisses Maß hinaus reizte. Und keiner von ihnen – wirklich niemand – hatte plötzlich das Bedürfnis, das Ziel dieses Zorns zu werden.
Morag unterdessen schien die Ruhe selbst.
Er stieg von seinem Pferd, als bestünde kein Grund zur Eile, kniete sich neben den hilflos daliegenden Mann, wischte geruhsam an dessen Kleidung das Blut von der Klinge, steckte sie dann wieder fort, ehe er zu einem der anderen Reiter aufsah.
„Bring mir Verbandszeug!"
Der Angesprochene beeilte sich, abzusteigen und in seinen Satteltaschen nach dem Gesuchten zu kramen, dann rannte er hastig zu Morag und hielt ihm das Päckchen hin.
„Hier!"
Morag durchsuchte das Verbandsmaterial, nahm einen dickeren Ballen sauberen Leinenstoffs heraus, presste ihn auf die Halswunde und verband sie dann mit geübten Griffen. Er verfuhr in gleicher Weise mit den beiden Handgelenken, dann – zufrieden mit seiner Arbeit – setzte er sich auf die Fersen zurück.
Mitleidlose schwarze Augen fixierten schmerzerfüllte blaue solange, bis er sich sicher war, dass der andere ihn noch wahrnahm. Erst dann begann er zu lächeln. Es war ein hartes, noch nie bei Morag gesehenes, gnadenloses Lächeln.
„Du wirst nicht sterben, doch du wirst es dir wünschen. Ich habe endgültig genug von dir, deiner Disziplinlosigkeit und deiner Anmaßung. Du hast gedacht, du bist skrupellos?" Er schnaubte verächtlich. „Du hast keine Ahnung, was das wirklich bedeuten kann. Doch damit du eine Vorstellung von wahrer Skrupellosigkeit hast, werde ich dir verraten, was ich mit dir gemacht habe. Dein Kehlkopf ist so verletzt, dass du deine Frechheiten von nun an nur noch denken, aber nie wieder aussprechen kannst. Und ich habe dir die Sehnen an den Handgelenken durchtrennt, so dass du von nun an nicht mehr als einen Holzlöffel für den Brei halten kannst, der einzigen Nahrung, die du bis an dein Lebensende zu dir nehmen können wirst."
Er griff an den Waffengurt des jungen Kriegers, löste ihn und warf ihn samt aller daran befestigten Waffen dem dritten Krieger zu, der, noch immer mit den Resten des Verbandszeugs in den Händen, neben ihm hockte.
„Das hier," Morag deutete auf den gerade abgeschnallten Schwertgurt. „wirst du nicht mehr brauchen, darum nehmen wir ihn mit. Den hier..."
Er öffnete den Verschluss des Umhangs des jungen Mannes und zog ihn von dessen Körper fort, um ihn auf den Waffengurt zu legen. Sofort begann der nach wie vor herabströmende Regen in dessen verbliebene Kleidung zu sickern.
„...wirst du nie mehr tragen, denn du bist der Suche in Gomars Zeichen nicht länger würdig. Und dich..."
Morags Lächeln verschwand schlagartig, doch die Gnadenlosigkeit in seinen Augen blieb.
„...brauchen wir auch nicht mehr. Vielleicht können dich die Städter gebrauchen, wer weiß? Als Prügelknabe, der nie ein Wort der Klage von sich gibt vielleicht. Oder als Laufbursche für eines der Freudenhäuser, die du so liebst. Laufen kannst du ja immerhin noch. Obwohl... vielleicht sollte ich auch daran noch etwas ändern?"
Er spielte am Griff seines Dolches herum, ohne den jungen Mann aus den Augen zu lassen, von dessen vorheriger Überheblichkeit nicht mehr viel geblieben war. Entsetzen wuchs in dessem schmerzverschleierten blauen Blick empor, als der Gepeinigte schließlich begriff, das Morag ihn anscheinend zu töten beabsichtigte. Matt hoben sich die bandagierten Hände, versuchten verzweifelt, an den Griff des Dolches zu gelangen, doch Morag, der entschlossen war, ihn für all die erlittenen Demütigungen büßen zu lassen, schlug sie einfach zur Seite.
„Andererseits... Wer will schon einen Prügelknaben, der nicht um Gnade wimmern, wer einen Laufburschen, der mit seinen Händen nicht den Abtritt reinigen kann? Vielleicht erweise ich dir sogar einen Dienst, wenn ich dich töte und deine Leiche dann einfach hier irgendwo verscharre?"
Allein die Ruhe von Morags Worten trieb den restlichen Reitern Schauer über den Rücken, was sonst nur Gomar vermochte. Der Unglückliche, dem diese Ruhe galt und der insgeheim darauf hoffte, endlich das Bewusstsein zu verlieren, um so dem offenbar Unvermeidlichen zu entfliehen, ließ den Dolch keine Sekunde aus den Augen.
Morag nickte unmerklich. Gut, endlich hatte dieser Maulheld verstanden. Nun mußten noch die anderen begreifen. Er sah zu den anderen auf.
„Was nun euch und den Rest der Truppe angeht: Ich bin nicht aus den Südlanden hierher gekommen und habe mich durch Kälte, Nässe und Wildnis gequält, um die üblen Scherze verweichlichter grüner Jungen zu ertragen, die sich unbesiegbar fühlen, nur weil sie gerade ihre erste Waffe in die Hand bekommen haben. Von nun an – und merkt euch meine Worte gut, denn ich sage es nur dieses eine Mal – werdet ihr JEDE von Gomars angeordneten Strafmaßnahmen ertragen, ohne auch nur den Gedanken daran zu hegen, es an mir auslassen zu wollen. Und ihr werdet in Zukunft so viele davon bekommen, dass die vergangenen Monate wie ein Spaziergang dagegen wirken, dafür werde ich sorgen. Von heute an zollt ihr mir den Respekt, der mir gebührt, und wer daran denkt, es mit mir aufnehmen oder mein Eigentum anrühren zu wollen, wird dies auf die gleiche Art bezahlen wie euer Freund hier. Sagt es auch den anderen." Er deutete flüchtig auf den jungen Mann, der von Schmerz und Blutverlust inzwischen so geschwächt war, dass er nahe davor stand, das Bewußtsein zu verlieren.
„Ich habe mich zwar nicht darum gerissen, Gomars rechte Hand zu sein, doch ich bin es nun mal. Künftig werde ich alle Freiheiten dieser Position nutzen, und wenn ich dazu noch einen von euch töten muss, dann werde ich das tun. Habt ihr verstanden?"
Zögerndes Nicken und bestätigendes Murmeln war die Antwort, doch mehr hatte Morag auch nicht erwartet. Zum ersten Mal in seinem Leben begriff er, was es hieß, wahre Macht über andere zu haben. Dieses Gefühl, das für Gomar ganz alltäglich sein musste, war mit nichts vergleichbar. Es konnte einen süchtig machen, wenn man es erst mal gekostet hatte – und Morag hatte das gerade getan.
„Was nun dich angeht, so werde ich dich nicht töten."
Er sah die Hoffnung, die in den Augen des anderen aufglomm und lächelte spöttisch. „Das überlasse ich diesem grässlichen Land, auf dem schon so viel Blut klebt, dass deines da keinen Unterschied mehr macht."
Die Furcht im Blick des am Boden liegenden Verletzten ignorierend erhob er sich und deutete auf zwei der Reiter.
„Du und du, ihr beide helft unserem Freund hier in die Tiefen des Waldes hinein." Er ging zu seinem Pferd und löste ein Seil vom Sattel, dann wandte er sich den Wartenden zu. „Ihr anderen wartet hier, bis wir zurück sind."
Er winkte den beiden Kriegern zu, die den Unglücklichen bereits in ihre Mitte genommen hatten. „Los jetzt!"
Mit ungläubigen Blicken sahen die Männer, wie Morag und die beiden Krieger ihren Kameraden in den Wald hineinschleppten, weiter und weiter, bis die dämmerigen Tiefen sie schließlich verschluckten.
***
Etwa fünf Minuten liefen die Männer, dann hob Morag die Hand. „Halt. Ich denke, wir sind weit genug von jedem Weg entfernt, den er in nächster Zeit erreichen könnte."
Er sah sich kurz um, dann deutete er auf einen der Bäume.
„Setzt ihn dort an den Stamm."
Die beiden taten, wie ihnen geheißen. Sie wagten weder eine Frage zu stellen noch ihrem Entsetzen Ausdruck zu verleihen. Nicht mehr. Morag hatte ihnen seine Kaltblütigkeit viel zu deutlich demonstriert.
Der Verletzte war noch immer bei Bewußtsein, doch man sah seinem Mienenspiel an, dass er diesen Fakt zutiefst fürchtete. Mit weitaufgerissenen Augen verfolgte er, wie seine früheren Kameraden ihn zu dem bezeichneten Baumstamm schleiften und an der Rinde entlang zu Boden drückten, bis er endlich saß. Er wollte sich wehren, doch die zerschnittenen Handgelenke hatten nicht das kleinste Quentchen Kraft dafür übrig.
„Haltet seine Arme hoch."
Der Unglückliche spürte, wie seine Arme jäh in die Höhe gerissen wurden, doch noch bevor er sich fragen konnte, was als nächstes kommen würde, sah er Morag plötzlich auf sich zu kommen.
Mit dem Strick in der Hand.
„Ich bin kein Unmensch und habe beschlossen, dir eine letzte Chance zu geben."
Morag kniete sich neben ihn und begann das Seil um den Leib des jungen Mannes zu winden. Einmal, zweimal schlang es sich um seine Taille und presste sie fest an den rauen Stamm, dann verschnürte Morag die Enden mit einem komplizierten Knoten, der sich tief in seinen Bauch drückte.
„Ihr könnt ihn loslassen."
Er erhob sich, trat zurück und beobachtete, wie die kraftlosen Hände des Mannes vergeblich am Knoten zu zerren begannen.
„Ich gebe dir die Chance, dich zu befreien, auch wenn du das nicht verdient hast. Du musst nur den Knoten öffnen und das Seil abstreifen. Schaffst du das, kannst du gehen, wohin du willst. Wenn nicht..." Er zuckte gleichmütig mit den Schultern.
„Das ist doch eine faire Chance, oder?" Er grinste verächtlich. „Zugegeben, für jeden, der seine Hände gebrauchen kann. Aber es ist eine Chance. Also nutze sie... du..." Er starrte auf den Halsverband. „...Großmaul!"
Trotz der Schmerzen und des durch den Blutverlust ausgelösten Schocks begriff der Verletzte, welches Schicksal ihm zugedacht worden war. Weitab von jedem Weg, ohne die Möglichkeit, um Hilfe zu rufen oder die Hände zu gebrauchen, bedeutete diese Lage seinen sicheren Tod!
Gnade, dachte der einst so überhebliche Mann und starrte verzweifelt zu Morag empor, der ihn nicht aus den Augen ließ. Laß mich nicht einfach hier zurück. Töte mich...
Seine Gedanken blieben ungehört, doch neue Hoffnung keimte in ihm auf, als die Stimme eines der beiden Männer erklang, die ihn hergebracht hatten.
„Morag!"
„Was?" Der so Angesprochene fuhr herum wie von einer Schlange gebissen. „Wage es nicht, für ihn zu bitten!"
„Das wollte ich auch nicht," stammelte der Mann, doch sein Blick glitt unruhig zwischen Morag und einem hinter dem Verletzten liegenden Punkt hin und her, auf den er schließlich zeigte. „Ich wollte nur sagen, dass sich uns jemand nähert."
***
Etwas über eine Stunde war Rivar nun schon mit Nolana abseits der gängigen Wege zur Stadt unterwegs, und während der ganzen Zeit hatte er dem Kind von Bruchtal und den dort lebenden Elben erzählt. Als er geendet und gehofft hatte, die Neugier des Mädchens sei nun gestillt, sah er sich jedoch überrascht, als Nolana ihn mit weiteren Fragen zu bestürmen begann. Sie wollte jede Kleinigkeit wissen, und so kramte der Einsiedler mühevoll alles aus seinem Gedächtnis, das er von seinem zweitägigen Aufenthalt in Erinnerung behalten hatte.
Das einheitliche Grau des Regenhimmels ließ nicht erkennen, welche Tageszeit sie hatten, doch Rivar schätzte, dass es inzwischen auf den Nachmittag zu ging. So holte er aus seinen Satteltaschen etwas von dem in Bruchtal erhaltenen Proviant und gab ihn Nolana, die ihn um so ehrfürchtiger verzehrte, als sie erfuhr, dass es elbischer Proviant war.
Die so gewonnene Erzählpause tat dem alten Mann gut. Erst jetzt, in der Ruhe, spürte er, dass er einer solchen Anstrengung wie der Beschäftigung mit einem äußerst lebhaften, wissbegierigen kleinen Mädchen nicht mehr gewachsen war.
Der Wald war inzwischen wieder dichter geworden. Die Stämme waren gerade und hochgewachsen und die dicken Moospolster an den Rinden zeugten davon, dass die Bäume oft Wetterunbilden ausgesetzt waren.
„Rivar?" Das Mädchen, das inzwischen auch den Namen ihres Retters kannte, schaute zu dem alten Mann hoch, der mit einem lautlosen Seufzer zu ihr hinabsah. Und weiter geht die Fragerei...
„Ja, was willst du wissen?"
„Was sind das für Männer da vorn?"
Für einen Moment aus der Fassung gebracht, zügelte der Einsiedler sein Pferd, dann spähte er nach vorn. Tatsächlich konnte er einige Dutzend Schritte vor sich drei Männer in dunkler Kleidung erkennen, die ihn zunächst nicht bemerkten.
„Ich weiß es nicht, Kleines," sagte Rivar leise. Was auch immer sie tun – ich habe ein sehr schlechtes Gefühl dabei. Vielleicht sollte ich umkehren?
Es war zu spät für solche Überlegungen, denn in diesem Moment bemerkte ihn einer der drei, sagte etwas zu den anderen, hob dann die Hand und deutete auf Rivar. Prompt drehten sich auch die anderen beiden zu ihm um.
Sie haben mich schon gesehen. Ich werde einfach mit einem freundlichen Gruß an ihnen vorbeireiten. Immerhin habe ich ein Kind bei mir. Ein alter Mann und ein Kind sind nie eine Gefahr, versuchte sich Rivar zu beruhigen, als er sein Pferd langsam weiterlaufen ließ. Doch die kleine Stimme, die weiterhin Zweifel an seinem Vorhaben anmeldete, steigerte sich in ein hysterisches Kreischen, als Rivar nach wenigen Augenblick sah, dass die drei Fremden einen vierten an den Baumstamm gefesselt hatten. Dieser trug Verbände am Hals und an den Handgelenken.
„Verdammt!" entfuhr es ihm. Den erstaunten Seitenblick Nolanas nahm der alte Mann gar nicht wahr. Er war viel zu beschäftigt damit, nach einem Weg zu suchen, auf dem er sich und das Kind retten konnte, denn Zeugen würden die drei bei ihrer Aktivität ganz bestimmt nicht wollen.
Inzwischen trennten Rivar und Nolana nur noch wenige Pferdelängen von den Unbekannten, die ihnen einige Schritte entgegengekommen waren. Rivar spürte, dass man jede ihrer Bewegungen verfolgte; es war, als sei die Luft plötzlich sogar zum Atmen zu dick geworden. Er wollte etwas sagen, einen ungezwungen klingenden Gruß – und erstickte fast an den Worten, als er dem taxierenden Blick zweier dunkler Augen begegnete, dunkle Haut und kohlrabenschwarzes Haar sah.
Von panischem Schrecken erfüllt, hielt Rivar das Pferd zwischen zwei Bäumen an. Menschen mit diesem Aussehen, hatte er schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er hatte so gehofft, nie mehr einen von ihnen zu erblicken. Nicht nach all dem, was damals geschehen war. Nicht, nachdem er sich zwanzig Jahre lang erfolgreich vor ihnen versteckt hatte...
Das... das kann nicht sein! Nicht sie! Nicht hier!
Er tastete nach dem kleinen Dolch in seiner Satteltasche, die einzige Waffe, die er bei sich trug. Doch seine Hände zitterten plötzlich so stark, dass er sie auf die Schnelle nicht fand.
Sein Herz raste nun so wie seine Gedanken, die von Aragorn zu Arathorn und wieder zu ihm zurück taumelten. Er wollte nicht glauben, was er vor sich sah, doch auch bei einem zweiten Hinsehen änderte sich das Bild nicht. Ob es Rivar nun gefiel oder nicht: zumindest derjenige, der ihm entgegenkam, war zweifellos Südländer!
Diesem, niemand anderer als Morag, schien das anhaltende Schweigen zu lange zu dauern, denn er trat noch einen Schritt näher. „Halt! Wer seid ihr? Was macht ihr hier?"
„Wir... äh, wir sind auf dem Weg in die Stadt...wir wollen keinen Streit mit euch..." Rivars Stimme klang zwar ruhig und gelassen, doch die Furcht, die den alten Einsiedler befallen hatte, war für ein geübtes Ohr deutlich herauszuhören.
Morag hatte jedenfalls keine Schwierigkeiten, die mitschwingende Angst zu hören. Er wusste, dass der Alte den gefesselten Mann gesehen hatte und nun wahrscheinlich dachte, auf Banditen gestoßen zu sein. Morag hatte zwar nichts dagegen, dass er das weiterhin glaubte, war jedoch nicht auf das Leben eines Alten und eines Kindes – vermutlich seiner Enkelin – aus. So beschloss er den beiden gehörig Angst zu machen, damit sie über das Gesehene schwiegen, und sie dann laufen zu lassen.
„Gib gut acht auf das, was ich nun sage, alter Mann, denn dein Leben und das deiner Enkeltochter hängt davon ab, das ihr tut, was ich sage." Morag ließ seinen Worten ein bedeutungsvolles Schweigen folgen.
Für einen Moment lang dachte Rivar daran, das Missverständnis aufzuklären, zu sagen, dass Nolana nicht seine Enkelin war, doch er schob die Idee gleich darauf von sich. Wozu die Dinge noch komplizierter machen? Auch so schien die Lage schon aussichtslos genug. Zu erzählen, dass das Kind ihm eigentlich völlig fremd war, würde nur unnötige Fragen heraufbeschwören. Doch genau denen wollte Rivar aus dem Weg gehen.
Während die beiden anderen an Ort und Stelle blieben, trat Morag so dicht an Rivar heran, dass der Einsiedler jedes Detail seiner Kleidung und der Waffen erkennen konnte. Was er sah, verstärkte seine Besorgnis weiter. Der Südländer trug die für seine Heimat übliche dunkle Kleidung. Selbst auf die seinen Kopf bedeckende gewickelte, an der Seite lose herabhängende Stoffbahn, die ihn in seiner Heimat vor den erbarmungslosen Strahlen der Sonne schützte, hatte er nicht verzichtet. Hinter dem Rücken des Schwarzgekleideten sah er den Griff eines Schwertes. Rivar wusste, dass es in einer speziellen, ebenfalls ganz typischen Halterung auf dem Rücken hing, die einen schnellen Zugriff erlaubte. Auch an der Hüfte des Fremden waren Griffe von weiteren Waffen erkennen. Und in diesem Augenblick blieb sein Blick plötzlich an einem Symbol hängen, das auf der Seite des schwarzen Umhangs prangte: ein liegender Halbmond mit drei darüber angeordneten Sternen!
Nicht einmal der Anblick einer plötzlich in seinem Körper steckenden Klinge hätte Rivar so erschüttern können, wie es dieses schlichte Symbol tat.
Sie sind es wirklich! Nach all der Zeit finden sie mich schließlich doch noch...
Nolana hatte unterdessen die Vorgänge vom Pferderücken aus verfolgt und das drohende Gebaren des schwarzgekleideten Mannes hatte sie mit Panik erfüllt. Sie wollte weg, nach Hause, so wie der alte Mann es ihr versprochen hatte. Bittend sah sie zu ihm empor. „Rivar, können wir jetzt weiterreiten? Ich will heim. Bitte!"
Ihre angsterfüllte Stimme ertönte genau in jenem winzigen Augenblick, der Rivars Schocksekunde folgte. Ihre Worte riefen schlagartig eine Stille hervor, die so zerbrechlich schien, als befänden sich zwischen den Bäumen hauchdünne Spiegel, die bei der leisesten Bewegung im Millionen Splitter zerspringen würden.
Beide Männer erstarrten. Nur die Blicke, die sich ineinander brannten, kündeten davon, dass sich durchaus noch Leben in ihren Körpern befand.
Morags Verstand rotierte.
Das Mädchen hat den Alten „Rivar" genannt. Ein Zufall? Oder Fügung der Götter? Sollten sie endlich ein Einsehen mit uns kampfmüden Männern haben? Ist es wirklich wahr? Kommt unsere Suche endlich zu einem Ende?
Was er vorher nicht beachtet hatte, fiel ihm nun um so deutlicher auf: die Augen des Alten, die von einem ungewöhnlich intensiven Grün waren. Jeder der an dieser Suche Beteiligten wusste, dass die Augen des Verräters die Farbe frisch gewachsenen Grases hatten. Und das Alter, in dem er inzwischen sein musste, könnte auch stimmen. Wenn er nun auch noch an der Schulter die Narbe eines Kreuzpfeils aufwies, hatten sie ihn endlich.
Morag konnte die Tragweite der Erkenntnis kaum fassen.
Er muss es sein! Ihr Götter, das ist der Verräter, nach dem mein Herr so erbittert sucht!!
Er holte tief Luft, wollte etwas sagen, seine Männer rufen, doch die Bedeutung der Erkenntnis hatte ihm die Sprache verschlagen. Langsam, wie in Trance, hob er die Hand, um seine Männer heranzuwinken.
„Kommt..." sagte er leise, nicht begreifend, dass ihn die beiden nicht hören konnten. „Kommt her!"
Rivars Gedanken arbeiteten unterdessen nicht weniger fieberhaft.
Er weiß, wer ich bin, ich kann es ihm ansehen. Es dauert sicher nur noch Sekunden, bis alles aus ist.
Sein Blick fiel auf Nolana, die sich furchtsam unter seinem Umhang versteckte. Ihre kindlichen Augen waren weit aufgerissen und huschten in grenzenlosem Schrecken zwischen den beiden Männern hin und her. Im Bruchteil einer Sekunde begriff er die ganze Tragweite des Geschehens.
Das Kind! Ihr Götter, warum auch sie?
Nicht nur, dass die Leute seines früheren Herren ihn schließlich doch noch aufgespürt hatten – nun dachten sie auch, dass dieses Mädchen seine Enkelin war und nichts würde sie vom Gegenteil überzeugen. Sie war fast schon so tot wie er – wenn er noch länger blieb!
Ich muss hier weg! Sofort!
„Halt dich gut fest," sagte er und hoffte, dass Nolana seiner Aufforderung rechtzeitig nachkam, als er sein Pferd herumriss, die Zügel hob und sie mit einem harten Klatschen auf den Flanken des Pferdes niedersausen ließ. Das setzte sich mit einem Aufbäumen in Bewegung und raste zwischen den Bäumen hindurch auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren.
Morags momentane Überraschung wurde schnell von Wut ersetzt. Zum zweiten Mal floh der Verräter, doch diesmal würde er keinen Erfolg haben, schwor er sich, als er mit langen, raumgreifenden Schritten an seinen Leuten vorbeihastete, dorthin zurück, wo der Rest der Gruppe mit den Pferden war.
„Worauf wartet ihr? Er darf uns nicht noch einmal entkommen!"
Die beiden Krieger verstanden zwar den Grund für Morags Eile nicht, doch die Wut im Antlitz ihres Anführers ließ sie schweigen, als sie sich ihm anschlossen und zum Weg zurückrannten. Zurück blieb der an den Baumstamm gebundene Mann, dessen Wimmern niemand mehr Beachtung schenkte...
***
Rivar trieb sein Pferd erbarmungslos an. Jede Sekunde Abstand, die er zwischen sich und die Südländer legen konnte, bedeutete eine Sekunde des Lebens für ihn und das Kind.
„Rivar, was ist denn? Warum reiten wir nicht nach Hause? Ich will nach Hause. Du hast es mir versprochen," jammerte die Kleine, während sich ihre Hände fest um den Rand des Sattels krallten, von dem sie bei diesem Tempo herunterzurutschen drohte.
„Wir können nicht mehr nach Hause, Kleines," entgegnete Rivar, ohne sie anzusehen, und hieb seinem wild galoppierenden Tier erneut die Hacken in den Unterleib. „Diese Männer sind sehr böse. Sie tun uns schrecklich weh, wenn sie uns einholen."
Er hörte, dass Nolana zu weinen begann, doch darauf konnte er im Augenblick keine Rücksicht nehmen. Es war besser, sie weinte und blieb am Leben, als dass er ihr Lügen erzählte, die ihr den Tod brachten.
Während er wieder und wieder furchterfüllte Blicke über die Schulter warf, immer darauf gefasst, die Gestalten seiner Verfolger zu erblicken, hielt er unbeirrt auf Süden zu. Er nahm an, dass sein Vorsprung bestenfalls ein, zwei Minuten betrug, und auch diese Zeit würde sie nicht sehr lange vor dem Zugriff der Verfolger schützen. Rivar, der seit dem Aufbruch aus Bruchtal nur eine ganz kurze Rast eingelegt hatte, wusste, dass sein Pferd müde war. Zudem trug es ein beachtliches Gepäck, gleich zwei Reiter und musste in halsbrecherischem Tempo über den vom Regen schlüpfrig gewordenen Waldboden rasen. Bald schon würden sie hügeligeres Gelände erreichen, doch dann war das Tier schon viel zu erschöpft und musste zwangsläufig langsamer werden, um die Anhöhen zu erklimmen. Genau das aber würde der Zeitpunkt sein, in dem die Südländer zu ihnen aufschlossen, sie einholten und...
Rivar wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Nicht, solange er sich noch in Freiheit befand.
Mein verfluchter Starrsinn ist an allem Schuld! Ich wünschte, ich hätte dieses eine Mal Aragorns Wunsch nachgegeben. Dann säße ich jetzt noch in Bruchtal und das alles hier wäre nie passiert...
Es war genau diese wehmütige Überlegung, die eine Kettenreaktion von Gedanken in dem alten Einsiedler auslösten.
Aragorn! Ihn hatte ich bisher völlig außer acht gelassen. Wenn ich jetzt nach Bruchtal zurückreite, werden die Südländer mir folgen und so vielleicht erfahren, dass zumindest Arathorns Nachkomme noch lebt. Vater und Sohn sehen sich einfach viel zu ähnlich, als dass die Südländer nicht die richtigen Schlüsse zeihen würden. Das aber darf nie geschehen – ich habe es geschworen. Nein, ich kann nicht nach Bruchtal. Aber wohin soll ich mich dann wenden? Es ist der einzige sichere Platz in diesem Teil Mittelerdes...
Er spähte erneut hastig über die Schulter, doch noch konnte er keine Spur von seinen Verfolgern entdecken.
Und dann ist da noch Nolana. Das Kind hat nichts mit alledem zu tun. Wenn ich wüsste, wie ich wenigstens sie retten könnte...
Bedauernd streifte sein Blick das Mädchen, das angestrengt versuchte, während des wilden Galopps nicht vom Pferd zu fallen. Aus dem Regen war inzwischen ein Tröpfeln geworden, und die vormals nassen Haare des Kindes begannen langsam zu trocknen.
Sie hat fast die gleiche Haarfarbe wie Aragorn, dachte Rivar und lächelte trotz der aussichtslosen Situation über die Abwegigkeit seines Gedankens. In der nächsten Minute gefror das Lächeln gleichsam auf seinen Zügen. Plötzlich wurde dem Einsiedler klar, wie er die Situation zumindest für Arathorns Sohn und Nolana noch zum Besseren wenden konnte.
Er zügelte das Pferd abrupt, sah sich ein weiteres Mal um und als er noch immer nichts von den Südländern sehen konnte, kramte er in seiner Tasche, bis er den gesuchten Gegenstand fand: das Siegel, das ihn als einen von Arathorns Männern auswies.
„Nimm das hier." Rivar drückte es dem Mädchen in die Hand, dann stieg er vom Pferd. Nach kurzem Überlegen nahm seinen Umhang ab, legte ihn ihr um die Schultern und sah sie eindringlich an. „Es ist ein Siegel, also verlier es nicht, denn nicht nur dein Leben hängt davon ab. Und jetzt hör' mir genau zu. Du weißt, wie ich dir vorhin von den Elben erzählte, von denen ich gekommen bin, nicht wahr?"
Nolana nickte, betrachtete scheu das Siegel in ihrer Hand und sah dann zu Rivar zurück.
„Zu ihnen musst du jetzt reiten."
„Aber ich weiß doch gar nicht, wo sie wohnen..." wollte das Mädchen losjammern, doch Rivar unterbrach sie brüsk.
„Hör zu, habe ich gesagt. Du reitest nach Süden, immer nur nach Süden. Das liegt da." Er deutete südwärts. „Weich nicht ab, bleib in südlicher Richtung. Reite, so schnell du kannst, dann wirst du nach ein paar Stunden auf Elben treffen, die dich anhalten. Zeige ihnen das Siegel, das ich dir gab und sag ihnen, sie sollen dich schnellstens zu Lord Elrond bringen. Kannst du dir den Namen merken?"
„Lord Elrond," wiederholte das Kind. „Ist das auch ein Elbe?"
„Ja, Nolana. Wenn du vor ihm stehst, hab keine Scheu. Zu ihm – und nur zu ihm – sagst du folgende Worte..."
Rivar trat ganz dicht an Nolana heran, nahm ihre kleinen Hände in die seinen und rieb sie beruhigend. Sie waren klamm vor Kälte und fest um das Siegel geklammert.
„Sag ihm, ich schicke dich. Nenn ihm meinen Namen. Sag ihm, die Südländer – merk dir diesen Begriff gut, Nolana – die Südländer sind vor den Toren Bruchtals. Sie suchen nach mir und seinem Sohn und sie glauben, dass du meine Enkeltochter bist. Er wird verstehen, was ich ihm sagen will. Bleib bei ihm, Nolana, und tu genau, was er sagt, denn er ist der Einzige, der dich jetzt noch beschützen kann. Du bist ein mutiges Mädchen. Du schaffst das, ich weiß es. Und nun reite los."
„Aber du..."
„Ich werde mich hier verstecken und sie von dir ablenken. Keine Sorge, mir geschieht schon nichts," log er und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, das das Kind von seinen Worten überzeugen sollte. „Ich habe lange im Wald gelebt und kenne mich gut in ihm aus."
„Kommst du bald nach?" Nolanas große Augen waren voller Unsicherheit und Furcht und es zerriss dem alten Mann fast das Herz, doch er wusste, dass er keine andere Wahl hatte. Diesmal gab es keine Flucht mehr. Nicht für ihn.
„Sicher." Er streichelte ihr noch einmal übers Haar, dann wand er ihr das Siegel aus den Händen und steckte es tief in die Tasche, die auf der Vorderseite ihres Kleides aufgenäht war. Danach drückte er ihr die Zügel des Pferdes in die kleinen Fäuste. „Halt sie gut fest, Kleines. Treib das Tier damit an, wie ich es tat, verlier das Siegel nicht und vergiss nicht, was du ausrichten sollst."
Sie kam nicht mehr dazu, zu antworten, denn seine Hand hob sich und klatschte geräuschvoll auf das Hinterteil des Tieres, das erschrocken einen Satz nach vorn machte und losgaloppierte. Nun, da das Gewicht des Mannes nicht mehr auf dem Tier lastete, konnte es noch schneller sein.
Rivar blieb noch einen Augenblick lang stehen und sah zu, wie das Pferd seine kleine Reiterin rasch von ihm fort trug, bis es schließlich hinter einer Anhöhe verschwand. Mit etwas Glück würde sie Bruchtal unversehrt erreichen.
„Beeil dich, mein Kind. Jetzt hängt das Leben Aragorns von deiner Schnelligkeit ab. Meine Verschwiegenheit hat er. Bis in den Tod..." flüsterte er ihr nach, dann wandte er sich ab und lief westwärts in die Wälder hinein, ohne sich jedoch sonderlich zu beeilen. Wenn sie kamen – und daran zweifelte er keinen Augenblick lang – dann sollten sie ihn sehen, ihm folgen und so das Kind vergessen, bis sie weit genug fort war, um uneinholbar zu sein.
Jetzt, wo er allein mit seinen Gedanken war, konnte er endlich vor sich selbst zugeben, dass er Angst hatte. Fürchterliche Angst. Deutlich, als hätte er sie erst gestern gesehen, standen wieder die Bilder aus den Folterkammern seines einstigen Herrn vor seinem inneren Auge. Was er dort gesehen hatte, würde auch zu seiner Zukunft werden. Nur eine Sache stand bereits jetzt unverrückbar fest, als Rivar immer wieder über die Schulter zurücksah, bis er schließlich von fern die Silhouetten von Reitern erkennen konnte. Was immer sich die Phantasie seines einstigen Herrn auch ausdenken mochte – keine der Qualen würde ihn zum Reden bringen können. Niemand würde je von Aragorn erfahren!
Er blieb stehen und wandte sich den Näherkommenden zu.
„Es ist vorbei," sagte er und wurde plötzlich ganz ruhig. „Meine Flucht ist endlich zu Ende."
***
wird fortgesetzt
Luinaldawen: Danke für dein Lob, aber unsere Klimaanlage besteht lediglich aus einem Ventilator, der sich seinen Strom in der letzten Zeit wahrhaft sauer verdienen musste. *g* Und um auf deine anderen Fragen zu antworten: Bleibende Schäden sind für unsere Lieblinge nicht zu befürchten. Immerhin wollten wir von Anfang an einen Bogen hin zu den Büchern/Filmen schreiben. Nolanas Aufgabe ist dagegen zunächst erst mal klar: sie soll die Warnung weitergeben, wie diesmal zu lesen war. Was daraus wird? Abwarten und dranbleiben.
Black Pearl: Tja, Aragorn und sein verletzter Fuß sind auch so eine „unendliche Geschichte". Was sich genau daraus entwickeln wird, dürfte in zwei Kapiteln klar werden. Ob immer alles unglücklich sein muss? Naja, ohne Unglücke baut sich doch keine Spannung auf, und ohne Spannung verspürt man doch weniger Lust, seinen erwählten Liebling zu trösten/zu knuddeln/zu pflegen/anzubrüllen... Oder? Wir zwei jedenfalls stehen auf diese gewisse Portion „Erst leiden die Helden, dann der Leser, danach wir, weil die Leser uns dafür leiden sehen wollen..." *bg*
Dragon-of-the-north: Zunächst mal danke dafür, dass du dir die Mühe gemacht hast, deine Review zu komplettieren. Dieser blöde Mailserver bei FF.Net treibt uns und euch noch in den Wahnsinn. Nun aber zu den Punkten. Deinen Wunsch, dass der zukünftige König endlich ein bisschen Verantwortungsbewusstsein entwickelt, erfüllen wir doch gern und mit diesem Kapitel prompt. Aber ob ihm das wirklich hilft??? Ob Aragorns Fuß nun eine Spontanheilung erlebt oder das die Ruhe vor dem berühmten Sturm ist, zeigen die nächsten zwei Kapitel. (Obwohl, wer uns kennt...) Ups... Miro und die Geisterstimme. Dein Einwand war berechtigt. Das ist uns so ein bisschen beim Schreiben durch die Lappen gegangen. Es war natürlich Legolas, der mit ihm sprach, weil er Miro trug. Rivars Vorfreude auf eine ruhige Zeit war, wie das Kapitel gezeigt hat, tatsächlich sehr, sehr verfrüht. Nolanas unsichtbarer Kamerad hat zugegebenermaßen ein filmisches Vorbild (ein alter Film mit James Stewart) und sollte eine kleine Verbeugung vor einem gewissen Hasen sein. Ob und wenn ja, welche Art von Beziehung sich zwischen Miro und Assat ergeben wird, steht selbst bei uns noch so ein bisschen in den Sternen. Aber da die zwei ja doch eine ähnliche Vorgeschichte haben, denke ich, werden die zwei sich schon irgendwie zusammenraufen. Lass dir jedenfalls ganz lieb für das wirklich tolle Kompliment danken. Zwar schreiben wir aus Spaß an der Freude, aber es tut gut zu wissen, dass sich die Leser auch daran erfreuen können. Wir wünschen dir weiterhin gute Besserung für deine Hand!
Ne-chan1: Ob es noch traurig wird, willst du wissen? *Autorinnen blättern schon mal im Manuskript vor und ziehen dann die Köpfe ein* Ja, vermutlich schon! Und das gleich mehrmals. Aragorns Wunderheilung... hmm... Ob es eine ist, werden die nächsten zwei Kapitel zeigen. Nolana und ihr Harweduil werden in den nächsten Kapiteln hoffentlich noch für manchen Schmunzler sorgen. Tja, Miro und Assat beginnen sich wirklich gut zu verstehen, aber das wird nicht in Slash ausarten. Jedenfalls nicht in dieser Story! *bg*
Andrea: Vielen Dank für deine Review und deine Aufmerksamkeit. Das Gespräch zwischen Glorfindel und Aragorn hat ja inzwischen stattgefunden, doch wahrscheinlich ist es anders abgelaufen, als Glorfindel es erwartet hatte. Und was Aragorns Fuß angeht, so bleibt diese Frage noch ein, zwei Kapitel unbeantwortet. Also hab bitte noch ein wenig Geduld.
Mystic Girl1: Inzwischen gleicht es echt einem Lotteriespiel, abzuchecken, welche Reviews in welcher Form wo existieren, denn manche bekommen wir weder auf der Seite noch als E-Mail, sondern nur als inzwischen gestiegene Review-Zahl auf der Gesamtseite angezeigt. Bei deiner war es kein Problem. Was Rivar angeht, so hatte der das Gefühl, dass sein Schicksal noch was mit ihm vor hat, ja schon selbst. Nolana hat keine Angst vor Pferden. Sie fand Rivars nur unheimlich, weil aus ihrem Blickwinkel riesig. Und inzwischen hat sie sich ja an die Größe des Tieres gewöhnt. Was nun Aragorn angeht, so gibt's auf dem Fuß-Sektor erst mal nichts Neues.
Amlugwen: Wir sind bereits dabei, die ersten Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen. Rivar hat ja Elrond schon getroffen, Aragorn wiedergefunden und ist in diesem Kapitel den Südländern begegnet. Das macht drei. In den nächsten Kapiteln geht's dann weiter mit dem Verknüpfen. Wie mies Gomar wirklich ist, zeigen die nächsten Kapitel. Und der IST mies, der Junge... *Autorinnen nicken weise wissend* Nolana ist in dieser Story die einzige Möglichkeit, gelegentlich ein wenig Humor mit einfließen zu lassen, also werden wir das hin und wieder auch noch nutzen. Tja, Assat und Miro sind eine Kombination, die definitiv ausbaufähig ist. Mal sehen, was uns in der Zukunft dazu so einfällt...
