Wir haben wieder ein „paar" Seiten für Euch in die Tastatur gehauen und hoffen, dass ihr trotz der längeren Wartezeit immer noch bei uns seid.

Einige von euch sind vielleicht ebenso wie Nili darüber gestolpert, dass Gomar gar kein richtiger Istari werden kann, da nur die Valar in der Lage sind, Istari zu erschaffen. Das ist auch richtig und genau darin liegt die Tragik in Gomars Geschichte, die wir anscheinend nicht eindringlich genug erzählt haben.

Sauron wurde durch Isildur seines Ringes und damit seines Körpers und seiner Macht beraubt. Doch sein Geist war unermüdlich damit beschäftigt, sich wieder eine neue Hülle zu beschaffen. Wie gut er in der Lage ist, Menschen allein mit seiner Stimme zu manipulieren, haben wir ja an Frodo gemerkt.

Hätte das Ritual funktioniert, dass wir uns ausgedacht hatten, wäre Gomar nichts weiter als eine willenlose Marionette Saurons gewesen, ähnlich den Goa'uld in Stargate...

Bevor wir uns jetzt unserer neu entfachten Stargate - Begeisterung hingeben ( Danny kommt zurück... Yeeeeeha!!!!! ) überlassen wir euch lieber dem nächsten Kapitel. Doch eins sei noch gesagt – im nächsten Kapitel erreicht Legolas endlich Bruchtal und dann geht es Schlag auf Schlag...

___________________________________________________________________________

Schuld und Sühne

von:
Salara und ManuKu

___________________________________________________________________________
 
~TEIL 16~

Elladan hatte nicht lange überlegen müssen, sondern war mit Nolana auf das nächstverfügbare Gästezimmer zugesteuert. Während er beruhigend auf das Kind einredete, schob ein Stück weiter der verschlafen wirkende Elrohir den Kopf aus seinem Zimmer. Das Stimmengemurmel auf dem Gang hatte ihn geweckt, doch als er jetzt das Menschenkind an der Hand seines Zwillingsbruders erblickte, war seine Müdigkeit schlagartig verflogen. Er trat in den Gang und sah Elladan mit fragendem Gesichtsausdruck an, doch der schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Nicht jetzt, war die Botschaft und Elrohir verstand. Sein Blick wanderte zu Nolana.

„Nanu, wenn haben wir denn hier? Noch dazu um diese späte Stunde?"

Er lächelte das Mädchen an, das – erneut völlig verunsichert – stehenblieb und fassungslose Blicke zwischen ihm und Elladan hin und her schickte. Nicht nur, dass sie nun ausschließlich von Elben umgeben war; nun standen plötzlich gleich zwei von ihnen da – und die beiden sahen sich auch noch zum Verwechseln ähnlich, fast wie Spiegelbilder. Für den Verstand der übermüdeten Siebenjährigen, die zuvor weder Elben noch Zwillinge gesehen hatte, war das einfach zuviel. Sie ließ Elladans Hand los und schob sich scheu hinter ihn, während sie Elrohir nicht eine Sekunde aus den Augen ließ.

„Hab keine Furcht, Nolana. Das ist mein Bruder Elrohir." Elladan strich dem Kind sachte über das Haar. „Er wird dir etwas zu essen holen, während ich dir dein Zimmer zeige. Einverstanden?"

„Hmm." Nolana nickte unschlüssig, doch sie schien längst nicht so beruhigt, wie Elladan sie gern gesehen hätte.

„Was ist denn? Du hast doch keine Angst vor ihm, oder?" Er beugte sich zu ihr hinab und sah sie an.

„Er sieht aus wie du..." flüsterte sie schließlich.

„Ja, das sollte er wohl auch," schmunzelte Elronds ältester Sohn verstehend und hob das Kind kurzentschlossen auf seine Arme. „Wir sind nämlich Zwillinge, weißt du. Zwillinge sehen sich so ähnlich, dass nur ganz Wenige sie auseinanderhalten können. Aber das erklären wir dir morgen. Jetzt wird es höchste Zeit zum Schlafen."

Er streckte eine Hand aus und hielt Elrohir an, der gerade an ihnen vorbei auf die Treppe zugehen wollte, um etwas zu essen für Nolana zu holen.

„Vielleicht findest du ja auch noch irgendwo eines von Arwens alten Nachtgewändern. Ich denke, in diesem Kleid hier..." Er lächelte das Mädchen kurz an. „...schläft es sich nicht besonders gut."

„Ich werde sehen, was ich finden kann." Elrohir nickte und lächelte das Kind vorsichtig an, das ihn schweigend und mit großen Augen betrachtete, während ihr Kopf ganz langsam und von ihr unbemerkt Elladans Schulter entgegensank. Sie würde der Müdigkeit nicht mehr lange widerstehen können. Die Brüder tauschten einen vielsagenden Blick. „Ich werde mich beeilen."

Elladan wandte sich in den abzweigenden Gang, während Elrohir nachdenklich zur anderen Seite starrte. In der nächtlichen Dämmerung zeichnete sich dort am Ende des Korridors schwach die Tür zu Aragorns Räumen ab. Kein Laut verriet, dass er ebenfalls geweckt worden war.

Dass Estel bei dieser Unruhe nicht aufgewacht ist... Er schüttelte erstaunt den Kopf. Er hat doch sonst einen so leichten Schlaf.

Elrohir beschloss, einen Blick in Aragorns Zimmer zu werfen, ehe er nach unten in die Küche ging.

Mit ein paar schnellen Schritten war er an Aragorns Zimmertür. Lautlos öffnete er sie einen Spalt breit – gerade so weit, dass er das Bett sah. Die schwache Beleuchtung durch das langsam verglimmende Kaminfeuer im Raum genügte seinen scharfen Augen jedoch. Elrohir hatte keine Schwierigkeiten, die Gestalt Aragorns auszumachen. Sein menschlicher Bruder hatte mehrere Decken über sein Bettzeug ausgebreitet und sich selbst unter den gesammelten Schichten vergraben. Lediglich ein Arm lag auf den Decken.

Nicht zu fassen. Elrohir schüttelte erstaunt den Kopf. Er schläft wie ein Murmeltier. Dann wird er die Ruhe wohl brauchen. Ich werde ihn schlafen lassen. Morgen früh ist noch genug Zeit, ihm alles zu erzählen...

Er schloss vorsichtig wieder die Tür, nicht ahnend, dass sein menschlicher Bruder nicht schlafend, sondern bewusstlos in seinem Bett lag.

***

Aragorns Rückkehr ins Bewusstsein wurde von heftigen Schmerzen, einer wie ausgedörrt wirkenden Kehle und dem Gefühl alles verzehrender Hitze begleitet. Er hatte es sehr schwer, sich durch den dicken Nebel zu kämpfen, der jeden Gedanken einzufangen schien, und es dauerte eine ganz Weile, bis er in der Lage war, seine Augen wenigstens einen Spalt breit zu öffnen.

Es war dunkel. Lediglich ein schwacher Lichtschein, den sein vom Fieber verzehrter Sinn nicht als das Glimmen des Kaminfeuers einzuordnen vermochte, lag über den Wänden.

Was... ist mit mir...

Er wollte sich erinnern, doch die Geschehnisse der letzten Stunden blieben für ihn nur schwer greifbar. Orientierungslos irrte sein Blick durch den Raum, der irgendwie seltsam gebogene Wände zu besitzen schien. Die Art, in der sie sich ihm entgegen streckten, um gleich darauf wie von einem Strick gezogen zurückzuschnellen, war bestens dazu angetan, Übelkeit aufkommen zu lassen. Es dauerte kaum eine Minute, bis Aragorn leise stöhnend die Augen schloss.

Wenn ich sie nicht mehr ansehe, geht es vorbei...

Es war ein Irrtum, denn die Übelkeit blieb.

Noch nie zuvor hatte er sich so krank gefühlt wie in diesem Augenblick. Fiebrige Hitze füllte ihn aus und ließ wahre Sturzbäche an Schweiß über sein Gesicht in die Augen rinnen, die wie Feuer brannten. Schmerz pochte in seinem Kopf und in seinem Körper, doch schlimmer noch als dort war die Pein in seinem Fuß. Es fühlte sich an, als drehte ein besonders gnadenloser Folterknecht ein glühendes Eisen wieder und wieder darin herum.

Der Fuß?

Plötzlich begriff er. Zu denken, dass die Heilkräuter genügen würden, um den Schnitt zu behandeln, war ebenso eine Fehleinschätzung gewesen wie die Erleichterung über den nachlassenden Schmerz am Morgen. Nicht eine beginnende Besserung war dadurch angezeigt worden, sondern eine weitaus ernstzunehmendere Verschlimmerung.

Wie konnte ich nur so einfältig und sorglos sein?

Sein Stolz hatte ihn die Sache auf die leichte Schulter nehmen lassen und dazu gebracht, alles vor seiner Umgebung zu verbergen. Jetzt bezahlte er den Preis für diese Dummheit!

Etwas in ihm, eine unbestimmte Vorahnung, flüsterte, dass er keine Zeit mehr verlieren durfte, sondern sich auf den Weg zu Elrond machten musste.

Reiß dich zusammen, es sind doch nur ein paar Schritte...

Er biss die Zähne zusammen, schob die Decken eine nach der anderen zur Seite, wälzte sich dann auf die Seite herum, wo er sich zuerst auf einen Ellbogen und dann schließlich in eine sitzende Position hochstemmte.

Sein Atem ging keuchend und stoßweise und die Kehle war so wund, dass sie sich wie mit Baumrinde ausgekleidet anfühlte, doch Aragorn bemühte sich, weder auf diesen Schmerz noch auf das Hämmern hinter seiner Stirn oder in der Fußsohle zu achten. Langsam und gegen die immer wieder hochkommende Übelkeit ankämpfend, schob er die Beine über den Bettrand auf den Boden, deren Kühle seiner Pein für einen Augenblick Linderung verschaffte, dann krallte er die Hände um das geschwungene Kopfteil seines Bettes und zog sich daran in die Höhe, bis er stand.

Die Welt schwankte, als wäre sie aus den Angeln geraten.

Erst einmal hatte sie sich so um ihn gedreht, nur dass damals ein Übermaß an heimlich getrunkenem Wein dafür verantwortlich gewesen war. Zu jener Zeit hatte er seine Unvernunft mit einem denkwürdigen Kater und einer langen Standpauke Elronds bezahlt. Diesmal, so ahnte Aragorn, würde er nicht so einfach davonkommen. Vorausgesetzt, er schaffte den Weg zu den Gemächern seines Pflegevaters überhaupt.

Schweißüberströmt, mit gesenktem Kopf und unsicheren Bewegungen begann er sich am Bett entlang zu tasten, doch schon der erste Schritt drohte, ihm das Bewusstsein erneut zu rauben. Der Schmerz, der von seiner verletzten Fußsohle in den Körper emporschoss, übertraf an Intensität alles, was er bislang je erduldet hatte – die vor ein paar Monaten von den Zwergen zerschmetterte Schulter eingeschlossen. Es war, als liefe er auf der Spitze eines Dolches, der sich mit jedem Schritt ein Stück tiefer in ihn hineinrammte.

Ohne seinen Halt um den Bettpfosten zu lockern beschränkte Aragorn sich also darauf, nur noch die Zehen des verletzten Fußes auf den Boden zu setzen. Das nahm den Schmerz zwar nicht fort, hielt ihn jedoch in jenem Bereich, den zu ertragen er gerade noch in der Lage war.

Aragorn war bereits am Ende seiner Kraft, als er nach einer endlos scheinenden Zeit schließlich die Tür seines Zimmer erreichte. Erschöpft lehnte er sich gegen die Wand und schloss die Augen. Er war schweißüberströmt und das Herz in seinem Brustkorb hämmerte wie nach einem wilden Lauf und nahm ihm dabei fast den Atem.

Wie soll ich das nur schaffen?

Er wartete, bis sich der Herzschlag wieder etwas beruhigt hatte, dann öffnete er die Tür, die lautlos nach innen aufschwang. Verbissen schob er sich über die Schwelle in den Gang, der sich – nächtlich schwach beleuchtet – ruhig und verlassen vor ihm ausbreitete. Bruchtal schien in tiefem Schlaf zu liegen.

Jeden überflüssigen Gedanken zur Seite schiebend konzentrierte er sich ausschließlich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, während er sich unendlich langsam an der Korridorwand entlang vorwärts tastete.

Jeder Schritt kostete ihn enorme Überwindung und ließ den Weg ein Stück länger erscheinen.

Als die Umgebung das erste Mal vor seinen Augen zu verschwimmen begann, schob Aragorn es auf das trübe Licht im Gang, schüttelte den Kopf und humpelte weiter.

Als sein Blick das zweite Mal unscharf wurde, lag die mit wunderschönen Schnitzereien verzierte Tür zu Elronds Räumen bereits in so greifbarer Nähe vor ihm, dass er nur noch die Hand auf die Klinke zu legen und sie herunterzudrücken brauchte.

Als die Welt gleich darauf zum dritten Mal unscharf wurde und sich ein weiteres Mal um ihn zu drehen begann, gab es nichts mehr, was sein kranker, fiebernder Körper entgegenzusetzen hatte.

Ein letzter Schritt führte ihn hinein in einen Raum, der sich bereits keine Konturen mehr zu haben schien. Wie in Zeitlupe löste sich seine Hand von der Klinke.

„Vater..." flüsterte er und verstummte dann. Es war keine Kraft mehr zum Reden übrig.

Für eine kurze Sekunde schien die Zeit wie eingefroren, dann spürte Aragorn, dass seine Beine nachgaben. Er fiel in die auf ihn wartende Finsternis und sah nicht mehr, wie der völlig entgeisterte Elrond auf ihn zu kam, um ihn aufzufangen...

***

Gomar hatte zwar gewußt, dass der Zorn über den Jahren der ergebnislosen Suche langsam und stetig sein Denken vergiftete, doch erst jetzt, da sich der Verräter Be'Nat Rivar'Odan wirklich in seiner Hand befand, spürte er das volle Ausmaß der angestauten Wut. So oft hatte er sich diesen Moment ausgemalt und jede Einzelheit geplant, doch all das wurde nun von einer gerade Welle der Rachsucht verschlungen. Tausend Stimmen schrieen in seinem Kopf durcheinander, und alle verlangten das Gleiche: Vergeltung! Grausame, langsame Vergeltung für das Leben, das diese beiden ihm mit ihrer Tat unmöglich gemacht hatten.

Das Lager der Südländer war von einer fast greifbaren Spannung erfüllt. Die Krieger hatten sich ausnahmslos um die beiden Bäume herum versammelt, zwischen deren starke Äste man den Verräter gespannt hatte.

Morag, der ein paar Schritte hinter Gomar stand, sah, wie dessen Körper unmerklich bebte. Er konnte die Anspannung in seinem Anführer förmlich spüren, denn sie schien in Wellen von ihm fort auf die Männer auszustrahlen. Die Erwartung auf den Gesichtern der Krieger verriet, dass sie für all die Jahre der Mühsal und Entbehrung mit einem besonderen Schauspiel entlohnt zu werden meinten.

Gomar schenkte seinen Leuten indes nicht die geringste Beachtung. Er war nun so dicht vor seinem Ziel, dass kein Platz mehr für Gedanken an andere war.

„Ich sehe dir an, was du gerade denkst." Gomar packte Rivars Kinn und drückte dessen Kopf grob hoch. „Du erwartest, dass ich dich von meinen Männern foltern lasse, es womöglich sogar selbst tue, um dich zum Sprechen zu bringen. Und ich sehe deine Entschlossenheit, eher zu sterben als mir zu sagen, wo ich den anderen, diesen Aradoran, finde."

Rivar schwieg, doch seine grünen Augen waren mehr denn je voller Entschlossenheit.

„Ich weiß, dass du glaubst, alle Qualen zu kennen, die wir dir zufügen könnten. Aber soll ich dir etwas verraten?"

Ein böses Lächeln kroch über Gomars Züge.

„Du weißt gar nichts."

Ohne seinen Gefangenen loszulassen, wandte er sich an Morag. „Hol die Schatulle aus meinem Zelt. Du weißt, wo du sie findest."

Rivar hatte unterdessen die Zähne zusammengebissen, um sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen, der sich wie Feuer durch seinen Körper fraß. Dennoch gelang es ihm nicht, seine Miene so unbewegt wie gewünscht zu halten. Die groben Stricke der Fesseln schnitten tief ins Fleisch und rissen die Haut an Hand- und Fußgelenken qualvoll langsam auf, und der Zug der Äste drohte seine Schultergelenke fast auseinander zu reißen.

Als Gomar sein Kinn schließlich fahren ließ und dabei den Kopf Rivars erneut brutal nach hinten stieß, entfuhr dem alten Mann ein leises Stöhnen, denn die Bewegung ließ den Schmerz erneut aufflammen.

Dieser unterdrückte Laut ließ so etwas wie Belustigung über die Züge des Südländers huschen. Er bedeutete dem gerade zurückkommenden Morag, die mitgebrachte Schatulle zu öffnen. Gomars Rücken verdeckte Rivar den Blick, doch als sich der Südländer ihm wieder zuwandte, trug er einen Handschuh an der rechten Hand. Es war kein gewöhnlicher Handschuh, wie man ihn bei Kriegern, Reitern oder zum Schutz gegen Winterkälte fand. Es war ein aus stabilen, dicken Lederschichten gefertigtes Exemplar, das starr und unbeweglich wirkte, als wäre es aus Stein gefertigt.

„Bringt eine Pechfackel!"

Während ein Krieger Gomar das Gewünschte hinhielt, zog dieser sich einen zweiten Handschuh über den ersten. Dieses Exemplar bestand aus fein gearbeiteten Metallplättchen, die untereinander mit Drähten aus demselben Material verbunden waren. Auf der Unterseite dieses Metallgebildes waren scharfkantige Spitzen aus demselben Material angebracht. Trotz des filigranen Anblicks wirkte dieser Handschuh überaus gefährlich.

„Du glaubst also wirklich, du wüsstest, was ich dir alles antun könnte, habe ich Recht?"

Rivar hatte sich geschworen, kein Wort zu sagen, daher presste er abweisend die Lippen zusammen, doch der Anblick dieses Gebildes ließ ihm kalte Schauer über den Rücken rinnen. Er hatte sich seit seiner Gefangennahme vor dem Moment gefürchtet, in dem man ihn zu foltern beginnen würde, doch plötzlich wurde daraus pures Eis, das sich um sein Herz zu legen schien. Tief in ihm erwachte eine Ahnung, dass ihm weitaus Schlimmeres bevorstehen mochte, als er je gesehen hatte.

Gomar war Rivars Trotzreaktion nicht entgangen, doch er lächelte nur kalt, wohlwissend, dass er derjenige war, der die Kontrolle besaß.

„Entfernt sein Hemd."

Mit raschen Bewegen hatten zwei Krieger Rivar die Tunika vom Körper geschnitten. Empfindlich kühle Nachtluft strich über die bloße Haut des alten Mannes.

„Da ist sie ja."

Die Fingerspitzen von Gomars bloßer linker Hand tanzten kurz über die Kreuzpfeilnarbe auf Rivars Schulter. „Ich sah deutlich, dass einer der Pfeile dich traf. Seit ich die Südlande verließ, um euch zu finden, hielten meine Krieger nach dieser besonderen Pfeilnarbe Ausschau. An ihr, so wusste ich, würden auch sie dich erkennen. Wie lange habe ich bedauert, dass dieser Pfeil dich damals nicht tötete. Jetzt jedoch..."

Ein boshaftes Lächeln umspielte Gomars Züge.

„...jetzt jedoch bin ich froh darüber. Auf diese Art ist es mir möglich, eine Vergeltung zu üben, die sich so noch keines Lebewesen Sinn je erdachte."

Eine Empfindung, die bereits weit jenseits des Zorns rangierte, ließ die ohnehin dunklen Augen des Südländers nun fast schwarz erscheinen.

„Noch ehe ich mit dir fertig bin, wirst du den Tag bedauern, an dem dieser Pfeil dir dein Leben ließ!"

Rivars trotziges Schweigen heizte die Erbitterung des Südländers nur noch weiter an.

„Wenn du wirklich glaubst, du wüsstest, was dir bevorsteht, dann werde ich dich gleich eines Besseren belehren. Wie ich schon sagte: du weißt nichts. Gar nichts. Du weißt nichts über das Schicksal, das mir vorherbestimmt war, nichts vom Ausmaß der Macht, die ihr mir für immer genommen habt. Dieses erbärmliche Leben, das ich nun führe, das diesen Namen gar nicht verdient, verdanke ich dir und diesem Aradoran. Hast du eine Vorstellung davon, wie es ist, sich täglich aufs Neue daran erinnern zu müssen, was einem genommen wurde?"

Er winkte den Krieger mit der Fackel näher heran und hielt dann den Handschuh in die Flamme. Das Leder schien auf besondere Art behandelt worden zu sein, denn es zeigte kein Anzeichen, vom Feuer angegriffen zu werden, doch das dünne Metallgeflecht darüber begann sehr schnell zu glühen.

„Ich werde dir sagen, wie es sich anfühlt, um alles betrogen worden zu sein und dennoch weiterleben zu müssen."

Mit einer raschen Bewegung zog Gomar die Hand aus der Flamme und presste die nun glühenden Metallspitzen der Handfläche in Rivars rechte Seite. Es zischte kurz, während ein übelkeitserregender Geruch nach verbranntem Fleisch aufstieg. Gegen seinen Willen begann der alte Mann zu stöhnen.

„So fühlt es sich an, wenn man begreift, was man verloren hat."

Erneut hielt er das Metall in die Flamme. Als es wiederum glühte, presste er die mit gewölbten Metallplättchen besetzten Fingerkuppen auf die Bauchgegend Rivars, der nun gepeinigt aufschrie, während sich die Brandmale in seine Haut gruben.

„Und dort schmerzt die Wut, der man Tag für Tag ohnmächtig ausgeliefert ist, der man jedoch genauso wenig entkommt, wie du mir jetzt."

Ein drittes Mal hielt er den Handschuh in die Fackelflamme, doch sein Blick fixierte Rivar, der zu schreien aufgehört hatte und stattdessen nur noch vernehmlich keuchte. 

„Am schlimmsten jedoch ist das Wissen. Vor nichts fürchtet sich ein Mensch mehr als vor den Dingen, denen er nicht entgehen kann. Als die Fluten den Palantir und damit auch meine Zukunft verschlungen hatten, zerriß es mir fast das Herz, zu wissen, dass nichts, was ich tun würde, mich noch zu dem machen konnte, was ich eigentlich sein sollte."

Er warf einen raschen Blick auf den Handschuh, dessen Metall inzwischen erneut glühte.

„Weißt du, wie das ist, wenn das Herz ganz langsam stirbt?"

Ja, dachte Rivar, hob den Kopf und sah Gomar in die Augen. Die Panik vor dem, was gleich geschehen mochte, war nun beinahe übermächtig und spiegelte sich deutlich im heftigen Heben und Senken seines Brustkorbs wider. Ich kenne es besser, als du ahnst. Doch genau das werde ich dir niemals verraten...

 „Es fühlt sich so an."

Ohne den Blickkontakt zu seinem Opfer zu unterbrechen, zog Gomar den Handschuh aus der Flamme und bohrte die glühenden Metallspitzen in Rivars Brust, genau dorthin, wo das Herz des alten Mannes schlug. Mit aller Kraft presste Gomar das Metall an und in die ungeschützte Haut.

Die Stricke, die den Einsiedler in der Luft hielten, waren so straff gespannt, dass ihm nur noch Kopfbewegungen möglich waren, doch selbst dafür reichte die Kraft des alten Mannes nicht mehr aus. Er ließ seinen Kopf kraftlos nach hinten fallen, als er qualvoll aufschrie – ein Laut, der Balsam für den Rachedurst des Südländers war.

Nach Unendlichkeiten, wie es dem schon halb bewusstlosen Rivar schien, wurde das Metall wieder entfernt, doch das Brennen blieb auf seiner Haut und gesellte sich zu dem flüssigen Feuer, das die Fesseln bereits durch seine Glieder schickten.

„Nun, wie ist das?"

Gomars Stimme war dicht vor ihm, doch noch ehe Rivar den Versuch unternehmen konnte, den Kopf selbst zu heben, wurde dieser erneut von hinten heftig hochgerissen. Sein Blick traf Gomar, der gerade den Leder-Metall-Handschuh in die offene Schatulle zurückfallen ließ.

„Man möchte sterben, um diesem Gefühl zu entkommen, nicht wahr?"

Diesmal erwartete Gomar offenbar keine Antwort von Rivar, denn er fuhr gleich darauf fort.

„Aber ich kann ihm seit damals nicht entkommen, und du wirst es auch nicht, glaub mir. Ich könnte zwar noch stundenlang so weitermachen, ohne dass du das Bewusstsein gänzlich verlierst, doch diese Geduld habe ich jetzt nicht. Ich will jetzt nur eines von dir wissen: WO IST ARADORAN?"

Es war schon eine vertraute Geste: Rivars Kopfschütteln.

Wiederum wirkte Gomar nicht im mindesten überrascht, denn er nickte leicht und begann erneut in seiner Schatulle zu kramen. Nach einigen Momenten hatte er das Gesuchte offenbar gefunden, denn er kehrte zu Rivar zurück und baute sich vor ihm auf. In der rechten Hand hielt er einen kleinen Leinenbeutel.

„Ich dachte mir schon, dass du so reagieren würdest und habe deshalb etwas bei mir, das deine Meinung innerhalb kürzester Zeit ändern wird."

Behutsam zog er eine Phiole aus dem Beutelchen. Sie war aus dickem, durchsichtigen Glas und mit einer grünlich schillernden Flüssigkeit gefüllt.

„Weißt du, wenn man wie ich gezwungen ist, viele Jahre fernab seiner Heimat zu verbringen, ohne dorthin zurückkehren zu können, hat man zwei Möglichkeiten. Entweder man richtet sich dort ein neues Leben ein – etwas, das ich HIER niemals tun würde – oder man verzweifelt an dieser Situation. Hier stellten sich mir nun wieder zwei Möglichkeiten. Ich konnte mir entweder das Leben nehmen oder mich Tag für Tag so betrinken, dass ich nicht mehr über mein Schicksal nachdenken musste. Wie du siehst, bin ich noch hier, was bedeutet, dass ich mich für das Trinken entschied, um vergessen zu können. Doch von berauschenden Getränken zu stärkeren Drogen war es irgendwann nur noch ein kleiner Schritt. Ich begann zu experimentieren, um ihre Wirkung weiter zu verstärken. Dabei stieß ich dann zufällig auf das hier."

Er hielt die Phiole hoch, deren Inhalt im Fackelschein funkelte.

„Eigentlich sollte dieses Mittel mich meinen Schmerz vergessen lassen. Nun ja, statt dessen..."

Er lächelte, doch es war eher eine Grimasse.

„...statt dessen rief es mir jenen Schmerz überdeutlich ins Gedächtnis. Ich erinnerte mich an ALLES, verstehst du, sogar die Dinge, an die ich mich schon als Knabe nicht mehr zu entsinnen vermochte. Doch was noch schlimmer war: ich konnte dem Drang nicht widerstehen, diese Erinnerungen auch auszusprechen."

Spielerisch drehte Gomar die Phiole in der Hand.

„Der damalige Ohrenzeuge jenes ... Missgeschicks ... hatte bald darauf einen tödlichen Unfall. Er fiel aus Versehen in mein Schwert. Seither ist Morag meine rechte Hand. Jedenfalls, so unglücklich dieser Vorfall zunächst auch zu sein schien, ging mir schon bald darauf auf, WAS ich da zufällig gefunden hatte."

Gomar war nun dicht an Rivar herangetreten und ließ dessen Mienenspiel keine Sekunde aus den Augen. Er sah, dass dem Einsiedler gerade die Konsequenz des Gesagten dämmerte. Schließlich wurden die Augen des Alten groß – und diesmal standen weder Schmerz noch Entschlossenheit darin. Nur Furcht vor dem Unausweichlichen war noch in den grünen Tiefen zu erkennen. Der Südländer lächelte. Endlich begann sich die Sache nach seinen Vorstellungen zu entwickeln.

„Du verstehst, wie ich sehe. Ich sagte ja: nichts ist schlimmer als das Wissen um das unausweichlich Kommende. Siehst du, wie recht ich habe? Vor einigen Jahren stießen wir mal auf einen sehr klugen Heiler. Er fand für mich einen Weg, dieses Mittel in etwas zu verwandeln, das man nur noch einzuatmen brauchte. Ein kluger Mann, fürwahr. Ein Jammer, sein frühes Ableben... Nun, wie dem auch sei: du hast gleich das Vergnügen, dieses Mittel an dir selbst auszuprobieren. Aufregend, wie?"

Rivar starrte ihn nun groß an und seine Züge spiegelten deutlich wider, was er dachte.

Wenn das, was er sagt, wahr ist, werde ich Aragorn verraten...

Allein dieser Gedanke beherrschte den alten Mann noch, der angesichts des Unvermeidlichen unbewusst einen Entschluss fasste. Für Gomar überraschend begann er zu reden.

„Das einzig Aufregende an meiner Situation ist, dass du ebenso wenig Kontrolle über das Schicksal hast wie damals in Ankaradas. Du hast dagestanden und zugelassen, dass wir dir alles nahmen, was dir wichtig war. Du warst nicht Manns genug, es mit uns aufzunehmen. Deine Kraft war lächerlich. Es wäre schwieriger gewesen, einem Kind den Ball wegzunehmen als dir deinen Palantir..."

Zu mehr kam Rivar nicht, denn in dem Augenblick war Gomar auch schon dicht an ihn herangestürmt und hatte ihm einen Fausthieb versetzt, der seinen Kopf hart zur Seite schleuderte. Im Bruchteil einer Sekunde fühlte Rivar den kalten Stahl einer Klinge an seiner Kehle. Er spürte wie die ersten Blutstropfen an seinem Hals herunterliefen und schloss die Augen.

Bitte, ihr Valar, lasst ihn mich töten. Lasst es mit mir enden!

Rivar wartete auf den Schmerz an seiner Kehle, doch der erwartete Todesstoß blieb aus. Er hörte, wie Gomar, der sich dicht an ihn gepresst hatte, heftig atmete, als müsste er eine Wut unterdrücken, die mit aller Macht an die Oberfläche wollte. Dann spürte er, wie der Dolch seine Kehle verließ und kurz darauf zu Boden fiel.

Gomar ergriff Rivars Kopf und richtete seinen Blick auf ihn. Weniger als eine Handbreit trennte beide Gesichter voneinander. Und wären die Fesseln nicht gewesen, wäre Rivar vor dem Blick des Südländers zurückgewichen.

„Das war ein schlauer Versuch," flüsterte er, sich nur mühsam beherrschend. „Tapferer, alter Rivar. Wolltest du lieber sterben, als mir dein Herz auszuschütten?" Gomar stieß Rivars Kopf brutal zurück und entfernte sich ein paar Schritte.

Es ärgerte ihn, wie leicht er durch den alten Mann manipuliert werden konnte und dass seine Männer auch noch Zeuge dieser Schwäche geworden waren. Nachdem er sich beruhigt hatte, wandte er sich wieder seinem Gefangenen zu. Er zog die Phiole aus seiner Tasche, in die er sie rasch hatte fallen lassen, als Rivar auf so abfällige Weise über ihn und sein damaliges Versagen gesprochen hatte.

„Anscheinend ist diese Droge noch besser, als ich dachte. Sie hat dir die Sprache wiedergeschenkt, obwohl ich sie noch nicht einmal benutzt habe. Da fragt man sich doch, was du mir unter ihrer Wirkung alles erzählen wirst. Und dass du mir was zu erzählen hast, hat mir dein Verhalten mehr als deutlich gezeigt."

Schreckensstarr musste der alte Mann mitansehen, wie Gomar sich sorgfältig das Ende seiner schalartigen Kopfbedeckung als Schutz vor das Gesicht wickelte, ehe er schließlich die Phiole entstöpselte und einen Teil ihres Inhaltes auf ein weißes Leinentuch in seiner Hand gab. Dann sah er auf.

„Haltet ihn gut fest."

Hände legten sich wie eiserne Klauen an beide Seiten von Rivars Kopf und hielten ihn fest. Nun war ihm auch die letzte Bewegungsfreiheit genommen. Er wollte den Kopf schütteln, sich aus der unbarmherzigen Umklammerung befreien und konnte doch nur blinzeln.

„Nein, nicht..." keuchte er und versuchte verbissen, den Kopf zur Seite zu drehen. Es blieb eine vergebliche Bemühung.

Ich werde nichts verraten... Nichts... Kein Wort... Verzweifelt klammerte er sich an diesen Gedanken, während ein Teil seines Verstandes bereits um die Unausweichlichkeit seines Verrats wusste. Nicht... Ich habe es doch geschworen...

Gomar war inzwischen an ihn herangetreten und sah ihn aufmerksam an. Das Feuer, das Rivar nun aus den braunen Augen des Südländers entgegenschlug, war so intensiv, dass er glaubte, es spüren zu können.

„Dich so zitternd vor mir zu sehen, macht die vielen Jahre der Suche zwar noch nicht wett, doch es ist ein Anfang. Mehr wird folgen, und ich schwöre dir, dein Tod wird der schwerste sein, den Mittelerde je gesehen hat. Und ich werde dafür sorgen, dass du mit dem Wissen stirbst, dass du ein zweites Mal zum Verräter wurdest!"

Er hob die Hand und presste das mit der Droge getränkte Tuch auf Rivars Mund und Nase, der instinktiv in diesem Augenblick die Luft anhielt. Ewig würde er das nicht durchhalten, das war dem Einsiedler klar, doch er war entschlossen, das Letzte aus sich herauszuholen, um den unausbleiblichen Moment so lange wie möglich hinauszuzögern.

Gomar war das natürlich nicht entgangen.

„Für so etwas habe ich nicht die Geduld, alter Mann!" erklang seine Stimme dumpf unter dem Gesichtsschutz.

Noch ehe Rivar darüber nachgrübeln konnte, was Gomar dagegen zu tun beabsichtigte, traf eine Faust seinen bereits durch die Brandwunden entstellten Bauch. Die Wucht des Hiebes ließ ihn unwillkürlich nach Luft schnappen. Damit war Rivars Schicksal endgültig besiegelt, denn augenblicklich begannen die Dämpfe des Mittels ihre Wirkung zu entfalten. Mit ätzender Schärfe krochen sie aus dem groben Stoff Kehle und Nase empor, wurden mit jeder vergehenden Sekunde intensiver, unerträglicher, bis sie schließlich Rivars Verstand erreichten.

Der Einsiedler, der eigentlich sein Schweigen beizubehalten trachtete, stellte schockiert fest, dass seine Gedanken auseinander zu driften begannen. Unerwartet waren plötzlich längst verschüttet geglaubte Erinnerungen da, die seinen Vorsatz einfach zur Seite drängten.

Sein Blick war nach wie vor klar, dennoch achtete Rivar nicht mehr auf Gomar, der die Reaktionen seines Opfers mit raubtierhafter Aufmerksamkeit beobachtete. Plötzlich war es dem Einsiedler egal, in welcher Lage er sich befand. Selbst der brennende Schmerz, der bis eben noch überall in seinem Körper gewütet hatte, löste sich quasi in Nichts auf und der unangenehm kühle Herbstwind des Waldes wurde nun für ihn zu einem sanften Streicheln.

Diese Liebkosungen...

Rivar erinnerte sich wieder an sie. Nur eines Menschen Hände hatten ihn je so gestreichelt: die seiner Mutter! Plötzlich vermeinte er auch den Duft nach Jasmin zu riechen, der sie immer umwehte.

Gomar hatte ungeduldig darauf gewartet, dass die Droge ihre volle Wirkung entfaltete. Als er sah, wie sich die Pupillen Rivars schlagartig zu zwei kleinen schwarzen Punkten verengten, wusste er diesen Zeitpunkt gekommen. Er nahm den Lappen vom Gesicht des alten Mannes und trat zurück.

„Sieh mich an!"

Die Stimme des Südländers verdrängte das angenehme Bild seiner Mutter und ließ es, aufgelöst in Millionen winziger Lichtpunkte, nach allen Seiten auseinanderstieben. Zurück blieb der Anblick des nur von Fackellicht erleuchteten Lagers mitten im Wald. Die südländischen Krieger umstanden ihn nach wie vor schweigend und in einigem Abstand.

Sieh mich an, hallten die Worte noch immer in seinem Kopf. Ihr Klang war so machtvoll, dass Rivar gar nicht anders konnte, als nach dem Sprecher Ausschau zu halten. Suchend drehte er den Kopf, bis er in Gomars Gesicht sah.

„Du kannst mich hören, nicht wahr?"

Für einen flüchtigen Moment tauchte der Gedanke auf, zu schweigen, doch gleich darauf stellte Rivar fest, dass sich sein Mund öffnete und er zu einer Antwort ansetzte. Der Drang, sie zu geben, war stärker als sein Wille. Er nickte. „Ja, natürlich."

„Gut. Wie heißt du?"

Nichts sagen. Nicht... „Ich bin Be'Nat Rivar'Odan, Sohn von Nia und Odan'Isem Hassu'Benef."

Gomar nickte zufrieden. Jetzt konnte er Rivar die entscheidenden Fragen stellen, diejenigen, deren Antworten ihrer Odyssee durch dieses ungastliche Land endlich ein Ende machen würden.

„Du erinnerst dich an jenen Abend vor über zwanzig Jahren, an dem du den Gefangenen Aradoran aus meinen Verliesen befreitest?"

Wie sollte ich mich NICHT daran erinnern? Er hat dir alle Macht genommen, die du je hattest..., wollte Rivar erwidern, doch er konnte seine Gedanken auf ein „Ja" reduzieren. Gleichzeitig huschte über Rivars abwesend wie aufmerksam wirkendes Gesicht der Schatten eines Lächelns, als er sich daran entsann, wie hilflos Gomar ihnen damals gegenübergestanden hatte.

Gomar ahnte, woran der Alte dachte. Wütend verengten sich seine Augen zu kleinen Schlitzen. Sein Unglück war nichts, worüber dieser Verräter lächeln durfte! Er beschloss, ihm eine Lektion zu diesem Thema zu erteilen, sobald die schmerzdämpfende Wirkung des Mittels nachgelassen hatte.

„Du bist mit Aradoran hierher geflohen?"

Wenn ich doch nur schweigen könnte... „Ja."

„Ist er noch hier?"

„Nein, er ist tot..."

Längst überwunden geglaubte Trauer durchflutete Rivar bei dieser Erinnerung, doch für Gomar waren die Worte wie ein Schlag in den Magen. Mehr als alles andere hatte er darauf gehofft, vor allem Aradoran in die Hände zu bekommen, um ihn für den Verlust der Macht eines Istari büßen zu lassen. Und nun das... Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er sich wieder gefasst hatte.

„Hatte er eine Familie?" Gomar hoffte inständig, dass nicht wieder ein Nein die Antwort war. Wenigstens einer aus der Blutlinie Aradorans musste noch am Leben sein, denn er wollte seine Rache unbedingt haben!

Es war nur ein kurzer Augenblick des Zögerns für Rivar, doch in diesem einen Moment focht der alte Mann den schwersten Kampf seines Lebens. Alles in ihm schrie, den Mund zu halten und an den Schwur zu denken, den er Elrond geleistet hatte, doch die willenbrechende Wirkung von Gomars Droge war einfach stärker als der Vorsatz, Aragorns Geheimnis zu wahren. Er konnte nicht anders, als auch diese Frage wahrheitsgemäß zu beantworten. „Ja, Lady Gilraen war seine Frau und Aragorn sein Sohn."

Während sich Rivar nur noch einen raschen Tod wünschte, ehe man ihm auch den Ort des Aufenthaltes entriss, ließ Gomar vor Erleichterung kurz den Kopf sinken.

„Er hat einen Sohn! Einen Sohn! Ich werde meine Rache bekommen, habt Dank, ihr Valar!" flüsterte er, dann bohrten sich seine brennenden Blicke in das Gesicht Rivars. „Sag mir: Wo sind die beiden jetzt?"

Gomar vibrierte vor Erwartung auf die Antwort. Selbst bei seinen Kriegern war die Spannung nun spürbar, sahen sie doch das Ende ihrer mühsamen Suche nahen.

 „Lady Gilraen..." Ich darf es nicht verraten. Mein Schwur... Rivar keuchte vor Anstrengung, die Worte zurückzudrängen, die seiner Kehle entschlüpfen wollten. „...lebt ... in Eriador. Estel..." Nein, ich will nicht... Sein stummer Schrei verhallte ungehört. „...ist ... in Bruchtal ... bei den Elben."

Bruchtal... Gomar sog geräuschvoll die Luft ein.

Ausgerechnet Elbengebiet! Es war schwer genug, zumindest die Randgebiete jenes Tales zu erkunden, ohne dass die Grenzwächter meine Krieger bemerken. Und nun werde ich sie sogar mitten in das Tal hineinführen müssen. Aradoran, du verfluchter Hund, selbst nach deinem Tod schaffst du es, mir das Leben schwer zu machen. Hast du wirklich geglaubt, dein Sohn sei dort sicher vor mir? Selbst die geballte Streitmacht aller Elben wird mich nicht mehr davon abhalten, ihn mir zu holen.

Fanatischer Glanz begann in den Augen des Mannes zu irrlichtern. Nur mühsam konnte Gomar das Verlangen unterdrücken, seinen Grimm gleich an Ort und Stelle am Gefangenen auszulassen.

„Du redest von Aragorn und dann von Estel. Sind dies beides die Namen des Sohnes?"

„Ja. Aragorn ist sein Geburtsname, doch die Elben nennen ihn Estel." Rivar deckte auch dieses Geheimnis auf. Innerlich schrie er und wünschte sich, auf der Stelle aus dem Leben scheiden zu können, doch ihm blieb keine Wahl – die Droge ließ ihm keine Wahl.

„Wo genau im Elbental finde ich diesen Sohn, diesen ... Estel?"

„Er lebt im Schloss." Ohne dass Rivars etwas dagegen zu tun vermochte, sah er plötzlich wieder deutlich die Gänge vor sich, die er durchschritten hatte, um zu Aragorns Zimmer zu gelangen.

Es war, als hätte Gomar seine Gedanken gelesen. „Sage mir genau, wo ich ihn finde."

Rivar hasste sich dafür, so bereitwillig Auskunft geben zu müssen, doch mehr noch hasste er sich für das Wissen, dass es nichts mehr gab, das er tun konnte, um Aragorn zu retten. „Von der großen Halle des Schlosses führt eine Treppe empor in den ersten Stock," flüsterte er niedergeschlagen. „Im nach links führenden Gang ist es das letzte Zimmer auf der rechten Gangseite."

Es wird schwer und sehr gefährlich. Aber es ist nicht unmöglich. Auch bei Elben wird man nachts gewiss schlafen, vor allem, wenn man sich gut bewacht glaubt... Gomar trat nun ganz dicht an Rivar heran. „Ist das auch die Wahrheit?"

Ich muss nur Nein sagen, und Aragorn ist sicher. Nur dieses eine Wort... Er schluckte schwer, konzentrierte sich verzweifelt auf das Wort NEIN – und wusste im gleichen Moment, dass er keine Chance hatte.

„Ja," flüsterte er.

Die aufgestaute Spannung der Krieger entlud sich in freudiges Gemurmel, nur Gomar behielt sein Schweigen bei. Dennoch musste man kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass der Südländer bereits darüber nachdachte, wie er an Arathorns Sohn herankam. Mit einer herrischen Handbewegung gebot er seinen Leuten Schweigen, dann studierte er aufmerksam Rivars Mienenspiel.

Morag nutzte diese Gelegenheit, um an seinen Anführer heranzutreten und ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Gomar sah seinen Untergebenen skeptisch an, doch der nickte nachdrücklich. „Ich schwöre euch, Herr, das Kind war fort, als wir ihn fingen."

„Das haben wir gleich." Gomar sah zu Rivar zurück. „Eine letzte Frage, alter Mann: Wohin hast du deine Enkeltochter geschickt?"

„Sie ist nicht meine Enkeltochter." Dieses Mal war Rivar froh, antworten zu können. Zumindest das Mädchen glaubte er so außer Gefahr bringen zu können.

Der Südländer zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe, dann wandte er sich zu Morag um. „Wie bist du darauf gekommen, dass sie seine Enkelin sei?"

Morag zuckte leicht mit den Schultern. „Ich sagte es ihm auf den Kopf zu und er stritt es nicht ab. Da nahm ich an..."

Sein Anführer winkte ab. „Sie hat euch gesehen, das reicht. Und wer weiß, was der Alte ihr erzählt hat. Nein, wir werden sie uns trotzdem holen." Sein Blick traf erneut Rivar.

„Dann sage mir, Rivar: wohin hast du sie geschickt?"

„Nach Bruchtal." Rivars Herz sank bei den Worten, die seine Kehle ohne seinen Willen verließen. Nun auch Nolana. Weder sie noch Aragorn konnte ich also beschützen...

Rivars Antwort überraschte Gomar nicht einmal sonderlich. Er lächelte seinen Gefangenen zufrieden an.

„Fühlst du dich jetzt schlecht? Verabscheust du dich für deine Worte? Dann verrate ich dir jetzt etwas."

Er trat so dicht an Rivar heran, dass die nächsten Worte nur von diesem zu verstehen waren.

„Morgen Abend reiten meine Männer nach Bruchtal, und noch ehe die Sonne wieder aufgeht, werden sich das Kind und dieser Estel hier an deiner Seite befinden. Wenn du dabei zusehen musst, wie ich Estel für die Schuld seines Vaters bezahlen lasse, wirst du dich wirklich für deine Tat verabscheuen. Du wirst jedes einzelne deiner Worte verfluchen und mich irgendwann anflehen, ihn von seinem Leiden zu erlösen, glaub mir!"

Die Genugtuung über diese Aussicht stand Gomar so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass Rivar schon den bloßen Anblick nicht ertrug. Am Ende seiner geistigen Kräfte angelangt und von der erlittenen Folter schwer angeschlagen, ließ er den Kopf hängen. Es war vorbei. Die Flucht mit Arathorn, die langen Jahre der Einsamkeit, sein Schwur, seine Selbstaufgabe zur Rettung des Mädchens... alles war nun umsonst, denn dass Gomar seine Drohungen in die Tat umsetzen würde, daran zweifelte er keinen Moment.

Der Südländer wandte sich zu seinen Männern um.

„Ihr habt es gehört. Morgen Abend werdet ihr zum Elbental aufbrechen. Nun werden die langen Jahre eurer Ausbildung endlich Früchte tragen. Morgen nacht ist es an euch, zu zeigen, dass ein Südländer lautlos wie ein Schatten, tödlich wie ein Skorpion, schnell wie der Sturmwind und unbesiegbar wie die riesige Wüste ist. Niemand ist in der Lage, sich uns in den Weg zu stellen, und wer es dennoch versucht, muss sterben. Also tötet alle, die es wagen, sich uns zu widersetzen. Aber seid vorsichtig: die Elben sind fast so gefährliche Kämpfer wie wir. Ihre scharfen Sinne können es zudem mit unserer Gewandtheit aufnehmen. Es wird sehr schwer, aber wenn ihr mit unseren Gefangenen wieder hier sind, wird reicher Lohn in der Heimat den Beteiligten sicher sein. Morag wird morgen bei Tagesanbruch alles Weitere bekannt geben und die 12 Besten für das Vorhaben aussuchen. Also ruht euch jetzt aus."

Unter leisem Murren verteilten sich die Krieger langsam wieder auf ihre Zelte. Sie hatten offenbar darauf gehofft, selbst noch ihr Mütchen an Rivar kühlen zu können. Lediglich die versprochene reiche Belohnung ließ sie ihre Ungeduld weiterhin zügeln.

Gomar winkte den noch immer wartenden Morag zu sich heran, beförderte die nun halbleere Phiole wieder in die Schatulle zurück und klappte sie dann zu. „Von allen weißt du am besten über das Elbental Bescheid. Also komm, wir haben noch viel zu besprechen für den morgigen Abend."

Morags Blick streifte Rivar. „Was soll solange mit dem Gefangenen geschehen, Herr?"

„Der?" Gomar sah zu dem alten Mann zurück, der nach wie vor zwischen den beiden Bäumen hing. „Aus diesen Fesseln kann er nicht fliehen. Stell' trotzdem einen Mann zu seiner Bewachung ab, aber mach demjenigen klar, dass ich den Verräter lebend haben will. Also keine Eigenmächtigkeiten, oder derjenige büßt für seine Verfehlung bitter."

Während Gomar zu seinem Zelt zurückging und Morag eine Wache für Rivar organisierte, hatten sich die Gedanken des Einsiedlers längst in einer Welt aus Verzweiflung verloren. Keine Folter war wirksamer als die Bilder, die ihn seit Gomars gnadenlosem Versprechen jagten, denn sie zeigten ihm Aragorn, der unvorstellbare Qualen erleiden musste. Allen Bildern war jedoch eines gemeinsam: der Moment, in dem die grauen Augen des jungen Mannes ihn zum letzten Mal anklagend ansahen, ehe sie schließlich brachen...

***

Die nächsten zwei Stunden verbrachten Gomar und Morag damit, die während der Streifzüge der Männer gewonnenen Erkenntnisse über Bruchtal zusammenzutragen und anhand von Morags Erinnerungen eine grob skizzierte Karte jenes Gebietes anzufertigen.

Das Tal, in dem sich die Elben ihr Heim errichtet hatten, ähnelte mehr einem gigantischen Riss in der Erdkruste, denn außer zwei gut bewachten Zugängen, die sich an beiden Enden des langgezogenen Tales befanden, ragten die übrigen Stellen meist steil und senkrecht gen Himmel. Ein Großteil der oberen Bergkämme wurde von den ungebändigten Fluten des Bruinen geschützt, der immer wieder in wilden Kaskaden zur Talsohle stürzte, und an den wenigen nicht vom Wasser umtosten Stellen patrouillierten aufmerksame elbische Wachen.

Gomar musste neidlos zugeben, dass es ein geradezu idealer Ort war, wenn man sich ein leicht beschützbares Heim errichten wollte.

Am Ende stand für ihn fest, dass es nur eine Stelle im ganzen Tal gab, die Zugang zum Inneren gewährte, ohne dass Patrouillen ihnen in die Quere kamen. Dabei handelte es sich nach Morags Aussagen um eine zwar außerordentlich steile, aber auch ebenso gefährliche, Bergwand. Sie war fast spiegelglatt und bot nur wenige Vorsprünge, um sich daran festzuhalten. Wer dort hinabzuklettern versuchte, drohte unweigerlich abzustürzen. Offenbar hielten die Elben niemanden für fähig, dieses Wagnis zu meistern, denn sie schützten jene Stelle nur mit einer lächerlich kleinen Wachmannschaft.

Diese Arroganz des erstgeborenen Volkes war der Vorteil, den Gomar für sich auszunutzen beabsichtigte.

Seit ihrem Aufbruch aus den Südlanden hatte er seine Krieger unablässig in den verschiedensten Künsten ausgebildet, bis sie gleichermaßen perfekte Kletterer, ausdauernde Schwimmer, schnelle Läufer und brillante Kämpfer waren. Jeder, den er späterhin für seine Truppe rekrutierte, durchlief die gleiche Unterweisung. Er brachte ihnen bei, sich so perfekt zu tarnen, dass man sie nicht mehr von der jeweiligen Umgebung unterscheiden konnte, ließ sie das Anschleichen üben, bis kein Laut ihr Nahen mehr ankündigte und setzte sie solange Risiken und Gefahren aus, bis sie jedem seiner Befehle voller Todesverachtung blind folgten. Gleichzeitig belohnte er Fortschritte und Erfolge in großzügiger Weise, indem er die Beute der immer wieder stattfindenden Raubzüge durch kleinere Städte oder Dörfer ausschließlich auf seine Männer verteilte und nur sehr selten das eine oder andere Stück für sich selbst zurückbehielt.

Wer sich seiner Truppe anschloss begriff sehr bald, dass es einerseits ein außerordentlich strapaziöses, weil auf Schinderei und blindem Gehorsam aufgebautes Leben war, das bei einer schlechten Entscheidung oder einfach nur dem falschen Wort zur falschen Zeit den Tod bringen konnte. Andererseits brachte es jedoch auch jenen Rausch mit sich, den einem nur der flackernde Blick aus furchterfüllten Augen geben konnte. Es war genau dieses Gefühl, das die meisten der später angeworbenen und somit nicht dem südländischen Ehrenkodex unterstehenden Männer immer wieder erleben wollten, wenn sie es zum ersten Mal gekostet hatten: dieses Gefühl der Macht.

Macht über andere zu haben, nach Gutdünken über den Wert eines Lebens entscheiden oder es auch einfach nur mit einer schnellen Bewegung der Schwertklinge beenden zu können: genau das wollten sie immer wieder. Und Gomar ließ sie gewähren.

Was zählten schon die Leben einfacher Dörfler? Wenn sich ein paar von ihnen dabei noch zur Wehr zu setzen versuchten, dann war das um so besser. Das schulte seine Leute und machte so ihr Vergnügen zu seinem Nutzen. Ein Nutzen, der sich am kommenden Abend endlich zeigen würde. Für SEINE Männer würde es ein Leichtes sein, der glatten Felswand zum Trotz das Tal ungesehen zu betreten und mit ihrem Gefangenen anschließend wieder zu verlassen. Es konnte nichts mehr schief gehen, wenn nur ein Vala ein Einsehen in seinen Rachewunsch hatte.

Er sah auf. „Damit hätten wir dann alles besprochen. Du kannst jetzt schlafen gehen, Morag. Such morgen früh die 12 besten Männer aus und weise sie in unseren Plan ein. Dann lass sie sich den Rest des Tages ausruhen. Die anderen dagegen werden den Tag damit zubringen, ihre Fähigkeiten im Laufen und Klettern weiter zu verbessern. Ich will, dass sie von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang daran arbeiten. Und mach ihnen klar, dass sie das tun, weil ich sie für nicht gut genug halte, sich mit Elben zu messen. Du wirst sie dabei beaufsichtigen und dafür sorgen, dass sie meinen Befehlen Folge leisten. Bei Sonnenuntergang sollen sich dann diejenigen bereit halten, die mit dir kommen werden. Ich bleibe im Lager und werde dem Verräter zeigen, dass sich meine Rache noch steigern lässt."

Noch bevor Gomar geendet hatte, wusste Morag, wie die zurückgewiesenen Krieger diese ganz spezielle Demütigung aufnehmen würden: wütend. Und sie würden diese Wut an dem Verräter auslassen wollen. „Aber, Herr, Ihr wisst, wie die Männer darauf reagieren werden..."

„Ich werde ihnen nachdrücklich klarmachen, was geschieht, wenn dem Verräter von jemand anderem als mir auch nur ein Haar gekrümmt wird. Sie werden es nicht wagen, glaub mir. Wie Raubtiere werden sie sein: wild genug, alles zu zerreißen, doch gerade so weit angebunden, dass sie die Beute nicht erreichen können."

Morag, der am Nachmittag im Wald selbst dem Rausch der Macht erlegen war, als er dem respektlosen jungen Mann deutlich machte, zu was er als Gomars rechte Hand imstande war, nickte verstehend. Auf seinen Zügen zeichnete sich mehr als bloßer Gehorsam ab. „Ich verstehe. Ihr wollt den Zorn der Männer ins Unermessliche steigern und ihnen dann alle Gefangenen überlassen, habe ich Recht?"

„Nicht ganz." Seltsam entspannt lehnte Gomar sich an einen Zeltpfahl. „Die drei gehören nur für eine Weile ihnen. Mit dem Kind und dem Alten können die Männer tun, was sie wollen, solange der Tod Rivars langsam und qualvoll wird, wie ich es ihm geschworen habe. Ich bin mir sicher, dass mich meine Leute nicht enttäuschen werden. Allerdings werde ich dafür sorgen, dass Aradorans Sohn ALLES überlebt, was ich oder die Männer mit ihm machen. Ich will, dass er stattdessen so wie sein Vater mein Sklave wird und dem langsamen Sterben entgegensieht, das eigentlich dessen Schicksal sein sollte. Er soll die Schuld seines Vaters nie vergessen, in keiner Sekunde seines Lebens, und er soll sie täglich aufs Neue verfluchen. Ich habe einst Rache geschworen, Morag, und weißt du, welches die beste Rache ist? Die Bitte um den Tod in den Augen eines Menschen zu erblicken, den man zu einem langen, qualvollen Leben verdammt hat."

Gomar rollte die Karte zusammen, die Morag und er gezeichnet hatten und reichte sie ihm. Dann ließ er sich auf seine Lagerstatt fallen und sah zu seinem Untergebenen hoch. „Das, Morag, ist die Rache, wie ich sie mir seit Jahren ausgemalt habe!"

Es gab nichts mehr hinzuzufügen, und so verließ Morag das Zelt seines Anführers, doch als die Zeltbahn hinter ihm wieder hinabfiel, spürte er ein Frösteln, das sein Rückgrat hinablief und nichts mit der Nachtkälte zu tun hatte.

Mögen die Valar verhüten, dass ich mir Gomar je zum Feind mache, dachte er und sah zu den Bäumen hinüber, zwischen denen man Rivar gefesselt hatte. Er konnte die Silhouette des Wache haltenden Kriegers im Schein des kleinen Lagerfeuers erkennen. Plötzlich begann der alte Mann ihm leid zu tun. Ob er bei seiner Gefangennahme schon geahnt hatte, was für ein grausamer Tod ihm und dem Mädchen bevorstand? Da war etwas in seinem Verhalten gewesen, das Morag das vermuten ließ.

Warum hat er es dann zugelassen?

Er fand keine befriedigende Antwort auf seine Frage. Und während er zu seinem eigenen Zelt ging, verspürte er erneut Furcht vor Gomar. Das Gefühl von Macht, dass er einige Stunden lang verspürt hatte, war endgültig verflogen.

***

Elrond war vor wenigen Minuten erst in seine Räume zurückgekehrt, nachdem er mit Glorfindel die wichtigsten Maßnahmen zum Schutze des Tales und seiner Bewohner abgesprochen hatte. Der nächste Morgen würde Bruchtal bereits in verdoppelter Mannstärke und intensivierter Bewachung vorfinden, doch eine leise Besorgnis war trotzdem geblieben. Und sie nagte an Elrond, der nicht in der Lage war, den Grund dafür in Worte zu fassen. Etwas hatten sie übersehen. Doch was genau?

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als unvermittelt die Tür zu seinen Räumen aufging.

Sein Verstand benötigte einen Augenblick, um das sich ihm bietende Bild vollends zu begreifen, doch seine Reflexe reagierten sofort. Der Elbe war bereits aus seinem Sessel aufgesprungen, noch ehe er wirklich begriff, dass es Aragorn war, der da gerade in sein Zimmer getaumelt kam.

„Vater..."

Das Wort wehte wie ein Windhauch an seinem Ohr vorbei.

„Estel!"

Elrond schaffte es gerade noch rechtzeitig, ihn aufzufangen. Schwer hing der reglose Körper in seinen Armen.

„Estel, was ist? Was hast du?"

Gegen besseres Wissen hoffte Elrond auf eine Antwort, doch wie befürchtet blieb sie aus. Als könnte jede noch so geringe Bewegung ihn verletzen, drehte er Aragorn daraufhin behutsam auf den Rücken. 

Er war bewusstlos, sein Antlitz zeigte eine fahle, offenkundig fiebrige Blässe und war ebenso wie der Rest des Körpers schweißüberströmt. Schmerz hatte tiefe Falten in die junge Stirn gegraben, die nicht einmal von der Besinnungslosigkeit geglättet werden konnten.

Eine erste hastige Musterung enthüllte zunächst keine sichtbare Wunde, doch es hatte den jungen Mann offenbar die letzten Kraftreserven gekostet, um in dieses Zimmer zu gelangen, denn der weiterhin rasende Herzschlag Aragorns wollte sich nur sehr langsam wieder beruhigen, während der Atem beängstigend mühsam ging.

Elrond barg den Kopf seines menschlichen Pflegsohnes in der Beuge des Armes, mit dem er ihn hielt, dann strich er Aragorn mit der freien Hand über die Stirn. Die Hitze der Haut sprach von einem derart hohem Fieber, dass sein menschlicher Körper dem nicht mehr sehr lange gewachsen sein würde.

„Estel, wach auf! Sieh mich an..."

Nichts geschah. Er zeigte keinerlei Zeichen, dass die flehentlichen Bitten seines Vaters zu ihm durchgedrungen waren.

Erst Rivar, dann die Vision und nun das... Hätte es noch eines Beweises für den Beginn schlimmer Entwicklungen bedurft, dann wäre es dein Zustand, mein Sohn.

Die Sorge wollte den Elben fast überwältigen, als er ihn ohne große Anstrengungen hochhob, zu seinem eigenen Bett hinübertrug und darauf ablegte.

Erneut begann er ihn nach Verletzungen zu untersuchen, doch wiederum blieb seine Suche zunächst erfolglos. Erst, als er die Hoffnung, den Grund für den kritischen Zustand Aragorns zu finden, schon beinahe aufgegeben hatte, entdeckte er den entzündeten Fuß.

Es war für die erfahrenen Augen Elronds nicht zu übersehen, dass diese Verletzung weit über eine Woche alt und – soweit er es erkennen konnte – unbehandelt geblieben war. Die ehemals kleine Schnittwunde hatte sich an den Rändern inzwischen schwärzlich verfärbt und mit einem breiten dunkelroten Entzündungshof umgeben, der sich über die ganze Sohle erstreckte. Diese war heiß, der ganze Fuß war geschwollen und bereits erste vorsichtige Tastbewegungen offenbarten, dass sich unter der gespannten Oberfläche der Wunde beträchtliche Absonderungen angesammelt hatten. Die darin enthaltenen Giftstoffe waren wahrscheinlich bereits vor Tagen in den Körper Aragorns eingedrungen und für seine schlechte Verfassung verantwortlich.

Der erfahrene Heiler ließ den Kopf hängen. So sehr er es auch drehte und wendete: Die Entzündung war bereits so weit vorangeschritten, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, etwas dagegen zu unternehmen!

Fassungslos schüttelte er den Kopf, während er den Fuß seines Pflegesohnes vorsichtig wieder auf dem Bett platzierte und sich dann zur Tür umwandte. Aus seiner Fassungslosigkeit wurde jedoch tiefe Enttäuschung, als ihm gleich darauf noch etwas klar wurde: Aragorn war buchstäblich erst in der allerletzten Minute zu ihm gekommen!

Warum hat er das getan? Estel hat mir noch nie etwas verheimlicht, schon gar nicht etwas so Gravierendes. Hat er plötzlich kein Vertrauen mehr zu mir? War ich so sehr mit mir selbst beschäftigt, um die Anzeichen einer Verletzung zu bemerken?

Dieser Gedanke bekümmerte ihn, denn etwas in ihm wisperte mit anklagender Stimme, dass genau das die Ursache für Estels Verhalten sein könnte.

Man verbringt Jahre damit, seinen Kindern jedwedes Wissen zu vermitteln, ihnen so etwas wie Verantwortungsgefühl beizubringen, doch das Wichtigste habe offenbar auch ich dabei vergessen: ihm zu zeigen, wie wichtig mir sein Vertrauen ist...

Inzwischen war Elrond auf den Gang hinausgetreten, der von seinen Gemächern fortführte und nunmehr wieder nächtlich ruhig und verlassen da lag.

Das leise, knarrende Geräusch, das die sich öffnende hölzerne Tür zur Kräuterkammer bald darauf erzeugte, zerriss diese Stille jedoch. Noch während er die ersten Heilkräuter aus den Regalen nahm, hörte er, wie sich ihm jemand näherte. Er musste im Grunde nicht einmal zur Seite sehen, um zu wissen, wer es war.

„Es tut mir leid, dass ich deine Nachtruhe erneut störe, mein Sohn." Entschuldigend sah Elrond flüchtig zu seinem Ältesten hinüber, der erstaunt und mit vor der Brust verschränkten Armen verfolgte, was sein Vater tat. „Begib dich wieder in dein Zimmer. Ich bin gleich fort."

„Ich war ohnehin noch wach." Elladan winkte ab. „Es hat zwar nicht lange gedauert, das Kind zum Einschlafen zu bewegen, doch ich habe noch eine Zeitlang bei der Kleinen gesessen, für den Fall, dass sie noch einmal erwacht. Ich bin eben erst in meine Räume zurückgekehrt. Aber gestatte mir die Frage, was du um diese Uhrzeit in der Kräuterkammer machst."

Elrond hielt inne. Eine Hand ruhte noch immer auf einem Leinensäckchen, in dem er eine seltene, weiße Blütenart wusste. Mit weiteren Kräutern und heißem Wasser vermischt, würde sie die aufgeschnittene und gereinigte Wunde desinfizieren. Langsam, fast widerwillig, löste der Elbenherr seinen Blick von den Kräutern und sah seinen Ältesten an, der noch immer – und in der Zwischenzeit mit sichtbar wachsender Besorgnis – wartend neben ihm stand.

Für einen Moment fühlte er sich versucht, Elladan anzulügen und ihn unter einem Vorwand in seine Räume zurückzuschicken. Dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Spätestens der nächste Morgen würde den Zwillingen Aragorns schlechte Verfassung ohnehin enthüllen. Es gab keinen Grund, jetzt so zu tun, als sei alles in Ordnung. Tiefer Kummer über all das Vorgefallene der letzten Stunden ließ seine Züge erschöpft wirken, als er die letzten Kräuter zusammensuchte und erst dann Elladan offen ins Gesicht sah.

„Dein Bruder ist krank."

Ohne sagen zu können, wo er sein Wissen hernahm, wusste der älteste Zwilling sofort, dass sein Vater Aragorn meinte.

„Estel ist krank?" Elladans Bestürzung zeichnete sich deutlich auf seinem Gesicht ab. „Was ist mit ihm? Was hat er? Kann ich irgendetwas tun..."

Der Elbenherr unterbrach das Fragenbombardement seines Sohnes mit einer Handbewegung. „Das kannst du in der Tat. Geh und wecke Elrohir. Ich denke, ich werde euch beide brauchen. Lasst die Diener Wasser erhitzen und es zusammen mit kaltem Wasser in meine Gemächer bringen. Estel ist bei mir."

Elrond legte Elladan eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. „Geh. Es eilt."

Er gab dem angesichts der ernsten Worte wie betäubt wirkenden Elladan einen sanften Schubs zur Tür. Die ersten beiden Schritte des älteren Zwillings wirkten hölzern, marionettenhaft, erst dann kehrte so etwas wie Leben in seine schlanke, hochgewachsene Gestalt zurück. An der Tür blieb er stehen und sah zu seinem Vater zurück. Tausend Gedanken schossen Elladan gleichzeitig durch den Kopf, tausend Bilder aus früheren, glücklicheren Zeiten, und alle zeigten ihm Aragorn: lachend, scherzend, wütend, nachdenklich, hilflos. Doch über all das schob sich eine einzige, brennende Frage – und die Furcht vor der Antwort.

„Wie schlimm ist es? Sag es mir. Ich muss es wissen!"

Elrond seufzte hörbar. Er hatte keine Mühe, den inneren Aufruhr in seinem Ältesten zu erkennen. Er verspürte ihn ja in sich selbst, seit er zum ersten Mal das Bild des sterbenden Elrohir erblickt hatte. Vielleicht hatten ihm die Valar in ihrer Güte ein letztes, ein achtes Visionsbild erspart: das des toten Aragorn.

Sekundenlang schloss er die Augen, um sich zu sammeln, dann sah er Elladan wieder an. „Es geht Estel sehr schlecht. Er hat zu lange gezögert, zu mir zu kommen. Wir müssen schnell handeln, wenn das Schlimmste noch verhindert werden soll."

Es dauerte einen Augenblick, bis Elladan die volle Tragweite des eben Gehörten und den seltsamen Ausdruck in den Augen seines Vaters begriff. Doch statt sich der gleichen Verzweiflung zu ergeben, war es reine Überzeugung, die nun aus dem Zwilling zu sprechen begann.

„Estel ist stark, Vater. Er ist ein Kämpfer. Du wirst sehen, er schafft es, so wie er immer alles schafft." Das Lächeln, das für einen Sekundenbruchteil über Elladans Züge huschte, bewies, dass er wirklich fest an das Gesagte glaubte, als er gleich darauf die Kammer verließ und sich hastig zu Elrohir begab. Doch seine Worte blieben und setzten sich in Elronds Gedanken fest.

Wenn er in Estel eine solche Kraft sieht, sollte ich sie dann nicht ebenfalls in ihm sehen? Oder habe ich mir bislang noch gar nicht die Mühe gemacht, in ihm danach Ausschau zu halten?

Ungebeten fielen ihm die Ereignisse um die unfreiwillige Enthüllung von Aragorns Abstammung wieder ein. Der von ihm geäußerte Abscheu vor menschlichen Schwächen hatte seinen jüngsten Sohn damals aus dem Haus getrieben.

Plötzlich begriff Elrond, dass Elladan ihm in Bezug auf Aragorn weit voraus war. Anders als er selbst, hatten seine Söhne Menschen gegenüber nie solche Vorbehalte gehegt, wie er es tat, und Aragorn ungeachtet aller Unterschiede nie anders als ihnen ebenbürtig angesehen.

In jenem Augenblick in der Kräuterkammer wurde Elrond mit erschreckender Deutlichkeit klar, dass er es war, der sich – zumindest gedanklich – verändern musste, nicht Aragorn. Aus dem kleinen schutzbedürftigen, menschlichen Pflegling war von ihm unbeachtet längst ein erwachsener, unerschrockener junger Mann geworden, dessen Entscheidungen und Handlungen er ebenso ernst zu nehmen hatte wie die seiner leiblichen Söhne. Er musste nicht immer mit allem einverstanden sein, doch er musste es respektieren. Wer damit begann, als Erwachsener Entscheidungen für sich zu treffen, musste auch mit den Konsequenzen leben. Allerdings schloss das solche Sachen wie eine verschleppte Entzündung entschieden aus, legte der Elbe im Stillen für sich fest.

Elrond wandte sich wieder den Regalen zu und sammelte die letzten Heilutensilien ein, die er eventuell zu benötigen meinte. Als er die Kräuterkammer schließlich wieder verließ, spürte er, dass er Elladans Zuversicht plötzlich teilte.

Während er zu Aragorn zurückkehrte, hoffte der Elbe, dass er seinem ältesten Sohn eines Tages dafür danken konnte, dass ihm dessen Worte neue Hoffnung geschenkt hatten.

Er konnte nicht ahnen, wie schnell diese Gelegenheit kommen sollte...

***

Es dauerte nur kurze Zeit, bis die Zwillinge im Zimmer ihres Vaters auftauchten. Das geforderte Wasser hatten sie gleich mitgebracht, stellten die Schüsseln jedoch achtlos zur Seite, als sie Aragorn erblickten, der nach wie vor bewusstlos auf Elronds Bett lag.

„Ich habe es nicht glauben wollen, als Elladan mich weckte, doch jetzt..."

Elrohir trat an seinem Vater vorbei an Aragorns Seite und sah bestürzt zu dessen regloser Gestalt hinab. „Während des Abendessens deutete absolut nichts darauf hin, dass Estel krank werden würde und jetzt ist sein Leben in Gefahr." Selten war der Blick des jüngeren Zwillings hilfloser gewesen als in diesem Moment. „Was ist mit ihm, Vater?"

Elrond hatte inzwischen saubere Leinentücher unter Aragorns verletztem Fuß ausgebreitet und weitere in einem kleinen Stapel auf jenes Tischchen gelegt, auf dem nun die Wasserschüsseln standen. Er nahm eines der Tücher, ließ es in die dampfende Schüssel fallen und schüttete schließlich etliche der mitgebrachten Heilkräuter dazu, die sofort in dem Wasser versanken und ihm eine schwach gelbliche Färbung verliehen. Erst dann sah er zu seinem jüngeren Sohn auf.

„Es grenzt fast an ein Wunder, dass er es aus eigener Kraft überhaupt noch bis zu mir geschafft hat, denn die Entzündung in seinem linken Fuß ist viel zu lange unbehandelt geblieben," begann er zu erklären, während er einen Dolch mit extrem schmaler Klinge zur Hand nahm und ihn gleichfalls in die Schüssel legte. „Es sieht aus wie eine Schnittverletzung, doch genau vermag ich es nicht zu sagen. Die Wundränder sind bereits abgestorben, während die Giftstoffe der Wunde in seinen Körper eindrangen und hohes Fieber hervorriefen..."

Der Elbe verstummte, als er sah, wie die Brüder betroffene Blicke tauschten. Für einen Moment presste eine unsichtbare Faust seinen Magen zusammen. Da war etwas, das die Zwillinge ihm verschwiegen.

„Gibt es etwas, das ich wissen sollte?" Die ruhige Stimme verriet nichts von seinen Emotionen.

„Das ... das kann doch gar nicht sein!" Elrohir tauschte einen weiteren Blick mit seinem Bruder, ohne zunächst auf die Worte des Vaters zu reagieren. „Es liegt doch schon so lange zurück..."

„WAS liegt lange zurück?" Der Elbenherr trat nun dicht an seinen jüngeren Sohn heran. „Wovon sprecht ihr zwei?"

„Elrohir meint einen Vorfall, der sich während unseres letzten Jagdausflugs ereignete," kam Elladan seinem Zwilling zu Hilfe. „Damals trat Estel in eine alte Pfeilspitze, die in einem Fluss lag. Wir behandelten den Schnitt natürlich sofort, und da Estel später nichts mehr sagte, nahmen wir an, es wäre alles gut verheilt."

Elladan zögerte kurz. „Wenn ich darüber nachdenke..." Er verstummte erneut.

„Was?" Elrond sah sie ungeduldig an.

„Vor ein paar Tagen sah ich, wie Estel aus der Kräuterkammer kam und in sein Zimmer humpelte. Er war gerade von einer Übung mit Glorfindel zurückgekehrt, und da nahm ich an, dass er sich dabei verletzt hätte. Jedenfalls deuteten die beiden Mittel, die er sich geholt hatte, darauf hin." In einer Geste der Machtlosigkeit zuckte Elladan mit den Schultern. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass er noch immer mit diesem Schnitt kämpft."

Einen Moment lang schloss Elrond die Augen, um seinen Söhnen den Zorn nicht zu zeigen, der sich in ihm auszubreiten begann. Jahrhundertelang hatte er die beiden in allen Heilkünsten ausgebildet, hatte sie gelehrt, auf die kleinsten Anzeichen acht zu geben, doch mit Aragorns Verschleierungskünsten hatte keiner von ihnen gerechnet. Der Elbenfürst nahm sich vor, eine ernste und lange Unterhaltung mit Aragorn zu führen, sobald sein jüngster Sohn das alles überstanden hatte.

„Warum habt ihr mir nichts davon erzählt?" Der Klang der Worte war kühl und schneidend wie Metall. Die Brüder kannten diesen Tonfall genau und wussten, dass sie in Schwierigkeiten waren. Ohne es zu bemerken, zogen beiden die Schultern hoch – ihre Antwort würde die Situation noch verschlimmern, das ahnten beide.

„Wir ... wir mussten es ihm versprechen," antwortete Elrohir schließlich tonlos. Er mied den Blick seines Vaters, wohl wissend, dass es die schlechteste aller möglichen Antworten war.

Sie mussten es ihm versprechen??? Keine Entgegnung Elronds hätte vernichtender wirken können als sein stummes Kopfschütteln, das die einzige Entgegnung auf die leisen Worte Elrohirs darstellte. Zweitausendachthundert Jahre haben offenbar nicht genügt, um ihnen den nötigen Ernst zu verleihen...

Nach einigen Momenten, in denen er seine Söhne mit anklagenden Blicken bedacht hatte, fischte er den Dolch aus der heißen Kräuterlösung, dann sah er auf.

„Diese Pfeilspitze: wo ist sie jetzt?"

„Bei mir!" Deutliche Erleichterung färbte Elrohirs Worte. „Ich werde sie holen."

„Gut. Beeil dich."

Er sah, wie Elrohir verschwand, und winkte Elladan zu sich heran. „Setz dich an das Kopfende des Bettes und zieh Estel soweit zu dir heran, bis du ihn gut festhalten kannst. Er ist zwar bewusstlos, doch es kann sein, dass der Schmerz, den das Öffnen der Wunde verursachen wird, ihn aus seiner Ohnmacht weckt. Du darfst ihn keinen Moment loslassen, bis ich es dir sage, hörst du?"

Elladan war inzwischen wie angewiesen an das Bett herangetreten und hatte sich auf dem Kopfkissen niedergelassen. Bedauernd sah er auf den blassen, wie ausgezehrt wirkenden Aragorn hinab, dann blickte er zu seinem Vater auf. „Kannst du Estel denn kein Mittel geben, das ihn bewusstlos hält?"

Elrond schüttelte den Kopf. „Nein. Seine Atmung ist ohnehin bereits viel zu mühsam und beginnt flach zu werden. Ich fürchte, dass ein Betäubungsmittel sie ganz aussetzen lassen könnte."

Er nickte Elladan zu, der seinen menschlichen Bruder daraufhin zu sich heranzog, dessen Kopf gegen die Schulter bettete und dann beide Arme um den Oberkörper Aragorns schlang.

Elladan konnte die Hitze spüren, die den Körper Aragorns von innen heraus zu verzehren schien. Ihre Intensität machte ihm größere Angst, als er einzugestehen bereit war. Der Elbe holte tief Luft, dann sah er zu seinem Vater auf, der – mit der Dolchklinge in der Hand – am Fußende des Bettes stand. „Ich bin bereit."

Die Bewegung, mit der Elrond Aragorns entzündeten Fuß anhob, wirkte ungemein behutsam, doch der Griff, mit dem er ihn festhielt, war eisern und dazu gedacht, selbst bei unvermuteter Gegenwehr nicht loszulassen. Nach kurzem Überlegen setzte er die Spitze der Klinge an einer der dunkelsten Stellen der Sohle an, nahm alle Entschlossenheit zusammen – und stach in die Wunde.

Unterdessen hielt Elladan Aragorn fest.

Er hielt ihn, während sein Vater die Wunde immer weiter öffnete, hielt ihn, als der scharfe, schlanke Dolch Schicht um Schicht des toten Gewebes abtrug und hielt ihn auch, als die konzentrierte, dampfend heiße Kräuterlösung aus der Schüssel langsam in den offenen Fuß lief und jede Verunreinigung aus der Verletzung in eine zweite, darunter platzierte Schale hinauswusch.

Elladan hielt seinen menschlichen Bruder so fest, dass dieser blaue Flecken an den Armen davontragen und über die ungewöhnlichen Schmerzen in seinem Brustkorb klagen würde, wenn er erst einmal wieder zu Bewusstsein gekommen war. Doch es geschah nur teilweise, um mögliche Abwehrbewegungen Aragorns zu verhindern. Tief im Grunde seines Herzens wusste der junge Elbe, dass er sich gleichzeitig auch an Aragorn festhielt, um die Gedanken ertragen zu können, die plötzlich da waren und sich trotz aller Anstrengungen nicht vertreiben ließen. Alle begannen mit Was, wenn.... und endeten mit dem Kummer, den die Worte ...er es nicht schafft...? in sich bargen. Von der Hoffnung, die er seinem Vater noch in der Kräuterkammer hatte vermitteln können, war ihm selbst inzwischen nichts mehr geblieben – außer der, dass Aragorns Bewusstlosigkeit tief genug bleiben würde, um ihm die momentanen Qualen zu ersparen. Zu seiner Erleichterung war das auch der Fall.

Elladan dankte den Valar im Stillen für die Gnade der Schmerzlosigkeit, die sie seinem Bruder angedeihen ließen, nur um gleich darauf eine stumme Bitte anzuschließen.

Bitte...

Er wollte den Satz nicht weiterdenken – und konnte es doch nicht verhindern.

Bitte, lasst es nicht so schlimm sein, wie es aussieht... Lasst Vaters Künste ein weiteres Wunder vollbringen... Er seufzte stumm. Lasst ihn uns hier...

Mutlosigkeit wollte die letzten Reste bisheriger Zuversicht endgültig verdrängen, und um das zu verhindern, legte er seine Wange an die dunklen Haaren Aragorns, dessen Kopf inzwischen bis an seine Halsbeuge gerutscht war.

Wie oft hat Estel sich so an mich geschmiegt, als er noch sehr klein war...

Der Gedanke tauchte spontan auf – und drohte die Mauern seiner Selbstbeherrschung vollends einzureißen. Elladan hatte Aragorn von Beginn an als seinen kleinsten, jüngsten Bruder angesehen, doch wie sehr er ihm inzwischen tatsächlich ans Herz gewachsen war, wurde ihm erst in diesem Augenblick klar. Der Gedanke, Aragorn unwiderruflich zu verlieren, war ebenso schrecklich wie es jene Gewissheit gewesen war, dass es seine Mutter das Leben gekostet hätte, wenn sie in Bruchtal geblieben wäre.

Er schlang seine Arme noch ein Stück fester um Aragorn und beobachtete schweigend, wie sein Vater damit begann, ein Gemisch aus zerriebenen Pflanzen, heilenden Kräuterölen und Salben über und in die Wunde zu streichen.

Als die Tür geräuschlos aufging und Elrohir ins Zimmer stolperte, sahen beide auf.

Der jüngere Zwilling war beinahe so bleich wie Aragorn, als er schließlich nach ein paar Schritten stehenblieb und niedergeschlagen den Kopf schüttelte. „Die verfluchte Pfeilspitze ... ich kann sie einfach nicht finden. Sie lag bei meinen persönlichen Sachen, das weiß ich genau. Jetzt ist sie nicht mehr da. Das ganze Zimmer habe ich auf den Kopf gestellt. Ich habe sogar bei dir nachgesehen..." Er warf Elladan einen entschuldigenden Blick zu. „...aber sie ist fort. Als hätte der Erdboden sie verschluckt." Ratlos blieb sein Blick bei Elrond hängen. „Jemand muss sie aus meinem Zimmer gestohlen haben!"

Ja, dachte Elladan und sah traurig auf Aragorn hinab, dessen Kopf noch immer an seiner Halsbeuge ruhte. Ich weiß auch, wer.

„Er hat sie uns schon damals nur widerwillig überlassen," sagte er zu Elrohir, in dessen Augen nun gleichfalls das Begreifen wuchs. „Ich verwette meine beste Waffe darauf, dass Estel sie aus deinem Zimmer geholt hat!"

Elrohir öffnete den Mund, doch kein Wort kam über seine Lippen, dann wandte er sich wortlos um und verließ erneut das Zimmer. Diesmal dauerte es noch länger, bis er wiederkam, doch der Anblick, den er Vater und Bruder bot, war derselbe wie zuvor: mutlos, enttäuscht, niedergeschlagen. Stumm und verneinend schüttelte er nur den Kopf.

Nichts? Elrond, der inzwischen die Versorgung der eigentlichen Verletzung beendet hatte und bereits dabei war, diverse Tränke und Mittel zusammenzumixen, sah deutlich die Enttäuschung im Gesicht seines Sohnes. Sie glich der, die er selbst verspürte.

„Dann müssen wir mangels besseren Wissens davon ausgehen, dass Gift an dieser Pfeilspitze war," sagte er und fügte der Mixtur den farblosen Inhalt einer weiteren Phiole hinzu. „Viele Gifte sind farblos und manche davon so widerstandsfähig, dass nur Feuer sie wirklich von der Oberfläche einer Waffe tilgen kann. So lange ich sie nicht hier habe, muss ich davon ausgehen, dass es bei jener Pfeilspitze so war."

Er hob den Kelch hoch, in dem sich nun ein Gemisch verschiedenster Heiltränke befand, und trat an das Bett heran.

„Diese Arznei muss Estel zu sich nehmen. Sie ist alles, was ich derzeit für ihn tun kann und sollte zumindest die Entzündung zurückdrängen und sein Fieber senken. Er muss sie schlucken."

Gemeinsam schafften sie es, die fest zusammengepressten Lippen des bewusstlosen Mannes ein Stück zu öffnen und das Mittel tropfenweise in seine Kehle rinnen zu lassen.

Als der Kelch schließlich leer war, stellte Elrond ihn zur Seite. „Leg ihn wieder auf das Bett zurück, Elladan. Ich behalte ihn bei mir, bis ich sehe, welche Wirkung das Mittel zeigt. Was nun euch beide betrifft..."

Er sah die Zwillinge nacheinander an, doch die beiden schenkten ihm nicht die erwartete Aufmerksamkeit. Elladan hatte die letzten Worte seines Vaters offensichtlich nicht wirklich registriert, denn er hielt seinen menschlichen Bruder nach wie vor wie ein kleines Kind in den Armen. Elrohir hatte sich inzwischen auf der anderen Seite des Kopfendes niedergelassen und starrte die zwei an, als drohten sie in eben dem Augenblick zu verschwinden, in dem er seinen Blick von ihnen nahm.

Plötzlich war Elronds Vorsatz, seine Söhne für ihre Unbedachtheit zu tadeln, vergessen. Der Anblick der beiden berührte ihn bis ins Innerste seiner Seele und er begriff, dass es keiner weiteren Worte mehr bedurfte. Keine Maßregelung hätte den zweien die Konsequenzen ihrer Entscheidung klarer machen können, als es jetzt der bloße Anblick Aragorns tat. Alles konnte ein Herz ertragen – Demütigung, Streit, Ablehnung, sogar Entfremdung – doch einen selbstverschuldeten Verlust verkraftete es nur selten. Falls seine Hilfe für Aragorn zu spät gekommen war, würden die beiden für die Endlosigkeit ihrer elbischen Lebenspanne mit dem Wissen und dem auf sich selbst bezogenen Zorn leben müssen, nicht achtsam genug gehandelt zu haben.

Und nichts auf Mittelerde hat die Macht, euch das zu ersparen...

Er wollte den Mund öffnen, seine Söhne zur Ruhe schicken – und brachte keinen Ton heraus, als ungebeten Bilder der Vision sich in seinen inneren Fokus drängten.

Elladan, der das Schwert gegen ihn erhob... „Wehr dich!" ... und es auf ihn niedersausen ließ. Elrohir, sterbend am Boden, gefällt von der Klinge des eigenen Vaters.

Sollte Aragorns Schicksal der Grund für all das kommende Leid sein? Elrond schüttelte den Kopf im verzweifelten Versuch, die Geister einer ungewollten Zukunft für den Augenblick aus seinem Kopf zu vertreiben.

„Geht jetzt," sagte er und seine Worte waren so sanft, dass sie es schafften, die Zwillinge aus ihrer Erstarrung zu reißen. Benommen sahen sie zu ihm empor. „Geht zur Ruhe. Ich werde auf Aragorn achten, bis er außer Gefahr ist und rufe euch, sobald sich etwas ändert."

„Aber, Vater, ich kann Estel doch jetzt nicht..." begann Elladan zu protestieren, doch Elrond unterbrach ihn mit einer einzigen Handbewegung.

„Doch, du kannst und du wirst, weil du es musst. Weil auch du seit heute Abend die Verantwortung für ein Leben trägst."

Langsam beugte er sich zu Elladan nieder, löste dessen noch immer um Aragorn geschlungenen Arme, hob den jungen Menschen vorsichtig aus seinem Griff und legte ihn behutsam auf dem Bett ab. Dann nahm er das Antlitz seines Ältesten zwischen seine Hände und zwang ihn so, ihm in die Augen zu sehen.

„Hör mir zu, mein Sohn. Es waren deine Worte, die mir vorhin in der Kräuterkammer die Augen über gewisse Dinge öffneten und mir den Mut zur Hoffnung gaben. Nimm mir all dies jetzt nicht wieder, sondern vertrau auf deine eigenen Worte. Estel IST stark. Er IST ein Kämpfer, und als so stur, wie wir ihn kennen, wird er sich auch diesmal erweisen."

Er zog ihn vom Bett hoch und legte ihm, ohne den Augenkontakt zu unterbrechen, wie zum Trost kurz einen Arm um die Schultern.

„Morgen früh..." Er sah zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. „...wird Nolana, das Kind, das vorhin kam, jemanden brauchen, an den es sich wenden kann, dem es in dieser völlig fremden Umgebung vertraut. Dann musst du ausgeruht sein, denn diese Aufgabe wird für dich noch anstrengend genug, glaub mir. Oder hast du etwa bereits vergessen, wie Estel in seinen ersten Wochen bei uns war?"

„Nein," erwiderte Elladan leise und spürte, wie die Worte, die er gleich sagen würde, bereits jetzt schmerzten. „Natürlich nicht. " Er sah zu Aragorn hinab, dessen Reglosigkeit mehr und mehr zu einem bösen Omen wurde, während ein Kloß sich in seiner Kehle zu bilden begann. Noch immer glaubte der ältere Zwilling Aragorns Fieberhitze an sich spüren zu können. „Das werde ich nie vergessen."

Elladans Hand streifte Elronds Arm flüchtig. „Danke, Vater. Ich glaube, ich begreife langsam, wie du dich in diesem Augenblick fühlen musst."

Nein, das tust du nicht, und dafür bin ich den Valar sehr, sehr dankbar, erwiderte Elrond in Gedanken, verbarg diese jedoch durch ein beruhigendes Lächeln. „Gut, dann geh. Wenn sich etwas verändert, erfährst du es. Versprochen!"

Fügsam wandte Elladan sich zum Gehen. An der Tür blieb er noch einmal kurz stehen, sah zu Aragorn zurück – und ging, nachdem er sich in einem Gewaltakt von dessen Anblick losgerissen hatte. Die Tür schloss sich beinahe lautlos hinter ihm.

Gut, das war der eine, resümierte der Elbenherr und drehte sich zu Elrohir zurück, der sich noch keinen Millimeter von der Stelle gerührt hatte. Jetzt zu dem anderen.

Er wollte zu einer weiteren Rede ansetzen, doch sein Sohn kam ihm zuvor.

„Ehe du jetzt auch bei mir deine Überredungskünste einsetzt, Vater, will ich dir sagen, dass es vergeblich sein würde. Ich bleibe hier, und du wirst mich schon von den Wachen gewaltsam entfernen lassen müssen, um mich von Estels Seite wegzubekommen. Es war MEINE Verantwortung, während der Jagd auf ihn acht zu geben. Es war MEINE Verantwortung, Estel auch hier im Auge zu behalten, und es lag durchaus in meiner Macht, auch auf diese verfluchte Pfeilspitze acht zu geben. Drei einfache Aufgaben – und dreimal habe ich mich als unfähig erwiesen. Ein viertes Mal lasse ich es nicht zu. Ich bleibe, bis ich sicher weiß, dass er sich wieder erholen wird – und das ist mein letztes Wort!"

Elrond seufzte tief und für seinen Sohn sehr wohl vernehmbar. Ich wusste ja, dass er sehr empfindsam ist, jedoch nicht, dass er meinen Eigensinn geerbt zu haben scheint...

Wortlos ging er zu einem von zwei am Fenster stehenden Sesseln hinüber, setzte sich, dann deutete er auf den anderen.

„Nun gut, ich entspreche deiner Bitte." Er hatte seine Worte mit Bedacht gewählt und sah, wie ein Anflug von Unmut über das Gesicht seines Sohnes huschte. „Über deine drei ... Begründungen ... müssen wir allerdings noch einmal reden. Doch dazu kommst du besser hierher. Lass Estel ruhen, Elrohir."

So nachsichtig Elronds Worte auch klangen – sie wirkten wie ein kalter Wasserschwall. Betreten erhob Elrohir sich und kam zögernd zu seinem Vater hinüber, wo er sich nach einer erneuten Aufforderung schließlich setzte. Elrond wartete, bis sein Sohn sich etwas beruhigt hatte, dann begann er.

„Erstens: Estel ist nicht nur ein fähiger Krieger, sondern auch ein guter Jäger, der genau weiß, worauf es ankommt. Es war nicht seine erste Jagd, wie du wohl weißt. Es hätte jedem passieren können, in diese Pfeilspitze zu treten, doch es ist nun mal ihm passiert. Daran lässt sich nichts ändern oder willst du mir allen Ernstes einreden, dass es deine Pflicht sei, alle seine Wege zu kontrollieren, ehe er sie beschreiten darf?"

„Nein, natürlich nicht, aber..."

„Kein Aber. Habe ich alle deine Wege kontrolliert, ehe du einen Fuß auf sie setzen durftest?"

„Nein," gab Elrohir niedergeschlagen zu. Ihm fielen spontan einige Vorfälle ein, die für ihn ein ähnlich unglückliches Ende genommen hatten, wie es für Aragorn jetzt der Fall war.

„Ich war auch nicht glücklich, wenn DIR in den zweitausendachthundert Jahren deines bisherigen Lebens mal ein Missgeschick widerfahren war, doch ich wusste, dass sich so etwas für niemanden vermeiden lässt. Das ist das Leben."

Elrond verschwieg seinem Sohn wohlweislich, dass er sich insgeheim jedes Mal die gleichen Vorwürfe gemacht hatte wie Elrohir jetzt. „Zweitens: Estel ist inzwischen erwachsen geworden. Glaub mir, niemandem ist es schwerer gefallen, das zu begreifen, als mir. Ich sah Arwen, deinen Bruder und dich vor meinen Augen erwachsen werden, sah, welche Fehler ihr dennoch begingt und wusste, dass auch das Fehlermachen zum Leben dazugehört. Unzählige Male habe ich hier gesessen und mir Vorwürfe gemacht, weil einem von euch mal wieder ein Unglück zugestoßen war. Und weißt du, wodurch mir jedes Mal klar wurde, dass ich keines davon hätte verhindern können?"

Elrohir schüttelte wortlos den Kopf. Er wusste nicht, worauf sein Vater hinauswollte.

„Durch deine Mutter. Sie sagte mir eines Tages bei einer ähnlichen, im übrigen dich betreffenden, Gelegenheit, dass ein Kind nur dann lernt, einem Hindernis aus dem Weg zu gehen, wenn es gemerkt hat, dass da eines ist. Doch gerade dieses Bemerken tut meist weh, und kein Kind – oder in diesem Fall Estel – wird es ohne diesen Schmerz lernen. Begreife es, Elrohir, er ist erwachsen! Du kannst nicht immer hinter ihm herlaufen und ihm alles aus dem Weg räumen, nur damit er sich ja nicht weh tut. Er muss lernen, die Risiken selbst abzuwägen. Du musstest das ja auch lernen, und das war ebenfalls nicht ganz angenehm, wenn ich mich recht entsinne..."

Er lächelte, als er sah, wie Elrohir ertappt zu Boden blickte und flüsterte: „Das war es wirklich nicht."

„Ich sehe, du verstehst mich. Und nun zu drittens. Wenn ich deine Worte vorhin richtig verstanden habe, befand sich diese Pfeilspitze bis vor kurzem noch in deinem Besitz?"

Elrohir nickte.

„Da sie jetzt fort ist und ihr sagt, dass Estel sie euch nur ungern überließ, ist anzunehmen, dass er sie sich wiedergeholt hat. In diesem Fall trifft dich ebenfalls keine Schuld. Sie trifft ihn ganz allein. Du konntest so etwas ja kaum vorhersehen, oder? Warum er so etwas tat, weiß ich zwar nicht, aber das werden wir ihn fragen, wenn er wieder gesund ist. Ich kenne ihn jedoch so gut, dass ich weiß, dass er niemals ohne einen guten Grund an eure privaten Dinge geht."

„Du hast recht, Vater." Elrohir holte hörbar Luft. „Ich weiß, deine Worte waren dazu gedacht, mich zu beruhigen, und das hast du auch geschafft. Doch versteh mich bitte: an meinem Entschluss – und es ist ein Entschluss, keine Bitte – ändert das nichts. Ich werde hier bleiben, bis ich weiß, dass das Schlimmste für Estel vorbei ist!"

Er hat in der Tat meinen Starrsinn! Elrond fühlte sich einen Augenblick lang versucht, die Brauen missbilligend zusammenzuziehen, doch er unterdrückte diese Regung im letzten Augenblick. Sein Sohn war bereits durch die vor ihnen liegende Wartezeit belastet genug – er brauchte nicht noch mehr Kritik. Schließlich nickte er.

„Dann kannst du ja hier Ordnung schaffen." Er deutete auf die Schüsseln mit dem Wasser, die verschmutzten Leinentücher und die Vielzahl der herangeholten Heilmittel. „Ich werde ab und zu nach Estel sehen. Der Trank sollte zumindest sein Fieber bereits ein wenig gesenkt haben."

Er stand auf und Elrohir tat es ihm gleich. „Danach sollte es eigentlich eine ruhige Nacht für uns werden."

Der Elbenfürst konnte nicht ahnen, wie sehr er sich in diesem Punkt irren sollte.

***

wird fortgesetzt