Ja, es gibt uns wirklich noch wie ihr lesen könnt!

Der Alltag und diverse andere Probleme haben nach zwei und einer halben Geschichte nun erbarmungslos zugeschlagen und uns kaum Zeit gelassen, geschweige denn, genügend Kreativität, um den wöchentlichen Update-Rhythmus beizubehalten.

Doch da unser Herzblut besonders in dieser dritten Geschichte liegt und die Story in unseren Köpfen schon fertig ist und nur noch darauf wartet ausformuliert zu werden, bekommt ihr in unregelmäßigen Abständen alle weiteren Ereignisse bis zum letzten Wort von uns geliefert. Alles andere wäre nicht fair euch gegenüber!

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Die richtigen Worte zur richtigen Zeit...
Danke Isadora!
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Schuld und Sühne

von:
Salara und ManuKu

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~TEIL 15~

Legolas streifte nun schon seit dem ersten Morgengrauen durch den Wald. Gejagt hatte er bereits vor zwei Tagen und die erlegte Beute würde als Proviant für drei Reisende bis nach Bruchtal ausreichen.

Nach dem tagelangen Marsch durchs Nebelgebirge genoss der Elbe die grüne Umgebung des Waldes, das leise Flüstern des Windes, der durch die Zweige und Blätter fuhr, und den weichen Boden unter seinen Füßen.

Als er am Waldrand ankam, blieb er ergriffen stehen. Dem Wald schloss sich an dieser Stelle eine weite offene, grasbewachsene Fläche an. Über den Wiesen lag feiner dichter Morgennebel, der wie ein über die Gräser geworfenes Tuch wirkte und sie einhüllte. Die Unendlichkeit, die in der grauen Gestaltlosigkeit lag, hatte etwas Magisches an sich, weil man nicht wusste, was der Nebel verbarg und wie es hinter ihm weiterging.

Legolas lehnte sich gegen einen Baumstamm und ließ das Bild auf sich wirken. Ohne in seiner Wachsamkeit für einen Augenblick nachzulassen, schickte er seine Gedanken in die Weite.

Der Weg bis hierher war schwer und entbehrungsreich, doch auch lehrreich für alle gewesen. Er war froh, dass Miro, der inzwischen wieder zu Kräften gekommen war, und Assat ihre Feindseligkeiten endlich begraben hatten. Nun mussten sie nur noch erkennen, wie viele Gemeinsamkeiten sie teilten. Sie würden zueinander finden, davon war Legolas überzeugt.

Die Gedanken des Elben glitten weiter zu Aragorn. Er freute sich auf ihr Treffen. Es waren einige Monate ins Land gegangen, seit Aragorn mit seinem Vater nach Bruchtal zurückgekehrt war. Was mochte inzwischen in Elronds Tal geschehen sein? Legolas konnte es kaum erwarten, zu erfahren, welchen Unsinn Aragorn zusammen mit den Zwillingen seither verbrochen hatte.

Legolas lächelte und schüttelte den Kopf. Er würde es früh genug erfahren. Bruchtal war zwar noch eineinhalb Tagesritte entfernt, doch wenn sie die Pferde antrieben und er Miro zu sich auf den Rappen nahm, würden sie eventuell bereits zum späten Abend in Elronds Haus eintreffen können.

Entschlossen, ins Lager zurückzukehren, weckte plötzlich ein Lichtspiel die Aufmerksamkeit des Elben. Durch den Nebel war ein geisterhaftes Flackern zu sehen, das sich der Stelle näherte, an der der Elbe sich gerade befand. Es war ein unruhiges Licht, das sprunghaft seine Richtung änderte und dabei unaufhörlich dichter heranschwebte. Als es plötzlich aus dem Nebelfeld heraussprang, prallte Legolas erschrocken zurück.

Ein Irrlicht? In dieser Gegend? Die Überraschung des Elbenprinzen war groß. Irrlichter waren eine seltene Erscheinung in Mittelerde. Gewöhnlich traten sie nur in und um Angmar, in den Gebieten nördlich des Nebelgebirges oder den Totensümpfen hinter dem Emin Muil auf.

Die fahle Bleichheit des Lichts, das sich ihm wie ein drohendes Omen näherte, ließ Legolas erschaudern.

Nicht selten war ein Irrlicht das Zeichen für einen nahe bevorstehenden Tod!

Besonders die Tatsache, dass dieses Irrlicht nicht erloschen war, nachdem es das Nebelfeld verlassen hatte, beunruhigte ihn zutiefst. So etwas war eigentlich unmöglich! Irrlichter waren kurzlebige, schnelle Boten, die man geträumt zu haben glaubte, so schnell tauchten sie auf und verschwanden  wieder.

Dieses Irrlicht jedoch schien furchteinflößend stabil zu sein. Es schwebte auf Legolas zu und tanzte zwei Armeslängen vor ihm eine Weile hin und her, als wüsste es nicht, wohin es sich wenden sollte. Dann schoss es urplötzlich in die Baumkronen empor und erlosch dort.

Bei den Valar, was bedeutet das? Soll unsere Reise kein glückliches Ende nehmen? Wird dieser Weg doch noch Leben kosten?

Unruhig suchten seine Augen die Umgebung ab, doch das Phänomen wiederholte sich nicht.

Einen Moment später schoß ein Gedanke siedend heiß durch seinen Sinn. Was, wenn das Irrlicht Aragorn und seine Familie betraf? Hatte er nicht gerade an ihn und Bruchtal gedacht, als das Licht auftauchte? Dunkle Vorahnungen begannen Gestalt anzunehmen.

Der Elbe bekam abrupt das untrügliche Gefühl, dass die Zeit drängte. Wenn ihn die zurückliegenden Jahrtausende etwas gelehrt, dann dass er auf seine Intuition hören sollte. Ohne, dass er wußte, wieso, spürte Legolas, dass sie so schnell wie möglich aufbrechen mussten. Das nagende Gefühl von Gefahr würde erst wieder verschwinden, wenn sie Bruchtal erreicht hatten.

Ohne zu zögern machte er sich wieder auf den Rückweg ins Lager, wo Miro und Assat auf ihn warteten.

***

Rivar stolperte zum wiederholten Mal. Nur mühsam kam er wieder auf die Beine, denn Morag, an dessen Sattelknauf seine Fesseln mit einem langen Seil befestigt worden waren, hielt sein Pferd nicht an.

„Wir bleiben deinetwegen nicht stehen. Also sieh zu, dass du auf den Beinen bleibst!" hatte Morag bei seinem ersten Sturz geknurrt und ihm auf dem weiteren Weg gezeigt, dass er es ernst meinte. Es war ein schneller Ritt für jemanden, der gezwungen war, hinterher zu laufen. Mühsam rang Rivar nach Luft. Wie nicht anders zu erwarten, nahmen die Südländer keine Rücksicht.

Der Weg führte sie schnell in hügeligeres Gelände, das zunehmend von dichtem Unterholz bestanden war. Für die Pferde waren die starken Äste, die sich von beiden Seiten in den Weg schoben, kein Problem, für Rivar jedoch schon.

Immer wieder schnellten die zur Seite gedrückten Zweige zurück und trafen ihn schmerzhaft an den Armen, am Körper und im Gesicht. Mehr noch als die Tatsache, rücksichtslos hinter einem Pferd hergezogen zu werden, machte dem alten Einsiedler zu schaffen, dass er nicht mal einen Arm heben konnte, um sie abzuwehren.

Morag schien sich dessen wohl bewußt zu sein, denn er sorgte immer wieder dafür, dass zurückschnellende Äste ihre Spur in die Haut des alten Mannes gruben. Schließlich schnellte ein besonders großer Zweig zurück. Rivar musste hilflos zusehen, wie er peitschenartig auf ihn zu kam.

Im nächsten Moment traf ihn dieser Zweig mitten ins Gesicht. Schmerz durchzuckte ihn und sorgte dafür, dass er einen Augenblick lang schmerzerfüllt die Augen zusammenpresste, statt auf den Weg zu achten. Ein Stein, der halb in der Erde vergraben lag, wurde zur Falle für den alten Einsiedler, der ihn nicht sah und prompt stolperte.

Wiederum nutzte Morag bewusst diesen Moment, um sein Pferd anzutreiben. Rivar, der nicht schnell genug auf die Beine kam, wurde eine Weile hinterhergeschleift, ehe das Tempo schließlich für einen Moment so weit gezügelt wurde, dass er wieder aufstehen konnte. Dann ging es weiter. Unbarmherzig schleifte man ihn durch die Wälder. Längst war sein Rücken zerschunden und blutete ebenso wie seine Handgelenke, die schmerzten, als würden die Stricke sie jeden Moment von seinen Armen trennen.

Irgendwann begegneten ihnen unterwegs zwei Dorfbewohner, doch die beiden hielten furchtsam die Köpfe gesenkt, als die gefährlich aussehende Truppe vorbeiritt. Zwar warf einer von ihnen Rivar einen kurzen mitleidigen Blick zu, doch dann wandte er sich schnell wieder ab.

Die Hoffnung, die für einen Augenblick in Rivar aufgeflammt war, erlosch sofort wieder. Resigniert stellte er fest, dass ihn ihr Verhalten nicht überraschte. Sicher hatte sich die Anwesenheit der Südländer in den umliegenden Dörfern längst herumgesprochen und offenbar wussten die beiden sehr wohl, wen sie gerade vor sich gesehen hatten.

Schlagartig wurde dem Einsiedler klar, dass sie keine Hilfe für ihn holen würden. Das hieße, den Zorn dieser Krieger auf sich zu ziehen – und dieses Risiko würde niemand freiwillig eingehen. Schon gar nicht für einen ihnen unbekannten alten Mann!

Sie wollen nur überleben, versuchte er sich zu trösten. Genau wie ich!

Ach, plötzlich willst du überleben? höhnte eine innere Stimme, von der Rivar genau wußte, das es die Furcht vor dem Kommenden war, die da aus ihm sprach. Warum hast du dich dann widerstandslos gefangen nehmen lassen?

Des Mädchens wegen. Und weil ich keine Waffe hatte. Mein Dolch war in der Satteltasche, und die war unerreichbar, längst außerhalb meiner Reichweite...

Es war bestenfalls eine halbherzige Ausrede, mit deren Hilfe er sich zu beruhigen versuchte, und der Rest seines immer weiter schwindenden Kampfwillens wußte das auch.

Du hast noch deine zwei Fäuste, mit denen du kämpfen konntest, wenn du es gewollt hättest. Aber was hast du getan? Du hast reglos dagestanden und es zugelassen, dass sie dich gefangen genommen haben! Du hast einfach aufgegeben.

Die Vorwürfe seines inneren Ichs klangen wie ein endgültiges, vernichtendes Urteil. Dennoch: was war sein Kampfwille im Vergleich zu dem Schwur, den er geleistet hatte?

„Ich werde schweigen," flüsterte Rivar keuchend, wie um sich selbst zu mahnen, sein Versprechen nicht zu vergessen.

Dann weißt du auch, dass es der schwerste Kampf deines Lebens wird, diesen Schwur zu halten, oder?

Blicklos stolperte Rivar weiter hinter Morags Pferd her, während sich der grobe Strick immer tiefer in seine Handgelenke grub. Er wollte nicht mehr nachdenken, sich nicht mehr mit sich selbst auseinandersetzen, doch die innere Stimme ließ ihn nicht zufrieden.

Er hat bereits begonnen. Du spürst es mit jedem Ruck der Fesseln. Du wehrst dich gegen die Schmerzen, die sie dir verursachen. Und weißt du warum? Nicht nur, weil du schweigen willst. Du tust es, weil du leben willst. Und DAS ist die Wahrheit...

Rivar hatte die Vorhaltungen seines Gewissens satt.

„Ja," keuchte er leise. „Ja, ich will leben. Ich wollte nie etwas anderes..." Über diese unvermuteten Worte erstaunt, verstummte er.

Bis jetzt hatte er geglaubt, aufgegeben zu haben, doch nun – mitten in einer nahezu aussichtslosen Situation – stellte Rivar plötzlich fest, dass das Gegenteil der Fall war.

Er wollte wirklich leben. Er wollte es mehr als alles andere. Vielleicht weil er Arathorns Sohn am Leben wusste und sich wünschte, selbst noch einmal das Leben genießen zu können.

In diesem Augenblick erkannte Rivar, dass das Schicksal immer wieder Überraschungen bereit hielt und es sich nicht lohnte, aufzugeben. Doch wie weit kam er mit diesem Wunsch, wenn Gomar ihn erst mal in den Fingern hatte?

Es war hoffnungslos!

Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung!

Rivar wußte nicht, woher dieser Gedanke so plötzlich kam. Er erinnerte sich auch nicht, wer diese Worte zu ihm gesagt hatte, doch er versuchte daran festzuhalten. Noch war er voller Leben. Er spürte es in jeder Faser seines Körpers, mit jedem Sturz, mit jedem Zweig, der ihm ins Gesicht schlug und mit jedem Ruck am Seil, das seine Fesseln enger zusammen zog.

Noch war Leben in ihm! Noch...

***

Als das Pferd überraschend losgaloppiert war, hatte Nolana sich noch krampfhaft am Sattelknauf festhalten müssen, doch mit der Zeit bekam sie ein Gefühl dafür, sich den Bewegungen des Tieres anzupassen, ohne aus dem Sattel zu rutschen. Sie hielt die Zügel krampfhaft umklammert und konzentrierte sich darauf, immer in jene Richtung zu reiten, die der alte Mann ihr gezeigt hatte, doch das Pferd registrierte das Fehlen einer führenden Hand schnell und schon bald war aus Süden für das Mädchen unbemerkt Südosten geworden.

Die Stille des Waldes, die nur vom Klang der Hufe zerrissen wurde, mischte sich mit der bald darauf einsetzenden Dämmerung des frühen Abends. Nolana fror trotz des Umhangs, den Rivar ihr umgelegt hatte. So schmiegte sie sich irgendwann an den Hals des Tieres, um auch noch dessen Körperwärme in sich aufzunehmen. Erschöpfung, Kälte, Einsamkeit und das Übermaß an Aufregung forderten schließlich ihren Tribut von dem schmächtigen Kinderkörper. Als die Bäume von der Dunkelheit der heranziehenden Nacht eingehüllt wurden, begannen dem Mädchen die Augen zuzufallen.

Zwar bemühte sie sich eine Zeitlang, wach zu bleiben, doch am Ende unterlag Nolana der Müdigkeit. Die Zügel um die winzigen Fäuste gewickelt und die Arme haltsuchend um den Hals des Tieres geschlungen, schlief sie ein, ohne zu bemerken, dass das Pferd immer langsamer wurde...

***

Zur gleichen Zeit zog eine kleine Gruppe von Elbenkriegern Bruchtal entgegen. Sie hatten in den letzten sechs Monaten am Rand der Nebelberge patrouilliert, waren jedoch vor einigen Tagen abgelöst worden. Nur noch wenige Stunden, dann würde ihr Ziel, das friedliche Tal des Bruinen, vor ihnen auftauchen.

Sie schwiegen und ließen ihre Gedanken dem Geflüster des Nachtwindes folgen, der durch die Bäume strich und die herbstwelken Blätter zum Rascheln brachte.

Gorenduil, der Anführer der Patrouille, ritt an der Spitze der kleinen Schar. Ebenso wie seine Männer war er nach wie vor wachsam und bereit, beim kleinsten Anzeichen einer möglichen Gefahr zu den Waffen zu greifen. Er sah seine Vorsicht gerechtfertigt, als er unvermittelt einen Schatten zwischen zwei Baumstämmen auftauchen sah. Wortlos ließ er seine Leute ihre Tiere zügeln, dann deutete er in die betreffende Richtung.

„Da vorn ist etwas," wisperte er in einer nur für das Elbengehör vernehmbaren Lautstärke. „Macht euch bereit."

Innerhalb von Sekunden hatten die Elben ihre Bögen vom Rücken genommen und einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Dann warteten sie.

Die Zeit schien sich zu einer Ewigkeit auszudehnen, bis sich nach Momenten des angespannten Ausharrens endlich etwas aus dem Nachtdunkel vor ihnen schälte. Gorenduil ließ seinen Bogen sinken, als er sah, dass da lediglich ein einzelnes, auf den ersten Blick reiterloses, Pferd auf sie zu kam.

Er wusste, dass die Pfeile seiner Krieger ihm noch immer folgten, als er, nach wie vor misstrauisch, den Bogen wieder über seinen Rücken hängte, sein Pferd in Bewegung setzte und zu dem fremden Tier hinüberritt, um es an den Zügeln zu nehmen und anzuhalten.

Erst, als er dichter heran kam, sah er, dass das Tier doch nicht ganz so reiterlos war wie zunächst angenommen. Behutsam schob er den Umhang fort, der zu beiden Seiten des Pferdehalses herabhing und jemanden verbarg.

„Was, in Erus Namen..."

Ungläubig starrte er einen Augenblick lang auf das schlafende Mädchen, dessen Arme lose um den Hals des Tieres lagen, dann bedeutete er seinen Kriegern, die Bögen zu senken, während er das Kind sanft an der Schulter rüttelte.

„Wach auf, Mädchen. Komm schon, wach auf."

„Hmm?" Solchermaßen aus ihren Träumen gerissen hob Nolana den Kopf und blinzelte müde in die Runde. Sie erstarrte jedoch, als sie unvermittelt einen Fremden neben sich sah. Schlagartig fielen ihr Rivars Worte wieder ein. '...diese Männer sind sehr böse. Sie tun uns schrecklich weh, wenn sie uns einholen...'

Ich bin eingeschlafen und jetzt haben mich die bösen Männer gefangen! Wie Feuer schoß dieser Gedanke durch den kleinen Körper und brachte ihn zum Beben. Dass der Mann neben ihr so gänzlich anders aussah als der, dem Rivar und sie am Nachmittag begegnet waren, fiel dem Mädchen vor lauter Angst gar nicht auf.

„Bitte, bitte, tut mir nichts," bettelte sie, während die kindlichen Augen sich innerhalb von Momenten mit dicken Tränen füllten, die – von ihr unbemerkt – an den Wangen hinabzulaufen begannen. Gleichzeitig ließ sie die Zügel des Pferdes fahren und wickelte sich statt dessen noch enger in den alten Umhang Rivars, als könne er ihr Schutz bieten.

„Hab keine Angst. Ich will dir nicht weh tun, Kind."

Gorenduil näherte sich dem Mädchen bis auf Armeslänge Abstand. Er sah ihre Panik und war sich bewusst, dass ihre Blicke ihn keine Sekunde verließen.

„Was machst du hier, allein und mitten in der Nacht? Hast du dich verirrt?"

Die Angst in Nolana war so groß, dass die Worte ihr in der Kehle stecken blieben. So starrte sie die Gestalt des Elben nur wortlos an wie einen lebendig gewordenen schlechten Traum, während sich ihre Gedanken förmlich überschlugen und ihr Herz bis in die Kehle zu schlagen schien. Plötzlich wünschte sie sich, dass Rivar bei ihr wäre, damit sie sich bei ihm verstecken konnte. Doch Rivar war weit weg. Sie war zum zweiten Mal an diesem Tag ganz allein. Allein mit ihrem unsichtbaren Freund, der ihr angesichts der vielen Fremden jedoch auch keine große Beruhigung war.

Gorenduil hatte keine Mühe, die Furcht im Gesicht des Kindes zu erkennen, die von Minute zu Minute intensiver zu werden schien. Er wusste, dass er schnell etwas unternehmen musste und so tat er das Einzige, das ihm in dieser Situation noch blieb: er begann zu reden.

„Du brauchst wirklich keine Furcht vor mir zu haben, Kleine. Mein Name ist Gorenduil und das dort..." Er deutete hinter sich. „...sind meine Gefährten. Wir waren viele Tage unterwegs und sind jetzt auf dem Weg nach Hause. Glaub mir, wir tun niemandem etwas. Schon gar nicht kleinen Mädchen, die sich nachts im Wald verlaufen."

„Ich... wir haben uns nicht verlaufen," sagte Nolana leise, während sie mit ihrer kleinen Hand die Tränen über das Gesicht wischte und den hochgewachsenen Fremden mit der gleichen neugierigen Scheu anstarrte, mit der sie einige Stunden zuvor bereits den alten Einsiedler gemustert hatte. „Wir müssen nach Süden, hat Rivar gesagt, zu den Elben."

„WIR???" Alarmiert sah Gorenduil sich in der Umgebung um, doch außer dem Kind konnte er niemanden weiter entdecken. „Wer ist WIR?"

„Na, Harweduil und ich!" sagte Nolana, während sie sich langsam wieder beruhigte.

„Harweduil?" Verständnislos sah der Elbe sie an. Zwar klang der Name sehr elbisch, doch außer den Kriegern seiner Truppe konnten seine Sinne keine weiteren Elben in der Umgebung wahrnahmen. Womöglich hatte das Kind einen Begleiter, der sich vor ihnen irgendwo in einer der Baumkronen verbarg. „Wer ist Harweduil? Und warum versteckt er sich vor uns?"

„Harweduil ist mein Freund," erklärte das Mädchen geduldig. „Und er versteckt sich doch gar nicht. Er ist immer bei mir."

„Jetzt auch?"

„Ja, jetzt auch," bestätigte Nolana, während ihre Angst mehr und mehr der Neugier Platz machte.

Plötzlich begann Gorenduil zu begreifen. „Er ist... jetzt bei dir auf dem Pferd, nicht wahr?"

„Hmm." Sie nickte ernsthaft, als sei damit alles geklärt.

Das war es für den Elben in der Tat. Er hatte schon davon gehört, dass Menschen, wenn sie sehr einsam waren, sich manchmal unsichtbare Freunde erschufen. Gorenduil beschloss, es vorerst dabei zu belassen und zum eigentlichen Problem zurückzukehren

„Aha. Zu den Elben willst du... wollt ihr also." Gorenduil hütete sich, der Kleinen zu zeigen, dass ihn ihre todernsten Worte insgeheim zu amüsieren begannen. „Dann habt ihr sie gerade gefunden."

„Ja?" Die Augen des Kindes wurden vor Erstaunen so groß, dass Gorenduil ein leichtes Schmunzeln nicht mehr unterdrücken konnte. „Wirklich? Bist du..." Ihr Blick streifte die hinter ihm befindliche Reitergruppe, die jedoch durch das nächtliche Dunkel nicht mehr als vage Schemen für sie waren. „...seid ihr wirklich alle Elben?"

„Ja, wir sind wirklich alle Elben," bestätigte der Anführer der Patrouille dem Kind mit wachsender Belustigung und strich eine Haarsträhne hinter das rechte Ohr, damit das Kind die geschwungenen Ohrspitzen sehen konnte. „Und nun, wo ihr beide uns gefunden habt, könntet ihr uns vielleicht auch sagen, warum ihr uns gesucht habt?"

„Weil wir etwas ausrichten sollen." Jetzt, wo Nolana langsam ihre Furcht verlor, gewann ihre kindliche Bestimmtheit wieder die Oberhand.

„Ihr sollt uns etwas ausrichten?" Aus Gorenduils Erheiterung wurde Verwirrung. „Von wem? Und was sollt ihr uns ausrichten?"

„Von Rivar," entgegnete Nolana. „Aber was es ist, darf ich nur einem sagen. Er heißt..." Sie begann in ihrem Gedächtnis nach dem Namen zu graben, den Rivar ihr genannt hatte. „...Ebron ... nein ... Elir ... nein, auch nicht ..."

„Elrond?" warf Gorenduil ein, schlagartig ernst geworden. „War das der Name? Elrond?"

„Hmm." Nolana nickte. „Nur ihm darf ich sagen, was Rivar mir aufgetragen hat."

Rivar?, grübelte Gorenduil. Diesen Namen habe ich noch nie zuvor gehört.

Er sah das Kind nachdenklich an. „Aber mir kannst du es auch sagen. Ich kenne Lord Elrond und werde ihm die Nachricht überbringen"

„Nein!" Nolana schüttelte den Kopf. Ihre Miene ließ erkennen, dass sie entschlossen war, sich von nichts umstimmen zu lassen. „Nur ihm dürfen wir es verraten, hat Rivar gesagt."

„Das wird aber schwer." Gorenduil wollte noch einen letzten Versuch wagen, das Kind umzustimmen. „Lord Elrond ist unser Herr, unser Fürst. Man kann nicht einfach so zu einem Fürsten gehen, weißt du."

„Harweduil und ich sollen das hier zeigen, hat Rivar gesagt, dann dürfen wir zu ihm." Sie begann an ihrem blauen Kleid zu nesteln, bis sie schließlich etwas aus einer aufgenähten Tasche zog und es Gorenduil gab. Dessen Erstaunen wuchs weiter, als er in dem Gegenstand das Siegel erkannte, mit dem Arathorns Männer sich bei den Grenzwachen auszuweisen pflegten, wenn sie nach Bruchtal wollten.

„Wo hast du das her?" Er sah die Kleine intensiv an, ihren unsichtbaren Freund schlagartig vergessend.

„Von Rivar, das habe ich doch gesagt." Unverständnis über das offenbar langsame Begriffsvermögen des Elben begann Nolanas Worte trotzig zu färben. „Dürfen wir jetzt zu ihm?"

Gorenduil antwortete nicht sofort. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Das Siegel ist zweifellos echt. Was, wenn die Kleine wirklich eine Nachricht für Lord Elrond hat? Etwas – ein nicht genau erklärbares Gefühl – sagte ihm, dass es besser war, die Erzählung der Kleinen nicht leichfertig als Kindergeschwätz abzutun.

Er sah Nolana abschätzend an, dann steckte er das Siegel ein. „Gut, ich werde dich zu ihm bringen. Aber dafür musst du auf mein Pferd kommen. Deines ist müde, meines nicht. Wir sind mit meinem schneller am Ziel."

Nolana überlegte kurz, dann nickte sie, während so etwas wie Freude über ihre Züge huschte. Sie würde bei einem echten Elben auf dem Pferd sitzen und in eine ganze Stadt voller Elben reiten! Der Gedanke ließ sie jede Müdigkeit und sogar den Hunger vergessen, der sich immer nachdrücklicher bemerkbar machte. „Ja, gut. Harweduil macht sich auch ganz klein..."

„Tut mir leid." Gorenduil hob die Kleine ohne große Umstände aus dem Sattel ihres Pferdes auf das seine hinüber, dann winkte er einen seiner Krieger herbei und gab ihm die Zügel von Nolanas Pferd. „Aber hier ist nur Platz für uns beide. Dein ... Freund bleibt bei meinen Leuten und paßt unterdessen mit ihnen auf dein Pferd auf, ja?"

Für einen Moment sah es so aus, als wollte das Kind aufbegehren, doch dann nickte sie schließlich. „Ja, gut. Harweduil ist damit auch einverstanden."

„Schön."

Gorenduil widerstand dem Impuls, den Kopf über die wiederholte Erwähnung jenes unsichtbaren Freundes zu schütteln. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Estel jemals einen unsichtbaren Spielgefährten erwähnt hatte. Andererseits war Estel auch unter Elben aufgewachsen. Vielleicht gehörte so etwas bei Menschenkindern normalerweise zum Aufwachsen hinzu?

Er gab seinen Leuten letzte Anweisungen, ihnen zu folgen, dann wickelte er Rivars alten Umhang um das Kind und hielt es mit einem Arm fest. „Können wir?"

„Hmm." Nolana nickte eifrig. Sie konnte es kaum abwarten, noch mehr Elben zu sehen.

„Dann los!"

Einen Augenblick später hatte sein Pferd sie bereits ins Dunkel der Nacht davongetragen.

***

Aragorn hatte nach der Beseitigung der alten Pfeilspitze den Rest des Tages lesend in seinem Zimmer verbracht und über den Erzählungen in dem Tagebuch die Zeit schließlich völlig vergessen. Hin und wieder warf er zwar einen Blick aus dem Fenster, doch es waren geistesabwesende Blicke, die nicht zur Orientierung dienten, sondern der gedanklichen Sammlung. Erst, als aus Tageslicht Abenddämmerung und es ohne Kerzen zu dunkel zum Weiterlesen geworden war, legte er das Buch beiseite und ging zum Abendessen hinunter.

Alle Anwesenden schienen eigenen Gedanken nachzuhängen, und so wurde es eine bedrückend schweigsame Mahlzeit.

Als Aragorn in seine Gemächer zurückkehrte, hatten Diener bereits ein wärmendes Feuer im Kamin entzündet. Zudem tauchte eine Anzahl brennender Kerzen den Raum in ein warmes, gemütliches Licht. An jedem anderen Tag hätte der junge Mann die Gesellschaft seiner elbischen Brüder gesucht, doch an diesem Abend war das anders.

Die im Feuer knisternden und knackenden Holzscheite schienen nicht genug Wärme auszustrahlen, um den Raum genügend aufzuheizen, denn kaum hatte Aragorn es sich erneut mit dem Tagebuch im Sessel gemütlich gemacht, begann er auch schon zu frieren. Stirnrunzelnd rückte er seinen Sessel näher an das Feuer, doch auch jetzt verschwand das Frösteln in ihm nicht. Im Gegenteil schien es eher noch zuzunehmen, so dass er sich irgendwann eine Decke holte und sie um die Schultern legte.

Doch auch das wärmte ihn nicht auf. Schon nach wenigen Minuten ließ er das Buch in den Schoß sinken, rieb sich die kalten Hände – um bei dieser Gelegenheit festzustellen, dass sie zitterten.

Irritiert hielt er mitten in der Bewegung inne. Was ist denn bloß los mit mir? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass ich krank werde...

Er lauschte aufmerksam in sich hinein.

Tatsächlich.

Jetzt, wo er genauer in sich hineinhörte, spürte er deutlich, dass etwas nicht in Ordnung war. Nicht nur, dass das Frösteln von Minute zu Minute unerträglicher zu werden schien – auch sein gesamter Körper schmerzte auf eine eigentümlich unterschwellige Art und seine Muskeln fühlten sich so an, als hätte er tagelang zusammengerollt in einer Ecke verbracht.

Vielleicht sollte ich mich einfach schlafen legen, überlegte Aragorn.

Der Gedanke, die unangenehme Kälte durch einige Lagen warmer Decken auszusperren, hatte etwas Verlockendes, und so war sein Entschluss schnell gefallen. Wenige Minuten später lagen alle verfügbaren Decken über seiner Bettdecke, während er selbst sich unter all den Lagen Stoff verkroch und sie schließlich bis an die Nasenspitze emporzog.

Wenig später war Aragorn bereits eingeschlafen.

Kaum eine Stunde später kehrte auch in den Rest des Bruchtaler Schlosses abendliche Ruhe ein.

Keiner ahnte, dass es die Ruhe vor dem Sturm sein sollte...

***

Es war das Kratzen in seiner Kehle, das Aragorn irgendwann weckte.

Noch in den Tiefen des Schlafes gefangen, blinzelte der junge Mann zwischen bleischweren Lidern in die Runde.

Inzwischen war das Kaminfeuer zu einem schwachen Glimmen heruntergebrannt und auch die meisten Kerzen waren ausgegangen.

Aragorn schluckte mehrmals gegen das unangenehme Brennen in seinem Hals an, doch je intensiver er dagegen ankämpfte, desto heftiger und unerträglicher schien es zu werden. Es war, als steckten blanke Eisenhaken in seiner Luftröhre, die sich bei jedem Atemzug ein Stück tiefer in ihn hineinbohrten.

Vielleicht sollte ich etwas trinken, dachte er und unternahm den Versuch, sich aufzurichten und nach der Wasserkaraffe zu spähen. Er hatte jedoch kaum den Kopf vom Kissen gehoben, als sich die Welt bereits um ihn herum zu drehen begann. In übelkeitserregender Schnelligkeit vollführten die Wände seines Zimmers plötzlich einen wilden Tanz. Erfüllt von scheinbarem Eigenleben wölbten sie sich ihm entgegen, um gleich darauf wieder in unerreichbare Fernen zu rücken.

„Was zum..." krächzte er und schloss stöhnend die Augen, während sein Herz wie wild zu klopfen begann. Sein Kopf, plötzlich mit Blei gefüllt, fiel aufs Kissen zurück, das seinerseits nicht mehr mit Daunen, sondern mit purem Stein gefüllt zu sein schien, jedenfalls, wenn man nach den hämmernden Kopfschmerzen ging, die dieser eine, kurze Kontakt in Aragorn entfachte.

Er wollte die Hand heben, um sie auf die pochende Stirn zu legen – und stellte fest, dass schon diese eine Bewegung all seine Kraft erforderte. Als er es schließlich schaffte, registrierte ein immer weiter in den Hintergrund geratender Teil seines Bewusstseins, dass seine Haut trotz des darauf liegenden Schweißfilms erstaunlich klamm war.

Nach mehreren Sekunden begriff Aragorn, dass er schweißgebadet war und gleichzeitig fror. Aus dem unterschwelligen Muskelschmerz des Abends war unterdessen ein unangenehm ziehender Schmerz geworden, der jede Bewegung zur Qual machte und das Nachdenken zu behindern schien, denn selbst die einfachsten Gedanken zu formulieren fiel Aragorn immer schwerer. Sie wurden von Minute zu Minute weniger greifbar und statt dessen immer verworrener.

Was ist bloß los ... Eru, mir ist so kalt ... Wasser ... bin ich krank? ... das Wasser steht an der Tür ... da komme ich nie hin ... mir ist übel ... so kann ich morgen unmöglich mit Glorfindel den waffenlosen Kampf üben ... mein Hals ... und der Kopf bringt mich um ... mir ist kalt ... so kalt ... sogar das Zittern tut weh...

Er biss die vor Kälte klappernden Zähne krampfhaft zusammen – und krümmte sich vor Schmerzen, als sein gesamtes Muskelsystem beschloss, dieser einen Bewegung zu folgen.

Schwer atmend, schweißüberströmt und von immer heftiger werdender Übelkeit gepeinigt begriff Aragorn schließlich, dass ihm nur eine Möglichkeit blieb: Elrond! Wenn ihm jetzt noch jemand helfen konnte, dann er!

Warum müssen seine Räume nur so weit weg sein?, dachte er, als ihm klar wurde, dass er sich bereits viel zu schwach fühlte, um den Weg dorthin noch zu schaffen. Die wenigen Schritte den Gang entlang bis an die nächste Ecke und dann zur ersten Tür des dort abzweigenden Flures waren unter Normalumständen ein Fall von 30 Sekunden. In Aragorns Zustand jedoch erschienen sie dem jungen Mann anstrengender als ein Fußmarsch von Bruchtal nach Lothlorien.

Unter Aufbietung aller ihm verbliebenen Kräfte versuchte er sich trotzdem zu erheben, doch das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass es sogar das leise Stöhnen übertönte, von dem der junge Mann nicht mehr begriff, dass es Ausdruck seiner dadurch weiter angefachten krampfhaften Schmerzen war. Sein Herz hämmerte so unregelmäßig, als müsste es gleich stehen bleiben, und die Übelkeit war nun so stark, dass er die Augen zusammenpressen musste, um ihr zu widerstehen.

Das gemarterte Bewußtsein Aragorns ertrug schließlich die Gesamtheit seiner Qualen nicht mehr.

Noch ehe er sich gänzlich aufgesetzt hatte, hüllte ihn die Schwärze der Bewusstlosigkeit ein. Wie leblos fiel er auf das Kopfkissen zurück, jedem zufälligen Betrachter des Bild eines tief Schlafenden bietend...

***

Der Schlaf floh Elrond, doch er war nicht wirklich überrascht von diesem Fakt. Soviel war in so kurzer Zeit geschehen, das Einfluß auf sein Leben hatte. So stand er auf dem Balkon seiner Räume und sah ins Dunkel hinaus, das die meisten Bewohner Bruchtals bereits vor einiger Zeit in tiefen Schlaf begleitet hatte. Die Ruhe, die nach dem Gespräch mit Glorfindel für eine kurze Weile in sein Herz eingekehrt war, hatte nicht lange Bestand gehabt.

Irgendwann am Nachmittag, während einer erneuten Unterredung mit Lord Erestor zur Vorbereitung seiner Abreise, wuchs erneut Unruhe in ihm heran. Es handelte sich um etwas nicht Greifbares, das sich gerade außerhalb seines Wahrnehmungsvermögens befand und dort blieb – unverrückbar fern, aber drohend in seiner Intensität.

Das Abendessen war ungewöhnlich ruhig verlaufen, wofür er zunächst dankbar gewesen war. Die vielen Dinge, die seiner Überlegung bedurften, verlangten jede Minute an Konzentration, die er erübrigen konnte, so dass er erst jetzt die Bedeutung jener ungewohnten Stille wirklich zu erfassen begann. Für gewöhnlich waren Aragorn und die Zwillinge damit beschäftigt, sich gegenseitig die Erlebnisse des Tages zu erzählen oder auch hin und wieder ein verbales Scheingefecht anzuzetteln, das dann meist in einem geselligen Abend in der Halle des Feuers endete, doch all dies war an diesem Abend ausgeblieben.

Der Elbe war sich sicher, dass die drei nichts von seinen Reiseplänen ahnten. Anderenfalls hätten sie ihre Kräfte vereint, um ihn von der Aufgabe des Vorhabens zu überzeugen. Doch etwas stimmte nicht mit ihnen. Er konnte es fühlen.

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken.

„Ja, bitte?" Er wandte sich um. Eine Störung zu dieser Stunde war äußerst ungewöhnlich.

Die schwere, mit Schnitzereien verzierte Tür öffnete sich geräuschlos und einer der Diener trat ein.

„Entschuldigt, mein Fürst, aber Gorenduil, der Anführer der Ostpatrouillen ist gerade eingetroffen. Er hat ein Kind bei sich und sagt, dass dieses Kind eine Nachricht für Euch hätte, die es nur Euch sagen wolle. Das hier hat die Kleine seinen Worten nach bei sich getragen."

Als Elrond sah, was der Diener ihm reichte, erstarrte er förmlich. Es war das Siegel, mit dem sich vor kaum zwei Tagen erst Rivar ausgewiesen hatte! Er musste sich förmlich zwingen, es ihn die Hand zu nehmen und zu betrachten, doch was er sah, verstärkte seine Gewissheit nur noch: es handelte sich um Rivars Siegel!

Das Gefühl drohender Gefahr, das ihn den ganzen Nachmittag über begleitet hatte, wurde nun so stark, dass es sich wie Stein auf seine Brust legte und das Atmen zu behindern schien. Mühsam zwang er seine sich überschlagenden Gedanken zur Ruhe.

„War noch jemand anderer bei ihm? Der alte Mann vielleicht, der heute morgen abgereist ist?"

„Nein, Herr!" Der Diener schüttelte den Kopf. „Es sind nur Gorenduil und dieses Mädchen, sonst niemand."

„Wo sind er und das Kind jetzt?"

„Sie warten unten in der Halle auf Euch."

„Gut." Elrond hielt das Siegel fest in seiner Hand, als er sich in Bewegung setzte und an dem Diener vorbei auf die Tür zuging. „Ich komme."

Als er auf den Gang trat, öffnete sich die Tür zu Elladans Zimmer. Sein ältester Sohn hatte offenbar ebenfalls noch nicht geschlafen.

„Ich habe Geräusche vernommen. Ist alles in Ordnung, Vater?"

„Ich bin gerade dabei, das herauszufinden. Einer der Patrouillengänger ist eingetroffen. Er hat ein Kind bei sich, dass mit einer Nachricht für mich unterwegs ist."

„Eine Nachricht, die durch ein Kind geschickt wird?" Elladans Augenbrauen wanderten erstaunt dem Haaransatz entgegen, während er sein Zimmer verließ und sich an die Seite seines Vaters gesellte, um mit ihm in die Halle hinabzusteigen. „Das klingt alles sehr ungewöhnlich."

„Wir werden dem Ganzen auf den Grund gehen," erwiderte der Elbenherr, während er die Treppe hinunterging. Zusammen mit seinem Sohn betrat er gleich darauf die große Halle, in der Gorenduil bereits auf sein Erscheinen wartete und sich ehrfurchtsvoll verneigte, als die Zwei eintraten. An seiner Seite stand das bewusste Kind, ein etwa sieben- oder achtjähriges, zierliches Mädchen in einem blauen, zerknitterten, abgetragenen Kleid, das viel zu weit für ihre magere Gestalt war. Aus den mit altem Leder geflickten Schuhen ragten ebenso magere, bloße Beine und die dunklen Haare des Kindes waren zu Zöpfen geflochten und an den Enden mit einfachem, groben Faden zusammengebunden worden. Furchtsame Augen sahen aus einem fein gezeichneten, jetzt jedoch blassen und übermüdet wirkenden Gesicht zu ihm auf.

„Du bist Gorenduil?" Elrond sah den Elbenkrieger fragend an, der bestätigend den Kopf neigte.

„Ja, Herr, und das hier ist die Kleine, die das Siegel bei sich trug."

Beinahe automatisch wanderte sein Blick zu dem Kind weiter, das der auf Sindarin geführten Unterhaltung verständnislos gelauscht hatte und einen ziemlich verlorenen Eindruck auf ihn machte. Unvermittelt erinnerte Elrond sich an Aragorns erste Tage in seinem Schloss. Der für seine zwei Lebensjahre damals schon sehr verständige Junge hatte in den ersten Tagen mit dem gleichen verunsicherten Blick zu ihm empor gesehen. Und genauso wie damals bewegte es auch diesmal Elronds Herz. Er begriff, dass schon ihr Anblick das Kind einschüchterte, und ging unwillkürlich vor der Kleinen in die Knie, bis sich beider Gesichter auf der gleichen Höhe befanden.

„Du hast also eine Nachricht für mich?" Elrond versuchte seine Stimme so beruhigend wie möglich klingen zu lassen, als er das Kind ermutigend anlächelte.

„Nur, wenn du..." Nolana zögerte kurz, während sie in ihrem Gedächtnis erneut nach dem Namen kramte, den Rivar ihr genannt hatte. „...Elrond heißt."

Die typisch kindliche Wortwohl brachte den Elben zum Schmunzeln. Er nickte. „Ja. Das ist mein Name. Was sollst du mir sagen? Und wer schickt dich?"

„Rivar..." Sie stockte, als sie sah, dass Elrond mit seinem Sohn einen raschen Blick wechselte, sie dann jedoch wieder ansah. „Ich verstehe. Sprich weiter."

„Naja..." Erst jetzt wurde Nolana sich in vollem Umfang der Aufmerksamkeit bewusst, die ihr von allen Seiten zuteil wurde. Die Worte, die bis eben noch so einfach geschienen hatten, wollten plötzlich nicht mehr aus ihrem Mund. Schüchtern senkte sie den Kopf, während ihre Hände nervös mit dem Ärmel ihres Kleides zu spielen begannen.

Elrond erkannte die Zeichen genau. Sein wortloses Nicken zeigte dem Krieger, dass seine Dienste vorerst nicht mehr benötigt wurden. Gorenduil zögerte unmerklich, ehe er sich abwandte. Sollte er nicht den unsichtbaren Freund des Mädchens erwähnen? Nach kurzem Nachdenken verwarf er diese Idee jedoch. Wenn jemand Erfahrung im Umgang mit Menschenkindern besaß, dann war es der Herr von Bruchtal. Er würde schon wissen, wie er mit dem Kind umzugehen hatte. Während Gorenduil also verschwand, hatte Elladan sich schweigend ein Stück zurückgezogen. Elrond dankte seinem Sohn im Stillen für seine Weitsicht, als er sanft einen Finger unter Nolanas schmales Kinn legte und es behutsam soweit anhob, bis sie ihn wieder ansah. „Ich weiß, wer dich schickt. Er tat das, weil es wichtig ist und weil er weiß, dass er sich auf dich verlassen kann. Und das kann er doch, oder?"

„Hmm." Nolanas Nicken war knapp zu erahnen.

„Das wusste ich." Der Elbe lächelte ihr erneut zu. „Dann hab auch keine Furcht, seine Nachricht an mich weiterzugeben."

„Er..."

Nolana holte tief Luft. Man sah, dass sie allen Mut zusammennahm. „Er hat gesagt, dass die Südländer da sind. Und dass sie nach ihm suchen. Und nach deinem Sohn. Und dass sie denken, dass ich seine Enkeltochter bin." Sie schluchzte kurz auf und fügte dann leise hinzu: „Er hat auch gesagt, dass ich hier bleiben soll..."

Plötzlich hatte die Aussicht, unter Elben zu sein, so gar nichts Verlockendes mehr für das Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünschte, als nach Hause gebracht zu werden. Der Gedanke an die Eltern ließ Tränen in ihre Augen treten.

Die Südländer sind hier? So nahe bei Aragorn? Es kostete den Elbenfürsten alle Willenskraft, nicht alarmiert aufzuspringen, sondern sich zunächst ganz auf das völlig verstörte Mädchen zu konzentrieren.

Er holte tief Luft und hoffte, dass nichts seine innere Bestürzung verriet, als er sachte eine Träne von Nolanas Wange wischte, die gerade daran herabperlte. „Schon gut, nicht weinen. Das hast du gut gemacht. Die Nachricht war sehr wichtig und ohne deinen Mut hätte ich sie nie bekommen. Sag mir nur noch eines: Wo ist Rivar jetzt? Weißt du das?"

„Im Wald," flüsterte das Kind, das nun deutliche Spuren von Müdigkeit zeigte, als es sich die noch immer tränenfeuchten Augen rieb. „Er hat gesagt, er versteckt sich da vor den Männern und hat mich dann weggeschickt."

Was für Männer meinst du, wollte Elrond fragen, ließ es aber, als plötzlich – von einer Sekunde auf die andere – das Bild seiner Vision wieder da war: der blutüberströmte Rivar, der ihm etwas zu sagen versuchte. Er musste die Antwort des Kindes nicht erst hören, um sie zu kennen.

Für einen Moment ließ er erschüttert den Kopf hängen. Offenbar war Rivar den Südländern nach seiner Abreise aus Bruchtal direkt in die Arme gelaufen.

Elrond sah das Mädchen nachdenklich an, das ihn keinen Moment aus den Augen gelassen hatte, erhob sich dann seufzend und winkte Elladan zu sich, bevor er sich wieder dem Mädchen zuwandte. „Wie lautet dein Name? Wir können dich nicht immer Kind nennen, nicht wahr?"

„Nolana," sagte das Mädchen und beäugte mißtrauisch den hochgewachsenen Elladan, der nun seitlich neben ihr stehen blieb.

„Gut, Nolana. Das hier..." Er deutete auf seinen Ältesten. „...ist mein Sohn Elladan. Geh mit ihm. Er wird für dich sorgen und dir zeigen, wo du schlafen kannst. Morgen werden wir gemeinsam überlegen, was wir tun, einverstanden?"

Nolana nickte stumm und ergriff nach einigem Überlegen Elladans Hand, die dieser ihr lächelnd hingestreckt hatte.

„Keine Angst!" Elladan zog das Kind mit sich auf die Treppe zu, sorgsam darauf bedacht, sein Tempo ihren müden Tippelschritten anzupassen. „Es wird dir hier schon gefallen. Aber jetzt werden wir dir erst mal etwas zu essen holen. Und dann wird geschlafen..."

Er konnte schon immer gut mit Kindern umgehen, lächelte der Elbe versonnen, während er einen Moment lang den Worten Elladans lauschte, dessen Stimme sich nun im oberen Stockwerk verlor. Aragorn hat ihm damals schneller vertraut als mir...

Der Gedanke an seinen menschlichen Pflegesohn brachte die drängendste Frage wieder ins Bewusstsein des Elben zurück. Aragorns Sicherheit in Bruchtal war gefährdet. Was sollten sie nun dagegen unternehmen?

Rivar hatte ihm zwar geschworen, das Schweigen um die Existenz Aragorns zu bewahren, doch wenn er sich wirklich in den Händen der Südländer befand, war es sicher nur eine Frage der Zeit, bis diese seinen Willen brachen und die gewünschten Informationen aus ihm herausholten.

Es hat begonnen!

Plötzlich war dieser Gedanke da, der aus der Ahnung kommenden Unheils Gewissheit werden ließ. Ohne, dass er wußte, wo er diese Sicherheit her nahm, spürte er, dass die Bilder der Vision eintreffen würden – egal, was er dagegen zu tun beabsichtigte. Das Schicksal ließ sich von niemandem betrügen. Auch nicht von ihm.

Sein Blick glitt durch den Raum und blieb schließlich an den großen Fenstern hängen, vor denen sternenlose, mitternächtliche Finsternis alles mit einem undurchdringlichen Dunkel einhüllte. Doch Elrond brauchte kein Licht, um auch durch diese Dunkelheit die Kraft Bruchtals zu spüren. Es war viele Jahrtausende lang sein Zuhause gewesen, seine Zuflucht, und auch, wenn diese Zeit nun möglicherweise ihrem Ende entgegenging, konnte ihm nichts den Frieden jener Erinnerung nehmen.

Er wandte sich um und rief einen Diener, den er in die Nebengebäude schickte, damit sie Glorfindel zu ihm baten. Er wusste nicht, wie lange Rivar eventueller Folter standhalten konnte. Es schadete jedoch nicht, so schnell wie möglich über Verteidigungsmaßnahmen für Bruchtal zu sprechen.

Denn dass es Kampf geben würde, daran zweifelte er keinen Augenblick mehr.

Erneut schob sich die Vision in sein Gedächtnis.

Elladan, der sein Schwert gegen den Vater erhob. Der sterbende Elrohir...

Elrond schüttelte den Kopf, um die ungebetenen Bilder zu vertreiben, doch es gelang ihm diesmal genauso wenig wie all die Male zuvor. Sie blieben und verhöhnten ihn mit ihrer Klarheit, bis der mit ihnen verbundene Schmerz plötzlich verschwand und einer neuen, noch nie zuvor gespürten Ruhe Platz machte.

Es war die Ruhe desjenigen, der spürte, dass er den Lauf der Dinge durch nichts aufhalten konnte.

Vielleicht ging die friedliche Zeit Bruchtals tatsächlich zu Ende, doch er würde sich diesem Ende nicht unvorbereitet stellen.

Und er würde nicht fliehen! Die Unsterblichen Lande würden noch eine Weile auf ihn warten müssen...

***

Morag konnte die Rückkehr ins Lager kaum erwarten und so zog er das Tempo, mit dem Rivar durch den nächtlichen Wald gezerrt wurde, erbarmungslos an. Er wollte der Erste sein, der Gomar über das Unglaubliche unterrichtete. Solange er nur am Leben blieb, um zu reden, war es ihm egal, ob der Alte ihnen rennend folgen musste oder die Pferde ihn blutig schleiften.

Als sie das Lager schließlich erreichten und die Tiere zum Stehen brachten, sprang Morag mit einem Satz aus dem Sattel. Er sah kurz nach hinten und registrierte mit Zufriedenheit, dass der Verräter gerade keuchend zusammenbrach.

Die dunklen Augen des Südländers glühten in einem unheilverkündenden Feuer, als er zwei Kriegern zunickte.

„Du und du. Kümmert euch um ihn."

Er ging ungeachtet der vorgeschrittenen Nachtstunde auf Gomars Zelt zu, blieb vor dessen Eingang jedoch stehen. Die beiden Krieger waren inzwischen gleichfalls von ihren Pferden gestiegen und wollten sich Rivar nähern.

„Sorgt dafür, dass er jeden Gedanken an Flucht aufgibt. Schon der leiseste Versuch würde weder ihm noch euch bekommen, denkt daran!"

Es war weniger die Drohung als vielmehr die Tödlichkeit, die in Morags Stimme lag, die die zwei hastig nicken ließ. Vor nicht allzu vielen Stunden hatten sie diesen Tonfall schon einmal gehört – und der Unglückliche, dem er gegolten hatte, sah nun einem langsamen Tod entgegen.

Als er sicher war, dass seinen Anweisungen Folge geleistet wurde, schob er die Stoffbahnen am Eingang zur Seite und betrat vorsichtig das Zelt ihres Anführers.

Es war zwar dunkel genug, um einen Großteil des Zeltinneren in Zwielicht zu tauchen, doch zumindest reichte die Beleuchtung aus, dass er Gomar auf seinem Lager liegen sah. Dass die beiden Frauen inzwischen fort waren, überraschte ihn nicht so sehr wie die Tatsache, dass sein Herr zu schlafen schien. So lautlos wie möglich trat Morag näher und warf einen Blick auf ihn.

Dunkle Augenringe unter geschlossenen Lidern zeugten von der tiefsitzenden Erschöpfung des Mannes. Immer öfter floh Gomar in diese unselige Droge. Zusammen mit den vielen schlaflosen Nächten, derer Morag schon oft Zeuge geworden war, richtete sie ihn langsam, aber stetig zugrunde, denn statt erholsamer Träume brachte sie ihm anscheinend nur quälende Erinnerungen.

Auch Morags Erinnerungen waren nicht gerade die Angenehmsten, und so zögerte er plötzlich, seinen Anführer zu wecken. Nur allzu gut erinnerte sich er noch daran, was letztes Mal geschehen war, als jemand unaufgefordert Gomars Zelt betreten hatte. Es war wieder einmal seine Aufgabe gewesen, den Leichnam zu beseitigen. Immer war es seine Aufgabe. Zuerst hatte sich davor gefürchtet, doch mit der Zeit war aus der Furcht purer Haß geworden. Wie viele vertraute Gesichter hatte er damals, am Beginn ihrer Suche leblos in diesem Zelt gesehen, bevor er und seine Kameraden vorsichtiger wurden...

Wenn sein Herr unter der Wirkung des Sytharm stand, konnte jeder Schritt falsch und jedes Wort gefährlich für das Leben oder zumindest die Gesundheit sein.

Andererseits konnte es ihn genauso gut das Leben kosten, wenn er ihn nicht von ihrem unverhofften Fang unterrichtete. So viele Jahre waren seit ihrem Aufbruch ins Land gegangen – wie sollte Gomar sich da nicht darüber freuen, dass er nun endlich seine Vergeltung bekommen würde?

Morag wusste nicht viel über den Hintergrund von Gomars Rache. In den Südlanden hinterfragte man die Motive seines Herren nicht, wenn man alt werden wollte. Man befolgte Befehle mit aller Kraft, wenn nötig unter Einsatz des eigenen Lebens. Doch in den letzten zwanzig Jahren hatte sich Morag schon so manches Mal gefragt, ob das alles diese Entbehrungen wert war.

So wie Gomar Aradoran und Rivar haßte, verabscheute Morag dieses Land. Hier oben im Norden wurde es im Winter so bitterlich kalt, dass man allein schon durch die Kälte sterben konnte. Eis, Schnee, und dann dieser ewige Regen – das alles war nicht zu vergleichen mit dem Klima, das in seiner Heimat herrschte. Jetzt, wo der Winter bald ein weiteres Mal Einzug halten würde, vermisste Morag die südlichen Lande schmerzlicher als je zuvor.

Diese blasshäutigen Nordländer hatten keine Ahnung von der wohltuenden Kraft der Sonne, deren Streicheln die Haut verwöhnte, vom Flüstern des Windes, der in einem Moment sanft wie eine willige Frau und im nächsten wild wie ein reißenden Tier sein konnte. Er schnaubte verächtlich. Keiner von den hier Lebenden hatte je das Singen des Wüstensandes am Morgen gehört, die Macht gespürt, die in der so haltlos aussehenden Sandmasse schlummerte. Wie ihm all das fehlte...

Es fiel Morag schwer, sich aus seinen Gedanken loszureißen. Seine Überlegung stand noch immer am gleichen Punkt: schlafen lassen oder aufwecken? Nachdenklich warf Morag noch einen kurzen Blick auf Gomar, dann erblickte er den Krug Wein auf dem Boden neben dessen Lager.

„Wird das endlich das Ende unseres Weges sein, Herr? Oder müssen wir dieses kalte Land weiter ertragen, bis auch wir nicht mehr ohne dieses Zeug sein können?" flüsterte Morag. Seine Stimme war kaum hörbar gewesen, trotzdem regte sich der Angesprochene plötzlich und stöhnte leise.

Morag hielt den Atem an. Doch der Schlafende zeigte keine Anzeichen, dass er aus seinem Traum erwachen würde. Unmerklich schüttelte er den Kopf. Was waren das für Träume, dass sie einen so starken Mann wie Gomar derart rastlos werden ließen?

***

Das Traumgespinst zog Gomar immer tiefer in die Erinnerung hinein. Er versuchte sich zu wehren, als er zu spüren glaubte, dass die betäubende Wirkung des Sytharm nachließ, denn selbst in den Fängen des Schlafes wusste das Unterbewusstsein des Südländers um das gleich Kommende. Jeden Augenblick bekam er ein weiteres Mal die Nebenwirkung der Droge zu spüren, die ihm die Vergangenheit in schonungslos klaren Traumbildern zeigen würde. Gomar stöhnte leise auf, als er erkannte, dass er – wie so viele Male zuvor – keine Kraft hatte, sich den Bildern zu wiedersetzen...

... damals...

... in Ankaradas...

... vor langen Jahren...

***

Gomar befand sich seit Stunden im obersten Stockwerk seines Palastes, im dunklen Saal. Seine Lehrmeister hatten ihn endlich allein gelassen, denn der Prophezeiung nach zu urteilen duldete die Zeremonie des Übergangs keine weiteren Anwesenden. Es durfte nichts schief gehen, denn es gab nur diese eine Gelegenheit. Um die erste Stunde nach Mitternacht, wenn die drei Sterne des Salomar ein Dreieck bildeten und direkt über dem Palast erstrahlten, würde es soweit sein.

Der schwarze Marmor funkelte im Licht unzähliger Kerzen.

Gomar kniete in der Mitte des Raumes und meditierte. Er trug nur eine rote weite Hose, und obwohl sein Oberkörper entblößt und das Fenster weit geöffnet war, brachte ihn die hereinwehende kühle Nachtluft nicht zum Zittern. Nichts hätte das vermocht, denn er glühte innerlich vor Erwartung.

Sein Blick konzentrierte sich auf eine schwarze große Kugel, die die Größe eines Schädels hatte und auf einem kleinen mit Samt ausgelegten Podest ruhte.

Er wusste nicht, wie lange seine Lehrmeister schon in Besitz dieses Palantirs waren und woher sie ihn hatten. Es kümmerte ihn auch nicht. Der Palantir war nun in seinem Besitz und nur er hatte die Macht, die dunkle Kraft daraus zu empfangen. Dass dies sein Schicksal war, hatte er so oft gehört, bis er es schließlich selbst glaubte, doch es war nicht dieser Glaube, der ihn alles mit Freuden ertragen ließ. Der Wunsch, sich anschließend für alle erlittenen Qualen rächen zu können, die gewaltsame Trennung von den Eltern, die langen Jahre gnadenloser Ausbildung und die immer stärker spürbare Einsamkeit waren die Motivation, an der er sich festhielt.

Sein ganzes Leben, jeder Atemzug und seine gesamte Erziehung durch die Lehrmeister waren darauf ausgerichtet gewesen, ihn auf das Kommende vorzubereiten. Sie hatten das Potential in ihm erkannt, als er noch ein kleiner Junge war, ihn dann von seinen Eltern getrennt und anschließend keine Zeit verschwendet. Früh brachten sie ihm bei, Rücksicht und Gnade zu vernachlässigen und letztendlich ganz aus seinen Entscheidungen zu verbannen. Ehrgeiz, Härte und Erbarmungslosigkeit waren die Mittel, die ihn zu dem machen konnten, was ihm vorherbestimmt war: ein Dunkler Istari zu werden, der unbegrenzte Macht und Stärke über alle Wesen Mittelerdes besitzen würde.

Er spürte sie tief in sich, die Dunkelheit, die sich im Laufe der Jahre nur noch verstärkt hatte. Jetzt war er allein die perfekte Hülle für die dunkle Macht Saurons.

Gomar atmete tief durch und starrte weiter in die unendliche Tiefe des Palantirs. Sein Blick konzentrierte sich auf die kleinen flackernden Abbilder der Kerzen, die sich auf der dunklen Oberfläche der Kristallkugel widerspiegelten.

Plötzlich überzog ein gelbes Flimmern die Tiefen des Steins. Gomar sah genauer hin, doch trotz seiner Vorbereitung war er nicht auf das gefasst, was er zu sehen bekam.

Zuerst war es nur dieses Flimmern, dann formte sich daraus ein gelber Fleck, der wuchs und schließlich die Form eines Auges annahm – eines feurigen Auges mit einer schwarzen geschlitzten Pupille.

Das Auge starrte ihn an und plötzlich hörte Gomar eine flüsternde Stimme, die heiser seinen Namen rief.

„Gomar! Gomaaaaar!"

Gomar spürte förmlich, wie ihn die Macht erzittern ließ, die von dem Auge ausging.

Diese Macht – bald würde sie die seine sein!

Fast wie unter Zwang streckte er eine Hand aus, um den Palantir zu berühren, zog sie jedoch im letzten Augenblick wieder zurück.

„Noch nicht," flüsterte er dem feurigen Auge zu und warf einen Blick zum Deckenfenster, das den Blick in den nächtlichen Zenit freigab. Es waren erst zwei Sterne zu sehen. „Noch nicht, hab Geduld!"

Gomar war so stark in das Zwiegespräch mit dem Auge versunken, dass er den beginnenden Tumult vor den Türen des Saales erst hörte, als sie plötzlich aufgestoßen wurden und einige Männer kämpfend hereindrängten.

Der junge Südländer sprang auf und musterte die Störenfriede.

Es waren die zwei Männer, die vor dem Saal Wache gehalten hatten. Sie kämpften mit zwei anderen, die er zuerst nicht erkannte, da sie ihm den Rücken zuwandten. Doch dann blitzten seine Augen zornig auf. Einer der beiden Eindringlinge war Aradoran, der Fremde aus dem Norden, der so erbittert all seinen Versuchen standgehalten hatte, ihm sein Geheimnis und den Grund seines Aufenthaltes in den Südlanden abzuringen.

Wie konnte dieser Fremdling es wagen, den Ritus seines Übergangs zu stören!

Da während der Zeremonie Waffen verboten waren und seine Lehrmeister selbige aus dem Raum und von den Wänden entfernt hatten, musste Gomar improvisieren. Er griff nach einem kräftigen Eisenstab, der als Standleuchter eine Feuerschale hielt. Mit der flachen Hand schlug er kräftig gegen die Schale. Die in ihr enthaltene Glut verteilte sich über den Boden, während die Schale selbst über den harten Marmorfußboden glitt und erst an der gegenüberliegenden Wand liegen blieb.

Nunmehr ebenfalls mit einer Waffe ausgestattet, stürzte Gomar sich blindwütig auf die Eindringlinge. Als er sah, wie Aradoran einen der Wachmänner mit dessem eigenen Krummsäbel niederstreckte und sich sofort dem anderen Wächter zuwandte, richtete Gomar sein Augenmerk auf den anderen, der momentan ohne Gegner war.

Gomar erkannte ihn ihm schnell einen der Wärter, die im Verlies ihren Dienst taten. Zwar war dieser besser bewaffnet als er selbst, doch der Kampfkunst und der Kraft von Gomars Jugend würde der um wenigstens ein Dutzend Jahre ältere Mann nicht lange etwas entgegenzusetzen haben. Ein triumphierendes Lächeln stahl sich auf Gomars Züge, das seine Wirkung nicht verfehlte, wie ihm die schreckensgeweiteten Augen des Abtrünnigen verrieten.

„Verräter!" fauchte er und holte mit dem eisernen Stab aus. „Du wagst es, dich gegen mich zu stellen? Wer bist du, dass du denkst, du könntest mir die Stirn bieten?"

„Ich bin Be'Nat Rivar'Odan, Sohn von Nia und Odan'Isem Hassu'Benef. Ich bin nicht länger dein Sklave. Von heute an wähle ich mein Schicksal selbst." Mit dem Mut der Verzweiflung stürzte Rivar sich auf seinen ehemaligen Herrn.

„Dann wählst du den Tod," knurrte Gomar und holte nun selbst zu einem machtvollen Hieb aus. Dieser Kampf würde genauso schnell vorüber sein, wie er begonnen hatte.

***

Arathorn, der in diesem dunklen Palast nur unter dem Namen Aradoran bekannt war, hatte inzwischen auch die zweite Wache besiegt und die Türen des Saales mit einem der Krummsäbel blockiert, die er den Wachen abgenommen hatte. Die beiden Südländer hatten tapfer gekämpft, doch schließlich waren sie dem Überlebenswillen Arathorns unterlegen. Sie hatten ihr Blut für die falsche Sache gegeben, doch es war nicht an ihm, zu urteilen.

Er sah sich nach Rivar um, dem Südländer, der ihn unerwartet aus dem Verließ befreit hatte und als Dank dafür nur verlangte, dass er ihn mitnehmen sollte. Arathorn hatte den gequälten Ausdruck in den Augen Rivars gesehen und gewusst, dass er diesem Mann helfen musste, so wie er ihm geholfen hatte.

Dann sah Arathorn die beiden nahe am Fenster miteinander kämpfen. Und er sah, dass Rivar verlor. Jeder Schlag, den Gomar gegen Rivar führte, ließ ihn weiter in die Knie sinken. Unbemerkt schlich Arathorn sich an die beiden heran. Als Gomar Rivar die Beine unter dem Körper wegschlug und dieser auf den Rücken fiel, überlegte Arathorn fieberhaft, was er tun konnte. Noch war er zu weit weg, um persönlich eingreifen zu können.

Sein Blick blieb am Palantir hängen. Er hatte von der Macht dieser Steine gehört und er wagte nicht, sich vorzustellen, was so ein Kristall in den falschen Händen anrichten konnte.

Arathorn reagierte spontan, ohne nachzudenken.

Er ergriff den Palantir, der für seine Größe ungewöhnlich schwer war, mit beiden Händen und hob ihn hoch über seinen Kopf. Ein Kribbeln schoß durch seine Finger, als suchten sich Hunderte von Ameisen ihren Weg, doch er verschwendete keinen weiteren Gedanken daran.

„Halte ein," rief Arathorn in dem Augenblick, als Gomar den schweren Eisenstab hob, um dem nun wehrlosen Rivar den Schädel einzuschlagen.

Widerwillig drehte Gomar sich um, nahm aber den Fuß, den er auf Rivars Oberkörper gesetzt hatte, um ihn nieder zu halten, nicht herunter. Als er den fremden Mann mit dem Palantir in den Händen sah, erzitterte er vor Wut.

„Gib_Mir_Den_Kristall," forderte Gomar, jedes einzelne Wort betonend und plötzlich Rivar vergessend. Als Gomar sich von ihm abwandte, nutzte er die Chance um sich sofort wieder aufzurappeln und schnell an Arathorns Seite zu treten. Zwar wusste er nicht, was dieser vorhatte, doch er würde ihm folgen.

Arathorn wusste selbst nicht, wie sie sich aus dieser ausweglosen Lage befreien sollten. Hastig sah er sich um. Der Saal, in dem sie sich befanden, war groß, doch bis auf das eine Fenster in der Decke gab es nur noch zwei andere Ausgänge – die Tür, durch die sie gekommen waren, und eine Tür, die auf einen Balkon hinausführte.

„Ihr kommt hier nicht lebend heraus!" Gomar war Arathorns Blick gefolgt und hatte keine Mühe, dessen Absicht zu erkennen. Er lachte überheblich, denn trotz der versperrten Tür zu den Gängen konnte er den Lärm seiner heraneilender Männer hören. Nur noch Momente, dann war es vorbei. Die zwei saßen in der Falle, davon war er überzeugt.

Er warf die Eisenstange zur Seite und streckte eine Hand aus. „Gib mir den Palantir! Sofort!"

Arathorn hatte das Nahen der Wächter ebenfalls gehört und erkannt, dass sie sich bald einer Übermacht gegenübersehen würden. Er wußte, dass Gomar recht hatte, war jedoch nicht gewillt, kampflos aufzugeben. Plötzlich sah er nur noch einen Ausweg.

„Bleib bei mir," flüsterte er Rivar zu, der dicht neben ihm stand, und bewegte sich auf die Balkontür zu. Den Palantir hielt er immer noch hoch über seinem Kopf, obwohl das Gewicht des Kristalls ihn fast zu erdrücken schien.

Gomars Blick streifte unvermittelt das Deckenfenster – und erstarrte.

„Der Zeitpunkt des Übergangs ist gekommen," flüsterte er und Bestürzung zog über sein Antlitz.

Die beiden Flüchtlinge hatten die Worte zwar nicht verstanden, folgten aber seinem Blick. Erstaunt sahen sie, wie neben den zwei dort erkennbaren hell strahlenden Sternen ein dritter langsam an Kraft gewann.

Arathorn überkam plötzlich ein Schwindelgefühl. Er und Rivar hatten inzwischen die Tür nach draußen fast erreicht, immer dicht gefolgt von Gomar, der den Palantir nicht aus den Augen verlor.

Rivar, der Arathorns Unsicherheit bemerkte, wollte ihn stützten, doch unerwartet schüttelte Arathorn ihn ab. Irritiert sah Rivar ihn an. In den grauen Augen des Mannes blitzte nun ein gefährliches Feuer, das von bodenloser Dunkelheit und alles verschlingender Macht genährt zu werden schien.

Es war eine machtvolle Aura, die Arathorn plötzlich zu umgeben schien, eine Aura, der man sich nicht freiwillig nähern wollte. Unwillkürlich trat Rivar einen Schritt zur Seite.

Auch Gomar war die Veränderung aufgefallen. Er musterte den Nordländer nun seinerseits und nicht weniger misstrauisch.

„Gomaaaaar!"

Der Südländer zuckte zusammen, als er jene heisere, flüsternde Stimme plötzlich wieder vernahm, und musterte die beiden Flüchtlinge. Sie schienen die Stimme nicht zu hören. Dennoch war nun auch bei ihnen etwas anders...

Es lag an dem Mann, den er nur als Aradoran kannte, wurde Gomar Momente später klar. Aus dessen Blick strahlte Gomar plötzlich ein Feuer entgegen, das kaum erträglich schien. Er bewegte die Lippen nicht und doch hatte Gomar den Eindruck, als würde die Stimme direkt durch ihn sprechen.

„Gomar, dies ist die Hülle, nach der es mich zieht. Dich brauche ich nicht mehr!" flüsterte es in seinem Schädel.

„Nein..." Gomar Stimme war beinahe lautlos vor Fassungslosigkeit. „Es ist meine Bestimmung, mein Schicksal. Ich bin der Auserwählte, nicht er."

„Aber ich bin der, der wählt, und ich wähle den Nachkommen Isildurs." Die flüsternde Stimme lachte und die darin mitschwingende Grausamkeit drang in jede Faser von Gomars Körper. „Dein Wille ist unwichtig. Ich habe so lange auf eine solche Gelegenheit gewartet. So lange... Und nun ist sie da." Die körperlose Stimme war von erbarmungsloser Freude erfüllt. „Du solltest mein Mittel zur Rache sein, doch gibt es eine bessere Rache, als den Körper des Mannes mit meiner Dunkelheit zu erfüllen, dessen Vorfahre mich des meinen für ewige Zeiten beraubte?"

Das Feuerauge im Inneren der Kristallkugel wuchs zu voller Größe heran und zur selben Zeit leuchtete auch der dritte Stern mit voller Kraft am nächtlichen Firmament.

„NEIIIIIIIN!" Der Schrei zweier Kehlen brach sich an den Wänden des Saales. In ihm lagen Gomars Wut über die Zurückweisung und Arathorns Grauen vor dem fühlbar Bösen, das durch die Hände in seinen Körper fließen wollte.

Mit all seiner verbliebenen Kraft schleuderte Arathorn den Palantir weit von sich. Die dunkle Kugel beschrieb einen hohen Bogen und verschwand dann über die Brüstung des Balkons hinweg in den Tiefen des Meeres, das an die Nordseite des Palastes grenzte.

Rivar war den Vorgängen mit angehaltenem Atem gefolgt. Als er sah, dass Gomar schockiert und wie gelähmt dem Palantir hinterher starrte, reagierte er, ohne nachzudenken. Er wußte, dass seine nächste Handlung sowohl das seine wie auch das Leben seines neuen Freundes kosten konnte, doch etwas sagte ihm, dass es der einzige Ausweg war.

Er ergriff den wie betäubt dastehenden Arathorn am Oberarm und zog ihn mit sich. Mit zwei schnellen Schritten waren sie an der Brüstung des kleinen Balkons. Ein Blick streifte die schäumenden Fluten, die an das Fundament des Palastes schlugen, ein zweiter Gomar, der ihnen mit hasserfülltem Blick nachsah und sich dann zur Eingangstür wandte, gegen die von außen bereits gehämmert wurde. Es konnte nur noch Momente dauern, bis sie aufgebrochen wurde.

„Jetzt oder nie, mein Freund."

Er packte den benommen wirkenden Arathron an beiden Armen und stieß ihn über die Brüstung in die Tiefe, dann sprang er hinterher.

Der Fall war tief und scheinbar unendlich, doch irgendwann schlugen sie hart aufs Wasser auf. Als sie prustend und nach Luft schnappend wieder an die Oberfläche kamen, sahen sie Gomar über die Brüstung des Balkons gelehnt. Er schrie etwas, doch die Brandung, die sich an dem Gemäuer brach, übertönte jeden Laut.

Wenige Sekunden später wurden Dutzende von brennenden Pfeilen auf sie abgefeuert. Als die meisten dicht neben ihnen auf die Wasseroberfläche trafen, entschloß Rivar sich, so weit wie möglich unter der Gefahr hinwegzutauchen. Er kam nicht mehr dazu, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, denn im nächsten Moment spürte er plötzlich einen unerträglichen Schmerz in der Schulter, als sich einer der Brandpfeile tief in das Fleisch bohrte.

Augenblicklich erstarben seine Bewegungen. Die sengende Glut des Feuers fraß sich über seine Haut und in seine Wunde hinein und löschte jeden zusammenhängenden Gedanken aus.

Dass Arathorn auf ihn zu schwamm, sah er nicht mehr. Ebenso wenig hörte er, was dieser ihm zurief. Der Schmerz, der ihn gepackt hatte, war so durchdringend, dass kein Raum für etwas anderes als Qual blieb.

Er hatte nicht einmal mehr genug Kraft sich zu wehren, als zwei starke Hände ihn an den Armen packten und unter Wasser zogen. Das Wasser löschte das Feuer des Pfeils und milderte den Schmerz in seiner Schulter etwas, doch gleichzeitig begann es ihn auch in die Tiefe zu ziehen.

Die letzten Reste von Rivars Denken flüsterten ihm zu, dass er auftauchen musste, um Luft zu holen, doch es blieb nicht mehr als ein Gedanke. Kraftlos überließ er sich dem Sog der Strömung. Er wollte sich nur noch treiben lassen, nicht mehr denken, nicht mehr fühlen. Das Letzte, das er wahrnahm, ehe er das Bewußtsein verlor, war der Anblick der drei leuchtenden Sterne über sich.

Arathorn hielt ihn mühsam weiterhin über der Wasseroberfläche, während er dem Boot entgegenschwamm, das sie in die Freiheit führen sollte. Er hoffte inständig, dass Rivar Wort gehalten hatte und es da war. Wenn nicht, war es besser sie ertranken – Gomars Rache würde dem Begriff Grausamkeit eine ganz neue Bedeutung geben, wenn sie ihm erneut in die Finger fielen...

***

Gomar stand eine Ewigkeit auf dem Balkon und sah in die schäumende Gischt der Brandung. Er hatte seine Männer angeschrieen und sie auf die Suche nach den beiden Flüchtlingen und dem Palantir geschickt. Mit der Kraft der in ihm lodernden Wut hoffte er, dass sie sie fingen, damit er sich an ihnen rächen konnte, doch auch die Stimme des Zweifels war da, die ihm weismachen wollte, dass sie den Sturz unmöglich überlebt haben konnten und ihre Leichen in den nächsten Tagen sicher an den Strand gespült werden würden.

Die Gedanken an den Palantir hatte er bereits weit von sich geschoben. Selbst, wenn der Kristall wider Erwarten noch gefunden werden sollte – die Zeit des Übergangs war vorbei und würde sobald nicht wieder kommen. Die drei Sterne, die ihm nie gekannte, unglaubliche Macht hätten verleihen sollen, verloschen gerade vor seinen Augen. Ein letztes Mal flimmerten sie auf, gerade als wollten sie ihn verspotten, dann verblassten sie endgültig.

Gomars Hände krallten sich so stark um das Geländer des Balkons, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

'Dich brauche ich nicht mehr,' hallten die Worte des flammenden Auges noch immer in seinen Gedanken. '...brauche ich nicht mehr... brauche ich nicht mehr'

„Aber ich hätte dich gebraucht," schrie er verzweifelt in die Weite hinein und kam sich so klein und unbedeutend vor, dass es ihm vor sich selbst ekelte. „Du solltest mein Werkzeug zur Vergeltung sein. Nur für dich, für deine Macht, habe ich alles ertragen, habe zugelassen, dass sie mich quälten, bis ich tat, was sie sagten, bis ich schließlich wie sie zu denken begann. Bis ich sie WAR! Und wofür?"

Natürlich gab die Nacht ihm keine Antwort, und er hatte auch nicht wirklich eine erwartet. Es war vorbei. Für immer. Die Macht, auf die er so lange und mühevoll vorbereitet worden war, war ihm durch Aradoran und diesen Verräter vorenthalten worden. Nun war er lediglich der Herrscher dieser elenden Stadt, dieser elenden Menschen.

Er war der Herr über sein eigenes elendes Leben, nicht mehr!

Es widerte ihn an, doch noch weitaus mehr widerte ihn das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit, die Erkenntnis der eigenen, endgültigen Niederlage an.

Er hatte gelebt für den Augenblick, in dem er an seinen Lehrmeistern entsetzliche Rache für den Mord an seinen Eltern üben wollte, die man vor seinen Augen getötet hatte, um auch seine letzten Bande an sein altes Leben zu zerschneiden. Die Augen des Knaben hatten mitansehen müssen, wie das Leben aus den Körpern seiner Eltern floß und sich in einer riesigen roten Lache auf dem blankgeputzten Boden der Zeremonialhalle verteilte, während erbarmungslose Hände den schreienden, strampelnden, tretenden, beißenden und bettelnden Sechsjährigen festhielten. Dann hatte sein eigenes Martyrium begonnen.

Unter Schlägen hatte er gelernt, zu gehorchen. Schreckliche Strafen für die kleinsten Verfehlungen lehrten den Jungen, sich zu beugen; zunächst unter Zwang, dann aus Gewohnheit, bis jener Zeitpunkt kam, an dem es „normal" für Gomar war, so zu handeln, wie es seine Lehrmeister taten und auch von ihm erwarteten.

Als er das erste Mal selbst ein Leben genommen hatte, wäre er fast dem Hochgefühl dieser neuen, bisher ungekannten Macht erlegen. Es war ein Rausch, der sich jedem Begriffsvermögen entzog und jede bisher gekannte Grenze sprengte. Er hatte die Befriedigung in den Augen seiner Lehrmeister gesehen – und das hatte ihn ernüchtert.

Von jenem Moment an hatte er getötet, ohne sich eine Emotion zu gestatten – stets mit dem Bild seiner sterbenden Eltern vor Augen und dem stummen Schwur im Herzen, dass eines Tages seine Lehrmeister das gleiche Schicksal ereilen würde.

Durch seine Hand!

Doch nun hatte dieser Gefangene aus dem Norden ihm jede Möglichkeit genommen, seinen Schwur zu halten. Seine Lehrmeister waren noch immer viel zu mächtig, als dass er sie töten konnte.

„Es tut mir leid," flüsterte er in die Nacht hinein und hoffte, dass seine Worte den Weg zu seinen Eltern fanden. „Ich kann nicht mehr tun, was ich euch versprach. Nehmt diesen neuen Schwur als Ersatz: Ich schwöre, ich werde diese beiden jagen und zur Strecke bringen, und wenn es den Rest meines Lebens dauert. Sollten ihnen die Flucht gelingen, werde ich ihnen folgen und sie suchen, bis ich sie aufgespürt habe. Man hat mir meine Familie und mein Leben genommen. Dafür werde ich ihnen erst die Familie und dann ihr eigenes Leben nehmen. Nicht ein Tropfen Blut soll unvergossen bleiben, so wie auch kein Tropfen eures Blutes unvergossen blieb. Sie sollen leiden, wie ihr gelitten habt. Wie ich litt!"

Plötzlich hob er den Kopf und starrte an die Stelle, an der vor kurzem noch die drei Sterne wie ein eigenes Versprechen geleuchtet hatten.

„Mir ist vielleicht die Macht eines Dunklen Istari genommen worden, doch nun habe ich etwas, das sie mir ersetzen wird: meinen Hass!"

Seine Züge spiegelten die Emotionen wider, die bei diesen Worten in seinem Inneren tobten...

...so wie sie es auch jetzt taten, wie sie es jedesmal taten, wenn Gomar sich mit Sytharm zu betäuben versuchte.

Morag stand noch immer neben dem Lager seines Herrn und sah, wie dieser sich unter den Traumbildern hin und her wand. Es war ein Anblick, der sich ihm schon unzählige Male geboten hatte, doch vielleicht – so hoffte Morag – bewirkte die Gefangennahme des Verräters, dass es dieses Mal das letzte Mal war, dass Gomar sich so quälen musste.

Vorsichtig entfernte er die sichtbaren Waffen aus der unmittelbaren Reichweite seines Herrn, während er insgeheim die Hände Gomars im Auge behielt, die auch ohne jede Waffe blitzschnell töten konnten. Dann beugte er sich zu ihm nieder und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter.

„Wacht auf. Ihr müsst aufwachen..."

Gomar erwachte so übergangslos, dass Morag beinahe zurückprallte, als sich der sytharmverschleierte Blick seines Anführers sich förmlich in ihn bohrte. Für einen Moment fühlte er sich wie ein Insekt, das die tödliche Hand bereits auf sich zu rasen sieht, und es kostete ihn alle Willenskraft, sein Unbehagen nicht sichtbar werden zu lassen.

„Wenn du jetzt keinen guten Grund hast, mich zu wecken..." knurrte Gomar drohend, verstummte aber, als er den seltsam zufrieden wirkenden Ausdruck in Morags Antlitz wahrnahm. „Was ist?"

„Wir haben ihn, Herr," erwiderte Morag und konnte die Genugtuung weder aus seinen Worten noch aus seinem Wesen verdrängen.

Irritiert runzelte Gomar die Stirn und richtete sich auf. „Wen? Wen habt ihr?"

„Den Verräter Be'Nat Rivar'Odan, nach dem wir seit über zwanzig Jahren suchen. Er ging uns nicht weit von hier ins Netz..."

„Wo?" Mit einem Schlag waren die Nachwirkungen des Sytharm verflogen und Gomar auf den Beinen, während er bereits nach seinen Waffen suchte. „Wo ist er?"

„Draußen, Herr," antwortete Morag und hielt die Zeltbahn zur Seite, die den Eingang verdeckte. Bereits von hier aus war die Gestalt Rivars deutlich zu erkennen, die vom Schein vieler Fackeln beleuchtet wurde. Die beiden von Morag beauftragten Krieger hatten ihn an einen in der Mitte des Lagers stehenden Baum gefesselt und sich dann rechts und links daneben postiert.

Morag war an die Seite getreten, hatte seinen Anführer jedoch beobachtet. Als er sah, in welch unheilverkündendem Feuer Gomars dunkle Augen nun zu glühen begannen, rann ihm ein Schauer über den Rücken. Schon oft hatte er seinen Herrn wütend bis zur Raserei und gar bis zum Mord gesehen, doch zu keiner Zeit hatte er jene Finsternis in dessen Blick wahrgenommen, die nun darin Gestalt annahm.

„Wo habt ihr ihn gefunden?" Gomars Stimme war kalt wie Eis.

„Nur einige Stunden von hier, auf dem Rückweg aus der Stadt, begegnete er uns," antwortete Morag und zog es vor, die „Bestrafung" seines Untergebenen vorerst nicht zu erwähnen. Dafür war später immer noch Zeit. Später, wenn Gomar seine Rache bekommen hatte.

„Wie lange habe ich darauf gewartet!" vernahm Morag das Flüstern seines Herrn. „Endlich, endlich kommt meine Stunde..."

Morag schwieg und Gomars Augen wurde zu schmalen Schlitzen. „Was wieder einmal beweist, dass es sich auszahlt, wenn man seinen Leuten ab und zu ihren Spaß gönnt. Ich denke, dann ist es jetzt auch für mich an der Zeit, mir ein bisschen ... Spaß ... zu gönnen."

Ohne Morag noch eines Blickes zu würdigen setzte Gomar sich in Bewegung und ging direkt auf Rivar zu. Er blieb erst stehen, als ihn und den gefesselten Mann nur noch eine Armesspanne trennte.

Der hinter ihm liegende gnadenlose Marsch hatte Rivar völlig entkräftet. Er hatte nicht einmal mehr genug Kraft, den Kopf zu heben, als sich ihm schließlich jemand näherte und dann vor ihm stehenblieb.

„Begegnen wir uns also endlich wieder," ertönte eine Stimme, die er nie mehr hören zu müssen gehofft hatte. Gomars Stimme. Er hätte sie unter Tausenden wiedererkannt. „Nach all den Jahren finde ich dich schließlich doch noch, Verräter! Willst du mich zur Begrüßung nicht wenigstens ansehen?"

Eine Hand packte seine Haare und riss seinen Kopf brutal so weit in die Höhe, dass er Gomar ins Gesicht sehen musste.

„Na also, das ist doch schon besser!" Gomars beiläufig klingender Tonfall wurde erst durch den Hass auf seinen Zügen zu einer schrecklichen Bedrohung.

„Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich danach gesehnt habe, dich wiederzusehen. Doch, wirklich!"

Gomar riss Rivars Kopf an den Haaren ruckartig so weit nach hinten, dass er hart gegen den Baumstamm schlug. Helle Punkte tanzten wie Glühwürmchen vor den Augen des Einsiedlers, der Mühe hatte, ein schmerzerfülltes Stöhnen zu unterdrücken.

„Nanu? Diesmal bist du wohl nicht so gesprächig wie bei unserem letzten Zusammentreffen, oder? Die Kälte hier im Norden scheint dich ungesellig und stumm gemacht zu haben."

Ein zartes Lächeln kroch über Gomars Lippen, doch es war das Lächeln einer giftigen Viper, kurz bevor sie zubiss: das schöne Äußere konnte die Tödlichkeit dahinter nicht verbergen.

„Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir ein paar von deinen alten Manieren wieder hervor zaubern können."

Er sah sich suchend im Lager um, dann winkte er einige Krieger heran und deutete auf zwei Bäume, die verhältnismäßig dicht nebeneinander standen.

„Ihr zwei biegt jeweils einen der Äste herab. Achtet darauf, dass sie sowohl stark wie auch biegsam genug sind. Und ihr zwei fesselt seine Arme an diese Äste. Die Füße verankert ihr am Boden. Wir wollen doch nicht, dass es unseren Gast vor der Zeit vor Spannung zerreißt, oder?"

Stumm beobachtete Gomar, wie seinen Befehlen hastig Folge geleistet wurde. Nach einigen Minuten war alles so, wie er es angeordnet hatte. Mit spielerischer Langsamkeit trat er an den nun quasi in die Luft gespannten Rivar heran. Nun musste er dessen Gesicht nicht einmal mehr anheben, um die Emotionen des Einsiedlers studieren zu können. Der Zug der beiden Äste hob Rivar in die Luft, soweit es der eng erst um die Fußgelenke und dann um eine Wurzel geschlungene Strick zuließ.

„Ich sehe, jetzt bist du..." Er grinste verächtlich. „...ebenso gespannt, wie ich es all die Jahre hindurch war, dich wiederzusehen."

Rivar würdigte ihn keiner Antwort. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, gegen den Schmerz anzukämpfen, der durch die straff zur Seite gebundenen Arme hindurch in seinen Körper floß und mit schier unerträglicher Qual erfüllte.

„Nun musst du nur noch deine Sprache wiederfinden." Gomar hob mit einer Fingerspitze Rivars Kinn leicht in die Höhe. Der presste entschlossen die Lippen zusammen. Weder ein Wort noch ein Schmerzenslaut würde über sie kommen, solange er es verhindern konnte.

„Nicht?" Gomar nickte, als hätte er nichts anderes erwartet, und trat zurück. „Glaube mir, noch ehe die Nacht vorbei ist, hast du mir alles gesagt, was ich wissen will. ALLES! Ohne Ausnahme."

Rivar sah auf, bis er Gomars Blick begegnete, dann schüttelte er den Kopf. Langsam. Schweigend. Entschlossen. Wie ein Versprechen. Auch, wenn dies die vermutlich längste Nacht seines Lebens sein würde und vielleicht sogar die letzte: er hatte geschworen, Arathorns Sohn zu schützen, und er würde sterben, um diesen Schwur zu halten...

***

wird fortgesetzt

Die an dieser Stelle üblichen Bemerkungen zu den einzelnen Reviews werden in Zukunft entfallen. Trotzdem sollt ihr wissen, dass wir für jede einzelne Review dankbar sind und sie ans Ende unserer gebundenen Geschichten setzen, um uns unserer treuen Leser immer zu erinnern.

ManuKu & Salara