In einer der letzten Reviews wurden wir mit dem Hinweis konfrontiert, dass Menschen nicht in die Hallen von Mandos kommen. An dieser Stelle seht ihr einen erhobenen Zeigefinger, der sich das Recht zum Einspruch nimmt:
Unsere Lexika-Angaben (Robert Foster „Das große Mittelerde-Lexikon"), bezogen auf das „Silmarilion", sagen nämlich folgendes:
Hallen von Mandos - Hallen in der Feste
von Mandos, im fernen Westen Valinors an den Ufern Ekkaias gelegen und mit den gewebten Geschichten Vaires behangen. In diese Hallen, die mit der Zeit immer
weiter werden, kommen die Geister der Menschen und Elben (und vielleicht auch
der Zwerge) nach ihrem Tod, und dort sitzen sie im Schatten ihrer Gedanken. Die
Geister der Elben werden nach einer gewissen Zeit aus den Häusern entlassen und
dürfen frei in Aman leben, doch nach ihrer Zeit des
Wartens verlassen die Geister der Menschen Arda nach
Westen. Wenn die Zwerge überhaupt zu den Häusern kommen, bleiben sie dort in
gesonderten Hallen bis zum Ende.
Unserem Verständnis nach würde Aragorn also nach seinem Tod durch die Hallen wandern (und vielleicht dem einen oder anderen vor ihm verschiedenen Elben noch mal die Hand schütteln können) und dann jenen Weg der Menschen gehen, von denen Tolkien es nicht wagte, ihn näher zu bezeichnen, geschweige denn, das Ziel zu benennen. Irgendwie hätte er sich da wohl in religiöse Nesseln setzen können... *bg*
An dieser Stelle ein Danke an all jene Leser mit der engelsgleichen Geduld, die uns immer noch die Treue halten. Wir werden euch nicht enttäuschen! Dafür ist die Geschichte einfach zu weit mit uns gegangen ... oder wir mit ihr? Hm?! Darüber denken wir ein anderes Mal nach. Fühlt euch alle mal ganz dicht an unsere beiden Herzen gedrückt!
*Hey, nicht so aufdringlich... Finger weg von den Klamotten... es gibt keine Andenken...Wo sind Ranger und Elben, wenn man sie mal braucht... HIIIIILFE...*
__________________________________________________________________________________________Schuld und Sühne
von: Salara und ManuKu
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Teil 18
Morag war es gelungen, die durch den Überraschungsangriff entstandene allgemeine Verwirrung zu nutzen und Bruchtal auf den gleichen Weg wieder zu verlassen, auf dem er mit seinen Kameraden hereingekommen war.
Das Seil hing noch dort an der Steilklippe, wo sie es für die geplante Rückkehr zurückgelassen hatten. Er wußte, dass niemand nach ihm es mehr benutzen würde, also kletterte er mit flinken, routinierten Bewegungen daran in die Höhe. Als er oben angekommen war, riss er sich die Maske vom Gesicht, wandte sich um und starrte in das brutal aus dem Schlaf gerissene Elbental hinunter.
Es erfüllte ihn mit Genugtuung, dass es ihm und seinen Männern gelungen war, die Schwachstellen der sonst so wachsamen Elben erkannt zu haben und an ihnen vorbei bis ins Schloss gelangt zu sein. Sie hatten es sogar geschafft, die Räume der beiden Menschen zu finden, die Gomar unter allen Umständen in seine Finger bekommen wollte.
Wäre es nur darum gegangen, diesen Menschen ihr Leben zu nehmen, wäre die Aufgabe leicht zu erfüllen gewesen. Doch Morag wußte, dass Gomar nie leichte Aufgaben vergab. Er hatte mehr als deutlich gemacht, dass er zumindest den Mann, diesen Aragorn/Estel, unter allen Umständen lebend wollte.
Bereits auf dem Weg hierher hatte Morag sich mit seinen Leuten auf eine Vorgehensweise geeinigt.
Vor ihrem Aufbruch hatten außer ihm noch zwei andere von Gomar ein Fläschchen mit einem rasch wirkenden Betäubungsmittel erhalten. Morag war davon ausgegangen, dass wenigstens zwei von ihnen es zu dem Mann und dem Kind schaffen würden. Diejenigen sollten sie dann betäuben und den anderen ein Zeichen geben. Es war vereinbart, sich dann zu jener Klippe zurückzuziehen, wo Morag und ein zweiter sich dann die beiden Gefangenen auf den Rücken gebunden und am Seil empor wieder nach oben geklettert wären.
In der Planung klang alles ganz einfach – immerhin hatten sie die tiefste Nachtstunde für ihr Eindringen gewählt, in der eigentlich selbst Elben schlafen sollten. Dennoch hatte Morag bereits in dieser Phase des Vorhabens ein ungutes Gefühl in sich verspürt. Der Plan war einfach zu verwegen – und aussichtslos, wie sich gezeigt hatte. Der unerwartete und zudem noch bewaffnete Widerstand, auf den sie gestoßen waren, hatte ihrem Unternehmen dann endgültig den Todesstoß versetzt.
Es war nicht zu ändern: er stand mit leeren Händen hier!
Nachdenklich steuerte Morag der Stelle entgegen, an der sie bei ihrer Ankunft die Pferde verborgen hatten. Auch wenn er nun unverrichteterdinge ins Lager zurückkehrte: Vielleicht war seine Mission doch nicht ganz so erfolglos, wie er zunächst geglaubt hatte. Deutlich war ihm das blasse Gesicht dieses Estel in Erinnerung geblieben. Er hatte so ausgesehen, als stünde er bereits an der Schwelle des Todes. Wenn das stimmte – und die erkennbare Besorgnis der Elben um den reglosen Menschen deutete darauf hin, dass es so war – dann bestand nach seinem Tod für Gomar kein Grund mehr, länger in diesen unfreundlichen Landen zu bleiben. Seine Blutrache wäre schließlich durch die erbarmungslose Hand des Todes vollzogen worden.
Trotzdem blieb das unterschwellige Gefühl der Furcht, das sich wie eine Klammer um Morags Magen presste.
Gomar wird toben, wenn ich ihm diese Nachrichten überbringe. Morag zögerte einen Moment, ehe er auf sein Pferd stieg. Vielleicht tötet er mich sogar. Ich muss verrückt sein, zu ihm zurückzukehren...
Nur für einen winzigen Augenblick dachte Morag über die Möglichkeit nach, einfach fortzureiten und irgendwo, wo ihn keiner kannte, ein neues Leben zu beginnen. Dann schüttelte er entschlossen den Kopf. Er hatte Gomar vor ihrem Aufbruch hierher Ergebenheit und Gehorsam geschworen, und nicht einmal dieses Versagen würde ihn dazu bewegen können, diesen Schwur – als allerersten in seinem Leben – zu brechen. Nein, er würde sich allen Konsequenzen stellen, die ihn durch Gomar erwarteten.
Er hatte die Zügel der anderen, nun herrenlosen Pferde hinten an seinem Sattel befestigt. Sie setzten sich auch bereitwillig in Bewegung, als Morag seinem Tier die Zügel gab, um das Lager schnellstmöglich zu erreichen. Morag hatte keine Wahl, als seinem Herrn zu gehorchen. Nun war ihm in diesem Leben nur noch seine Loyalität zu Gomar geblieben. Alles andere lag viele Tagesreisen entfernt in einem Land, von dem er nicht glaubte, es in diesem Leben noch einmal wieder zu sehen.
***
Als Morag endlich im Lager ankam, war es kurz vor der Morgendämmerung. Das Lager lag still und wie verlassen zwischen den Bäumen. Nur die an den verschiedenen Enden des Lagers aufgestellten Wachen schliefen nicht. Einer von ihnen begrüßte Morag, als er seiner ansichtig wurde. Als er jedoch die verschiedenen Schnittwunden an dessen Körper entdeckte und mit einem Blick stirnrunzelnd feststellte, dass Morag allein zurückgekommen war, flog der Ausdruck mitleidigen Begreifens als Willkommensgruß über sein Gesicht.
„Die anderen...?"
„Haben es nicht geschafft." Morag blieb kurz angebunden, denn in Gedanken war er schon bei Gomar und suchte nach den richtigen Worten, ihm die schlechte Nachricht zu überbringen.
Der wachehaltende Südländer sah Morag nach, als dieser sich ohne ein weiteres Wort Gomars Zelt zuwandte.
Schwache Lichtstrahlen fielen durch den Eingang nach draußen. Sie zeigten ihm, dass Gomar wach war oder sich mal wieder in einem von Drogen hervorgerufenen halluzinierenden Zustand befand und deshalb nicht in der Lage gewesen war, die Lampen zu löschen.
Tief durchatmend schob er die Zeltbahnen am Eingang auseinander, dann trat er ein.
Gomar hockte auf ein paar Kissen und Decken auf der Erde und goss sich gerade einen Becher Wein ein. Als Morag eintrat, sah Gomar auf. Er musterte seinen Untergebenen aufmerksam und nahm jede Einzelheit seiner Erscheinung in sich auf. Was er sah, ließ ihn Becher und Weinkrug zur Seite stellen und sich erheben.
Da Morag den Blick gesenkt hielt, sah er nicht die Wut, die in Gomars Augen brannte und ihn zum wiederholten Mal über jene Grenze stieß, die selbst aus Freunden Feinde machte und sie zu einem werden ließ.
Gomar blieb dicht vor Morag stehen.
„Berichte!" forderte er mit gefährlich leiser und ruhiger Stimme.
Endlich wagte Morag es, aufzuschauen und dem Blick seines Herrn zu begegnen. Mit fester Stimme begann er zu beschreiben, wie sie es geschafft hatten, unbemerkt in Bruchtal einzudringen und das Schloss über die fragilen Gänge zu betreten. Er erzählte, wie sie sich aufgeteilt hatten, um getrennt nach Estel und dem kleinen Mädchen zu suchen.
„...und dann fanden wir das Zimmer von Estel. Drei meiner Männer betraten es über den Balkon..."
„Und?" Obwohl er bereits wusste, dass die Mission schief gelaufen war, wurde Gomar ungeduldig.
„Ich drang mit einigen Männern über die Treppe ein. Als ich mich kurze Zeit später ebenfalls in das Zimmer vorgekämpft hatte, sah ich zwei von den Dreien bereits tot am Boden liegen. Dieser Estel war nicht allein in seinem Zimmer gewesen. Ein Elbe war bei ihm, und dessen erbitterte Gegenwehr verhinderte die Ergreifung des Mannes. Nachdem ich erkannte, dass ich als einziger noch am Leben und die Mission somit nicht mehr auszuführen war, nutzte ich den nächstmöglichen Moment zur Flucht."
„Du hast es zusammen mit elf fähigen Männern geschafft, in eine elbische Zufluchtsstätte einzudringen, die besser bewacht ist als sonst ein Ort, warst sogar in der Lage, bis zu diesem Estel vorzudringen und dann hast du die nächste Möglichkeit genutzt, um zu fliehen?" Gomars Stimme klang wie das Zischen einer Schlange, die man einmal zu viel gereizt hatte.
„Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich kam doch, um Euch davon zu berichten, Herr, damit..." Morag hatte angestrengt herauszufinden versucht, worauf Gomar hinaus wollte, doch in diesem Augenblick sandte ihn ein kräftiger Fausthieb zu Boden. Bevor Morag auch nur Luft holen und sich davon erholen konnte, trat Gomar ihm in die Rippen, wieder und wieder, bis er schwer atmend und zusammengekrümmt auf der Seite liegend wieder zur Besinnung kam.
„Hoch mit dir, du Anfänger!" Gomars dunkle Augen glühten in einem unheilvollen Feuer, als er, dicht vor seinem Untergebenen stehend, auf das Opfer seiner Attacke hinabsah. „Auf die Knie!"
Mühsam quälte Morag sich hoch. Seine Lungen brannten bei jedem Atemzug, der Brustkorb schmerzte auf eine Weise, die verriet, dass Gomars Wutausbruch ihm mindestens eine Rippe gebrochen hatte, der Kopf dröhnte noch immer von dem Faustschlag und Blut perlte aus einem Mundwinkel das Kinn hinab. Kniend blieb er mit gesenktem Haupt vor Gomar sitzen.
„Ich habe versagt, mein Herr," erwiderte er tonlos, wissend, dass auch das nichts mehr helfen würde. „Ich habe Euch enttäuscht. Es tut mir leid..."
„Es tut dir leid?" Gomars Stimme war so schneidend, dass Morag unwillkürlich zusammenzuckte. „Weißt du, was mir leid tut? Mir tut es leid, statt einer zuverlässigen rechten Hand anscheinend einen unfähigen, unberechenbaren, feigen Köter an meiner Seite zu haben, der den Namen Morag trägt und vorgibt, Südländer zu sein! Weißt du, was man mit Hunden macht, die nicht das tun, was man von ihnen erwartet?"
Unvermittelt trat er vor Morag, packte grob dessen Haare und riss den Kopf des Mannes soweit nach hinten, dass dieser gezwungen war, zu ihm empor zu sehen.
„Weißt du es?"
Morag zog es vor, sein Schweigen beizubehalten. Alles, was er sagen konnte, würde seine Lage nur noch verschlimmern.
„Nein?" Gomar hatte offenbar auch keine Antwort erwartet. „Man lehrt diese Hunde Gehorsam, bis sie dankbar sind, tun zu dürfen, was man von ihnen verlangt."
Gomar ließ Morag los und zog statt dessen einen ledernen Gürtel aus den Schlaufen seiner Tunika.
„Vielleicht ist das eine Lektion, die auch du noch zu lernen hast: gehorsam zu tun, was ich von dir erwarte." Er spannte den Gürtel testend zwischen den Händen. Es gab ein knallendes Geräusch, das Morag kurz zusammenzucken ließ. „Zieh dein Hemd aus!"
„Was habt Ihr denn von mir erwartet, Herr?" Morag tat zwar, wie ihm geheißen, doch er wußte auch, dass es an Selbstmord grenzte, jetzt die Stimme zu erheben. Etwas in ihm hatte gerade begonnen, gegen die Besessenheit Gomars aufzubegehren. „Habt Ihr erwartet, dass ich mit den anderen sterbe und Euch damit um das Wissen bringe, wo die Schwächen der Elben liegen? Was hätte ich allein tun sollen, allein gegen eine Übermacht von bewaffneten und zu allem entschlossenen Elben?"
Gomar hatte den Worten seines Untergebenen mit steinerner Miene zugehört. Als Morag geendet hatte, postierte er sich hinter dessen Rücken. Dann beugte er sich zu Morag hinab und fauchte ihm ins Ohr: „Du fragst, was du hättest tun können?"
Alkoholschwangerer Atem strich an Morag vorbei. „Du hättest diesen Estel töten können, als du die Gelegenheit dazu hattest."
„Natürlich hätte ich das tun können, aber was wäre dann mit Eurer Rache gewesen, Herr?" Morag hörte, wie Gomar zurücktrat. Er wußte, dass ihn Unangenehmes erwartete, war aber fest entschlossen, zuvor noch einen letzten Versuch zu unternehmen, Gomar davon abzubringen.
„Ihr seid zwanzig Jahre durch dieses fremde Land geirrt, bis Ihr die zwei Männer und ihre Familien fandet, Herr. Hätte ich diesen Estel jetzt getötet, hätte ich Euch damit um Eure Rache betrogen, oder etwa nicht?"
Plötzlich dämmerte es Morag, dass es im Grunde gar nicht um den schlechten Ausgang des Unternehmens ging. Es ging nur um Gomar, der etwas hinterher jagte, das längst unwiederbringlich verloren war. Warum begriff dieser das nicht? Und noch ehe er sich zurückhalten konnte, entschlüpfte ihm diese Erkenntnis.
„Begreift es doch, Herr: Es gab gar keine Möglichkeit, Euch zufrieden zu stellen. Selbst wenn ich diesen Mann hergebracht hätte, würde das Euren Verlust nicht ungeschehen machen..."
„Sei still!" Noch bevor Morag weiter reden konnte, sauste der Gürtel Gomars mit der Schnalle voran auf seinen Rücken nieder.
„Sei still! Sei endlich still, du Bastard..." Wütend hieb Gomar ein weiteres Mal auf seinen Untergebenen ein. Und Morag wusste instinktiv, dass sein Herr ihn mit diesen Schlägen zum Schweigen bringen wollte, weil er ins Schwarze getroffen hatte. Nichts war schlimmer, als sich von einem Untergebenen eine Wahrheit sagen lassen zu müssen, die man sich selbst nicht eingestehen will.
Morag biss die Zähne zusammen, doch bald begannen ihm leise Laute des Schmerzes zu entschlüpfen. Es war, als würden sie Gomars Wut nur noch weiter anstacheln, denn die Hiebe wurden härter.
„Du wirst lernen, zu gehorchen!"
Ein heftiger Schlag landete auf Morags Schulter.
„Du wirst lernen, zu schweigen!"
Ein weiter Hieb fuhr quer über seinen Rücken.
„Du wirst dafür sorgen, dass ich bekomme, was mein ist."
Erneut sauste der Gürtel nieder.
„Du wirst..."
Die Schläge dauerten an, bis Morags Rücken blutüberströmt war und er vor Schmerzen zur Seite sackte. Dann erst hielt Gomar endlich inne. Ihm war schließlich doch noch klar geworden, dass seine Wut so nicht verrauchen würde, selbst wenn er Morag totprügelte.
Er warf den inzwischen blutigen Gürtel zur Seite und wandte sich dem Ausgang seines Zeltes zu. Bevor er jedoch hindurchgehen konnte, hielt ihn die schwache Stimme Morags noch einmal zurück.
„Herr?"
„Was?" erwiderte Gomar, ohne sich umzudrehen.
„Der Sohn des Verräters, dieser Estel... Ich habe ihn gesehen. Er sah todkrank aus. Vielleicht lebt er nicht mehr lange..."
„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Ich will kein Vielleicht. Ich will Sicherheit darüber!"
Mit diesen Worten stürmte er hinaus und wenige Augenblicke später hallten die Bäume von Rivars Schreien wider.
***
Es dauerte eine Weile, bis Gomar sich beruhigt hatte. Diesmal war es ihm nicht genug gewesen, Rivar einfach nur zum Schreien zu bringen. Diesmal wollte er, dass kein Ton mehr aus einer Kehle kam, die immer noch schrie...
Als er wieder bei Sinnen war, rief er seine Männer zusammen und unterrichtete sie von den Ereignissen in Bruchtal.
„Ich werde mich davon nicht aufhalten lassen. Wir haben zwanzig Jahre gesucht und sind endlich fündig geworden. Ich gebe so kurz vor dem Ziel nicht mehr auf. Es wird einen weiteren Weg nach Bruchtal hinein geben und ihr werdet ihn finden!"
Er musterte seine Leute grimmig. Dann wies er auf drei junge Männer, die seit letztem Winter seiner Truppe angehörten. Sie hatten das Aussehen der hiesigen Bevölkerung und konnten sich, ohne aufzufallen, unter die Menschen mischen, um Informationen zu erlangen.
„Du, du und du. Kommt her," forderte er die Männer auf. Die drei schauten sich gegenseitig an, folgten dann jedoch der Aufforderung.
„Habt ihr es satt, in diesem Lager herumzusitzen und zu warten?" Gomar beobachtete die Reaktion. Als er sah, wie es in den Augen der jungen Männer aufblitzte, erkannte er, dass er die richtige Wahl getroffen hatten. Sie wollten raus, sie wollten etwas tun, sie wollten kämpfen oder jemanden zum Reden bringen – alles, nur nicht im Lager herumsitzen und warten.
„Sehr gut. Dann geht ins nächste Dorf, besorgt euch die Kleidung normaler Dörfler und schleicht euch an den Wachringen vorbei in die Nähe des Tals. Versucht es zunächst an jener Stelle, die eure Kameraden heute nacht benutzt haben. Geht ins Tal hinein, wenn sich kein geeigneter Beobachtungsposten findet. Wir wissen, dass die Elben Handel mit der hiesigen Bevölkerung treiben. Ihr Tal ist zu klein, um zum Beispiel Weizenfelder anzulegen. Ein paar Dörfler mehr werden da nicht weiter auffallen. Verhaltet euch unauffällig. Bewegt euch wie Schlangen, kriecht unterwürfig, wenn es sein muss, aber bleibt gefährlich und bereit, jederzeit zuzustoßen. Und sollte sich doch noch eine Möglichkeit ergeben, an diesen Estel heranzukommen, dann ergreift sie. Aber geht kein unnötiges Risiko ein. Seht hin, beobachtet, merkt euch alles, was von Bedeutung sein könnte für einen weiteren Angriff."
„Wir werden euch nicht enttäuschen, Herr." Die ausgewählten Männer tauschten selbstbewusste Blicke miteinander aus, dann runzelte einer die Stirn. „Was ist mit diesem Kind? Sollen wir auch versuchen...?"
„Nein!" Gomar schnitt ihm das Wort ab. „Das Kind ist nicht von Bedeutung. Es ist nicht mit dem Verräter verwandt. Solltet ihr es unbemerkt schnappen können – gut. Wenn nicht, vergesst es! Ich will den Mann. Und nun geht!"
Die Männer nickten, als Gomar ihnen einen Wink gab, und liefen zu ihren Zelten. Dort packten sie ein paar Sachen und sattelten dann ihre Pferde. So würden sie schnell ins nächste Dorf kommen. Die Pferde konnten sie, wenn nötig, gegen einen alten Karren mit Gespann eintauschen, mit dem sie dann den Gefangenen transportieren konnten – sollte ihnen das Glück hold sein.
Gomar sah seinen Männern hinterher, wie sie zwischen den Bäumen hindurch in der Ferne verschwanden. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Morag irgendwann an seine Seite trat. Die Bewegungen seines Befehlshabers waren vorsichtig und ungelenk, doch seine Gestalt war erstaunlich gestrafft. Er trug nun auch wieder eine saubere Tunika.
„Ihr wollt es also noch einmal versuchen?"
„Die Elben mögen jetzt wachsamer sein, aber sie können sich nicht von den Menschen isolieren. Das ist ihre Schwäche, Morag, und so werden wir ihnen nahe kommen können."
Gomar überlegte kurz. Es tat ihm nicht leid, dass er Morag verprügelt hatte, doch er wollte ihm zeigen, dass er immer noch viel von ihm als Berater hielt.
„Es war damals eine gute Idee von dir, Einheimische zu rekrutieren, um unsere Truppe aufzufrischen. Ihr Aussehen kommt uns jetzt zugute."
Morag überlegte kurz und kam dann zu dem Schluss, dass dies vermutlich der einzige Plan war, der Aussichten auf Erfolg hatte. Auch, wenn Morag seinen Anführer nach wie vor für krankhaft besessen hielt – möglicherweise konnte so sein Vorhaben doch noch gelingen.
Er warf einen kurzen Blick hinüber zu Rivar, der bewusstlos und blutüberströmt zwischen den Bäumen hing.
Vielleicht würde bald ein weiterer Mann auf dieselbe Art unsägliche Qualen erleiden.
Vielleicht würde danach alles ein Ende haben.
Vielleicht könnten sie doch noch in ihre warme Heimat zurückkehren – doch erst dann, wenn die Rache Gomars endlich ein Teil der Vergangenheit geworden war...
***
Die Stille, die dem Kampfgeschehen folgte, war ebenso dicht und bedrückend wie der widerwärtige Geruch von vergossenem Blut.
Während Elrond die Wunden versorgte, die Legolas sich während des Gefechts zugezogen hatte, kniete Elrohir neben den getöteten Südländern und begann sie zu durchsuchen. Nach wenigen Augenblicken stießen seine Finger auf eine kleine Flasche, die einer der Männer bei sich trug.
„Was ist das?" Neugierig holte er die Phiole hervor, entstöpselte sie und schnupperte daran, um sofort angewidert das Gesicht zu verziehen. „Ein Betäubungsmittel."
So vorsichtig, als könne allein die Berührung der Flasche ausreichen, ihn in tiefen Schlaf zu versetzen, verschloß er sie wieder. Dann sah er zu seinem Vater hinüber, der ihm einen finsteren Seitenblick zuwarf. Damit wurde ihre Vermutung zur Gewißheit. Dieser heimtückische Überfall hatte Aragorn gegolten.
„Ich weiß nicht, was mir mehr Furcht einflößt: dass diese verfluchte Pfeilspitze beinahe Estels Leben gekostet hätte oder das Wissen, dass wir im Grunde nur ihretwegen in seiner Nähe waren, als der Angriff geschah." Elrohir stand auf und trat zu seinem Vater, der gerade den letzten Verband um Legolas' Arm schlang. „Sie waren wie Schatten. Und unglaublich gut. Normalerweise wäre er allein gewesen und keiner von uns hätte ihr Eindringen bemerkt. Estels Verschwinden wäre uns vermutlich erst morgen früh aufgefallen. Und ich will mir gar nicht vorstellen, was sie in dieser Zeit schon alles mit ihm angestellt hätten..."
Elrond teilte die Besorgnis seines Sohnes, hütete sich jedoch, dies deutlich werden zu lassen. Die Anspannung aller befand sich auch so bereits auf einem viel zu hohen Maß.
„Zwar ahnte ich, dass sie versuchen würden, ihn sich zu holen..." Er nickte dem Prinzen kurz zu, der sich seine blutbefleckte Tunika daraufhin wieder anzog. „...nur hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie es schaffen würden, sämtliche Wachlinien Glorfindels unbemerkt zu überwinden und ins Schloss zu gelangen. Sie sind nicht nur gut – sie sind offenbar auch überaus gefährlich!"
Der Elbenherr griff nach einem weiteren Stück Leinen, schüttete eine wasserklare Flüssigkeit darauf und begann dann, seine eigene Wunde – einen tiefen Schnitt quer über die Länge seines linken Oberarms – zu säubern.
„Wie viele sind es, was denkst du?" Elrohir nahm seinem Vater den Leinenstreifen aus der Hand und setzte dessen Tätigkeit fort.
„Ich weiß es nicht." Elrond ließ sich nicht anmerken, dass der Schmerz inzwischen wie Feuer durch seinen Arm schoß. „Aber es sind sicher noch mehr als nur diese hier. Sie waren offenbar nur ein kleines Vorauskommando für einen Überraschungsanschlag."
„Der beinahe auch geglückt wäre," resümierte Legolas leise, der sich wieder in den neben Aragorns Bett stehenden Sessel zurückgezogen hatte. Sein Blick haftete unverwandt auf der bleichen Miene seines Freundes. „Das nächste Mal hat er vielleicht nicht mehr so viel Glück!"
„Wir lassen ihn von nun an eben nicht mehr allein." Elrohir wickelte einen Verband um die Verletzung an Elronds Arm, dann trat er zurück und sah entschlossen zwischen Legolas und seinem Vater hin und her. „Wir alle werden abwechselnd bei ihm bleiben. Außerdem lasse ich zusätzliche Wachen an Estels Tür postieren. Ich gebe gleich die nötigen Befehle..."
„Warte noch!"
Elrond waren während des Kampfes im Gang die blauen Augen eines der Fremden aufgefallen. Der Verdacht, den er seither hegte, ließ ihn nicht los und verlangte nach einer Bestätigung. Er ging an seinem Sohn vorbei auf eine der Leichen zu und zog ihr mit einer flinken Handbewegung schließlich die Gesichtsmaske fort. Zum Vorschein kamen eine erstaunlich helle Hautfarbe und mittelblondes Haar, und ein flüchtiger Blick in die nunmehr gebrochenen Augen des Angreifers enthüllte deutlich deren graue Farbe.
„Dieser Mann hat die südlichen Lande nie gesehen."
Er trat zum zweiten, vollführte die gleiche Handlung.
„Auch dieser war nie dort."
Erst beim dritten Toten fand der Elbenherr wie erwartet eine dunkle Hautfarbe und schwarzes Haar.
„Wie ich es mir gedacht hatte." Er richtete sich auf und sah Elrohir und Legolas an. „Die Gefahr ist vielleicht größer, als wir glauben. Zwei von dreien sind hier in den Landstrichen des Nordens groß geworden. Wenn sich unter den Südländern auch angeworbene Söldner befinden und sie alle über die gleiche Geschicklichkeit und Kampfkunst verfügen wie diese beiden hier, könnte es gut sein, dass sich in den Wäldern um Bruchtal eine kleine Armee versteckt hält, die es durchaus mit unseren Kriegern aufnehmen kann. Möglicherweise sind sie schon seit längerer Zeit in der Nähe und haben uns bereits vor Rivars Gefangennahme ausgekundschaftet."
„Aber wie? Hätten die Patrouillen das nicht bemerken müssen?"
„Nicht unbedingt." Elrond trat zurück. „Vielleicht stammte nicht jeder Mensch, der in den letzten Wochen mit Gütern oder Nahrungsmitteln zu uns kam, aus den umliegenden Dörfern. Wir können nicht jedem, der Handel mit uns treibt, mit Misstrauen begegnen. Immerhin brauchen wir die Menschen, um die Bewohner Bruchtals zu versorgen. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass unsere Gegner möglicherweise bereits besser über Bruchtal Bescheid wissen, als uns lieb sein kann."
Die Worte des Elben hingen wie eine düstere Prophezeiung in der Luft. Plötzlich war die Gefahr, die sie alle umgab, fast greifbar geworden – greifbarer, als die Worte des Kindes sie hatte erscheinen lassen. Schließlich trat Elrond an Elrohirs Seite trat und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Noch eine weitere Sorge lastete auf Elronds Seele, und nun, wo der Kampf in Aragorns Zimmer vorbei war, ließ zumindest sie sich nicht länger unterdrücken.
„Geh, sieh nach Elladan und dem Kind. Dein Bruder ist zwar einer der besten Kämpfer Mittelerdes, doch mich erfüllt Sorge um die beiden, da ich noch immer nichts von ihnen gehört habe..."
Als wären seine Worte das Signal gewesen, öffnete sich in diesem Augenblick die Tür. Gleich darauf trat Elladan in Aragorns Zimmer. Flink nahmen die Augen des ältesten Zwillings die Situation in sich auf. Als er sah, dass es seiner Familie gut ging und die Gefahr gebannt war, huschte Erleichterung über seine Züge.
„Elladan!" Schneller, als man es sonst bei ihm sah, kam Elrond auf seinen Sohn zu, bis er neben ihm stehen blieb. „Den Valar sei Dank, es geht euch gut."
„Bei uns ist alles in Ordnung, Vater!" Elladan lächelte beruhigend, während er sein blutbesudeltes Schwert mit vielsagendem Blick dem heraneilenden Elrohir reichte, der es hastig aus der Sichtweite des Kindes beförderte. „Ich werde Nolana für diese Nacht in meinem Zimmer unterbringen."
„Ich verstehe," erwiderte Elrond, um gleich darauf auf Sindarin die Frage „Wie viele?" zu formulieren.
„Zwei," antwortete Elladan genauso und strich der Kleinen, die noch immer mit furchtsamen Augen in die Umgebung starrte, tröstend mit der nun freien Hand über die Wange. Er hatte das in die Decke eingewickelte Kind auf dem Arm. „Wie geht es Estel?"
Aller Augen richteten sich auf Aragorn, dessen Gestalt sich unter der Bettdecke undeutlich abzeichnete.
„Sein Zustand ist nach wie vor ernst, vor allem, seit er versucht hat, uns zu Hilfe zu kommen." Noch immer berührt von der Sorge seines menschlichen Sohnes schüttelte Elrond unmerklich den Kopf über dessen Versuch, aufzustehen. „Aber ich hege die starke Hoffnung, dass sein Fieber den Höhepunkt bis zum Morgendämmern überschritten haben wird. Sobald das der Fall ist, geht es wieder aufwärts mit ihm."
„Das ist gut zu hören." Elladan atmete beruhigt auf. „Dann werde ich diese kleine Dame hier mal zu Bett bringen. Für sie war diese Nacht aufregend genug."
Er wollte gehen, überlegte es sich dann jedoch anders und steuerte das Schränkchen an, auf dem Elrond die Heiltränke für Aragorn platziert hatte. Nach kurzem Zögern wählte er eines der Fläschchen – ein leichtes Schlafmittel – aus, dann ging er zur Tür und öffnete sie.
„Ich bin bald wieder da, dann können wir reden," sagte er in Sindarin, damit das Kind ihn nicht verstand. Und an Nolana gewandt fügte er in Westron hinzu: „Komm, jetzt zeige ich dir mein Zimmer."
Die Tür schloß sich gleich darauf wieder hinter ihm.
***
Nach kurzer Zeit waren die Leichen der Angreifer fortgeschafft und die betreffenden Räume gesäubert worden. Glorfindel, der angesichts des nächtlichen Überfalls überaus wütend war, verstärkte die Wachen rund um das Schloss und postierte weitere Doppelposten innerhalb des Gebäudes. Dann – als sei der Angriff nur durch sein persönliches Versagen möglich geworden – wählte er sich einige Männer aus und begab sich mit ihnen auf Patrouille. Er schwor Elrond, nicht eher zurückzukehren, bis er den Durchschlupf der Angreifer gefunden hatte.
Glorfindel konnte es sich zudem nicht verzeihen, dass er den Teil des Schlosses, in dem sich Lord Elrond und seine Familie aufhielt, so unbeschützt gelassen hatte. Bis die Wachen, durch den Kampflärm herbeigerufen, aus den unteren Bereichen endlich den Gang erreichten, war der Kampf schon wieder beendet. Doch der nächtliche Sieg vermochte Glorfindel nicht zu beruhigen: es hätte auch anders ausgehen können. Und genau dieser Gedanke machte dem Kämpfer aus Gondolin noch immer schwer zu schaffen, während seine Männer und er die Umgebung des Schlosses überprüften.
Da alle einen Angriff bei Tageslicht für ausgeschlossen hielten, einigten die Zwillinge, Legolas und Elrond sich darauf, Aragorn nachts von nun an nicht mehr aus den Augen zu lassen, bis er wieder genesen oder die unmittelbare Gefahr für ihn gebannt war. Während der ziemlich widerstrebende Legolas und Elladan sich schließlich zur Ruhe begaben, blieben Elrohir und Elrond bei Aragorn.
Elronds Voraussage bewahrheitete sich schließlich. Als der neue Tag regengrau am fernen Horizont heraufdämmerte, sank Aragorns Fieber endlich. Er erwachte zwar nicht, doch sein Atem ging wieder ruhiger und kräftiger. Es sah alles nach einer Besserung seines Befindens aus.
***
Es war kurz nach Tagesanbruch, als Glorfindel auf seinem Kontrollritt schließlich zu jener Steilklippe kam, die er und Elrond bislang stets als unbezwingbar angesehen hatten. Der Elbe erinnerte sich genau daran, dass er zwei Wachleute hier eingesetzt hatte. Um so alarmierter war er, als sie auf seine Rufe nicht antworteten. Er ließ seine Leute ausschwärmen.
„Hierher!" Einer der zur Suche ausgeschickten Elbenkrieger stand am Rande eines größeren Bereiches dichten Unterholzes und winkte seinen Befehlshaber nun heran. Selbst auf die Entfernung vermochte Glorfindel bereits die Trauer auf dem Gesicht des Kriegers zu erkennen. Der Kämpfer aus Gondolin hatte schon kurz nach ihrer Ankunft hier eine tiefgehende Unruhe in sich verspürt. Er ahnte, welcher Anblick ihn erwartete, als er neben dem Elben stehenblieb und unter das Gebüsch spähte.
Die beiden Männer waren in das Dickicht geschleift und dort unter den dornigen Zweigen des Busches aufeinandergeschichtet worden. Das Dämmerlicht umgab ihre Körper mit gnädigen Schleiern, doch es vermochte nicht die Blutlachen zu verbergen, die um sie herum auf dem Gras getrocknet waren.
Glorfindel beugte sich zu den Toten hinab. Er kannte beide, hatte ihre Entwicklung mit Aufmerksamkeit und geheimer Freude beobachtet. Es waren bewährte Männer gewesen, zuverlässig, geschickt, gute Kämpfer, die ihrem Herrn treu ergeben waren. Dafür hatten sie nun mit dem Leben bezahlt.
„Holt sie da raus."
Inzwischen waren auch die anderen herangekommen. Nach wenigen Momenten lagen die beiden vor ihm auf dem Boden. Gebrochene blaue Augen starrten zum Himmel. Glorfindel sah, dass etwas metallisch glänzendes in beiden Kehlen steckte. Vorsichtig zog er einen der Gegenstände aus der Wunde, doch bereits der erste Blick erfüllte ihn mit neuem Zorn. Er kannte diese Waffe.
Wütend presste er die Lippen zusammen und schleuderte den Wurfstern zur Seite. Mehr denn je war Glorfindel entschlossen, den Urheber all der Vorgänge zur Strecke zu bringen.
Sein Blick glitt vom Dickicht fort über den Boden bis in die Tiefen des Waldes hinein. Es würde nicht schwer sein, der Spur, die die Angreifer hinterlassen hatten, zu folgen. Doch zuvor musste er erst die beiden Getöteten zurückbringen, Elrond über seine Entdeckung informieren und Verstärkung holen.
„Legt sie auf die Pferde. Ich werde ihre Körper heimbringen, auf dass man sie ehrenvoll zur Ruhe bettet."
Er sah kurz zur Seite, dorthin, wo die Steilklippe jäh abbrach und in die Tiefe führte. Wenn man nur nahe genug an ihren Rand herantrat, konnte man die darunter in den Fels gegrabene Treppe erkennen, die zu den Ruhestätten der Verstorbenen führte. Wie grausam das Schicksal sein kann, sinnierte Glorfindel bitter, der Tod ereilte ausgerechnet jene Männer, die sein Reich nur beschützen wollten. Er seufzte lautlos. Der Elbe wußte, dass er die beiden Toten erst bis an das entfernte Ende des Tales schaffen mußte, zu einem der zwei Zugänge ins Herz Bruchtals. Es würde einige Zeit dauern, bis er von dort aus die Halle des Abschieds erreicht hatte. Erst, wenn er wieder hierher zurückgekehrt war, konnte er daran gehen, die Angreifer zu jagen. Er sah seine Männer an.
„Bis ich zurück bin, versteckt euch und eure Pferde gut, im Falle, dass die Südländer zurückkommen sollten. Vergesst nicht, sie sind gefährlich und unsichtbar wie Schatten in der Nacht, also lasst äußerste Vorsicht walten. Ich will niemanden mehr an Mandos' Hallen verlieren."
Zwei der Krieger halfen ihm, die Getöteten sicher auf den Rücken der Pferde zu befestigen, dann bestieg Glorfindel Asfaloth und bedeutete einem Krieger, es ihm gleichzutun. Sein Blick wanderte über die vor ihm versammelten Elben, ehe er seinem Pferd die Zügel gab und fortritt.
***
Zur gleichen Zeit erwachte Assat aus einem tiefen, traumlosen Schlaf.
Seit seiner Ankunft hatte er das Erstaunen über die Schönheit des Tals nicht abschütteln können, und obgleich die elbischen Heiler ihm verboten hatten, sein Bett zu verlassen, war er in einem unbeobachteten Moment an eines der vielen Fenster gegangen und hatte von dort aus stumm die Idylle dieses Ortes betrachtet. Natürlich hatte man ihn bei seinem „Ausflug" ertappt und mit vorwurfsvollen Blicken zu seinem Lager zurückgebracht, wo zuerst die Hand und dann sein Rücken neu verbunden worden war. Über letzterem war er schließlich eingeschlafen, um erst an diesem Morgen wieder zu erwachen.
Assat brauchte einige Momente, um die letzten Reste der Müdigkeit abzuschütteln, dann richtete er sich langsam auf, bis er endlich auf der Bettkante saß. Der Schmerz, der durch seinen Rücken flutete, war inzwischen erträglich geworden. Noch ein paar Tage, so schätzte Assat, dann würde er ganz verschwunden sein. Bis dahin würden dank der erstaunlichen Kenntnisse der Elbenheiler auch die schlimmsten Verletzungen an seiner Hand halbwegs zu heilen beginnen. Was er dann tun sollte, wußte Assat noch nicht, doch in sein altes Leben wollte er nicht mehr zurück. Es war, wie er es Legolas unterwegs gesagt hatte: es war unwiederbringlich zu Vergangenheit geworden.
Assat hatte den Prinz seit ihrer nächtlichen Ankunft nicht mehr gesehen, doch er vermutete, dass Legolas sich von den Anstrengungen der Reise ausruhte. Es war ihn natürlich nicht entgangen, dass der Elbe so gut wie nie geschlafen hatte und stets wachsam in ihrer unmittelbaren Nähe geblieben war, vor allem nach dem Absturz im Gebirge, der Miro so übel zugerichtet hatte.
Sein Blick wanderte zum Nachbarbett weiter, in dem dieser lag. Seit ihrer Ankunft hier hatten die zwei noch kein Wort miteinander gewechselt, denn Miro schlief meist, so wie auch jetzt. Doch Assat hatte die Heiler sagen hören, dass der Junge noch immer ziemlich krank war. Die Worte hatten Assat einen Stich versetzt, und seither grübelte er darüber nach, weshalb er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit so um das Schicksal des Jungen besorgt war.
Für einige Momente betrachtete Assat ihn. Das Dämmerlicht ließ Miro erschreckend jung aussehen. Es war ein Anblick größter Verletzlichkeit.
Der Verlust von Andrim und meinen Leuten macht mir noch immer zu schaffen, doch der Gedanke, auch den Jungen sterben sehen zu müssen, ist fast genauso schrecklich. Warum ist das so?
Seufzend ließ Assat seine Augen durch den Raum wandern. Er war es leid, in diesen Räumen eingesperrt zu sein, die jeden klaren Gedanken auszusperren schienen. Plötzlich hatte er den dringenden Wunsch, frische Luft zu atmen und den Wind auf der Haut zu spüren. Die Antwort, die er suchte, würde sich ihm verschließen, solange er hier blieb.
Kurzentschlossen zog er sich das Hemd an, das man ihm am Vortag gebracht hatte, dann stand er auf. Gegen einen kleinen Spaziergang würde sicher niemand etwas einzuwenden haben.
Er verließ die Halle der Heiler und schlug einen Weg ein, der seitlich am Schloss vorbei in die dahinter gelegenen Bereiche des Tales führte.
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Auch Legolas hatte nicht die Ruhe gefunden, die sein Körper zur Heilung der beim Kampf erhaltenen Wunden eigentlich benötigte. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Aragorn zurück, der einige Zimmer weiter unter den wachsamen Augen seines Vaters und seines Bruders der Genesung entgegenschlief. Die zwei hatten ihn buchstäblich aus dem Zimmer geworfen, doch letztendlich hatte Legolas es geschehen lassen, weil er wußte, dass sie es nur aus Sorge um seine Gesundheit taten.
Dennoch wälzte er sich rastlos auf seinem Lager hin und her. Er sah die tiefe Finsternis langsam dem Morgen weichen, sah wie sich die Wipfel der Bäume im Herbststurm bogen und konnte in der Luft riechen, dass Regen nicht mehr fern war.
Schließlich hatte er genug davon, die Decke des Raumes anzustarren. Legolas stand auf, zog sich um und verließ das Gästezimmer. Auf dem Gang überlegte er, kurz bei Aragorn vorbeizusehen, doch da man ihn nachdrücklich ermahnt hatte, sich vor Mittag dort nicht sehen zu lassen, wandte er sich schließlich schulterzuckend der Treppe zu. Da waren ja auch noch seine beiden Reisegefährten, nach denen er ohnehin hatte sehen wollen...
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Je mehr Assat von Bruchtal sah, desto stärker zog ihn die Schönheit dieses Ortes in seinen Bann. Die durch fragile Gänge miteinander verbundenen Gebäude schmiegten sich so natürlich an die Felswände des Tales, als hätte die Natur selbst sie dort entstehen lassen, das Rauschen der Wasserfälle schien die innere Kraft zu erneuern, wenn man ihnen nur lange genug lauschte, und alles war durchdrungen von einer Atmosphäre des Friedens.
Hier könnte man sein Leben verbringen und dabei alles und jeden vergessen, dachte er, während die verschlungenen Wege ihn quer durch das Tal führten. Wenn dieser Estel hier aufgewachsen ist, ist es kein Wunder, dass er damals einen so außergewöhnlichen Eindruck auf mich machte.
Die Spitze einer Lanze an seiner Brust riss ihn ziemlich unsanft aus seiner Versunkenheit.
„Halt! Wer bist du? Was suchst du in diesem Teil des Schlossgeländes? Menschen ist nur der Zugang zu den Wirtschaftsgebäuden gestattet."
Noch tief in seinen Gedanken versunken, griff Assat, einem eingeschliffenen Reflex folgend, sofort mit der Hand nach seinem Schwert. Er trug jedoch keines.
Der Wächter hatte die Bewegung gesehen und sofort als versuchten Angriff missdeutet. Noch ehe Assat Luft holen konnte, packten zwei kräftige Hände die seinen, wirbelten ihn herum, um ihn dann recht unsanft gegen den nächsten Baumstamm zu schleudern. Der Aufprall presste ihm für einen Augenblick die Luft aus den Lungen und ließ weiße Sterne vor seinen Augen aufflammen, während angesichts der groben Behandlung neuer Schmerz durch seine zerfetzte Hand fuhr.
„Ich bin..." setzte Assat nach einigen Sekunden zu einer Erklärung an, doch eine Stimme, die er inzwischen gut kannte, kam ihm zuvor.
„Lasst ihn los! Er gehört zu mir!"
Augenblicklich verschwanden die Hände, die ihn bis eben noch mit eisernen Griffen gegen die raue Rinde des Baumes gepresst hatten. Ärgerlich und schmerzgeplagt gleichermaßen biss Assat die Zähne zusammen, als er sich schließlich umwandte. In ein paar Schritten Entfernung stand Legolas vor den beiden Wachen, die jedoch längst nicht so betreten wirkten, wie sie es Assats Ansicht nach eigentlich tun sollten.
„Verzeiht uns, mein Prinz, das wussten wir nicht. Lord Glorfindels Anweisungen lauten, jeden Unbefugten zu stoppen, der dem Schloss näher als hundert Schritte kommt. Er meinte vor allem Menschen..."
„Ich verstehe schon." Legolas warf Assat einen raschen Blick zu und runzelte unmerklich die Stirn, als er Anzeichen von unterdrücktem Schmerz in dessen Miene erkannte. „Diesen Mann hier lasst künftig unbehelligt. Ich verbürge mich für ihn!"
„Euer Wort genügt uns!"
Die Wachen warfen Assat einen letzten, deutlich misstrauischen Blick zu, verbeugten sich dann ehrerbietig vor Legolas und setzten ihren Rundgang schließlich fort. Der Elbenprinz sah ihnen einen Moment nach, bis sie außer Hörweite waren, dann trat er an die Seite des Menschen.
„Seit heute nacht ist man hier sehr empfindlich, wenn es um Fremde geht. So empfindlich wie ich, wenn es um zu befolgende Anweisungen geht." Legolas sah Assat tadelnd an. „Soweit man mir sagte, hattet Ihr die Anweisung, liegen zu bleiben. Die Heiler sind ziemlich ungehalten über Euer eigenmächtiges Verschwinden, Assat. Und sie werden auch nicht begeistert sein, Eure Verletzungen erneut versorgen zu müssen."
Assats Blick folgte dem von Legolas bis zu seiner bandagierten Hand. Auf den weißen Leinenbinden breiteten sich bereits rote Flecken aus. Blut. Die Wunden hatten sich wieder geöffnet. Er schnaufte frustriert.
„Dabei wollte ich einfach nur mal raus aus dieser Halle, in der man nicht denken kann. Ich fühlte mich dort so beengt. Die Halle erinnert mich an den Tod..."
An den Tod meiner Männer. Sie hatten keine Heiler, die sich um sie kümmern konnten...
„So friedlich dieses Tal auch erscheinen mag, so hat es doch bereits mehr Tod und Verderben gesehen, als Ihr ahnt." Legolas' Stimme hatte plötzlich einen schwermütigen Unterton angenommen. „In der letzten Nacht wurde Bruchtal angegriffen. Fast alle Angreifer konnten besiegt werden. Einer jedoch entkam. Wir befürchten, dass er mit mehr Männern wiederkommt, um seinen Auftrag zu erfüllen."
„Daher also die vielen Wachposten überall." Assats Blick überflog die Umgebung. Plötzlich ergab die Feindseligkeit ihm gegenüber einen Sinn. „Es waren Menschen, nicht wahr? Die Angreifer, meine ich."
„Ja." Legolas nickte, dann deutete er mit der Hand auf den Weg. „Lasst uns zur Halle der Heiler gehen. Ich gab mein Wort, Euch zurückzubringen."
Assat setzte sich – wenn auch schweren Herzens – in Bewegung, und Legolas schloß sich ihm an. Eine Zeitlang schwiegen die zwei, dann sah Assat den Elben nachdenklich an. „Erklärt mir etwas, Prinz. Erst die Wachen, jetzt die Heiler... Warum bürgt Ihr mit Eurem Wort für einen Fremden? Ich weiß, dass dieser Estel Euch erzählte, wer ich bin und was ich tat..."
„Es war nicht Eure Hand am Bogen, dessen Pfeil mich traf. Und nicht Ihr wart es, der Estel in Ardaneh in den Hinterhalt lockte. Ihr mögt Euren Lebensunterhalt bisher mit gefährlichen Dingen verdient haben, das ist wahr. Während unserer Reise nach Bruchtal hatte ich jedoch Gelegenheit, Euch zu beobachten, zu sehen, wie Ihr Euch um Mirodas sorgt."
Ihr wißt noch nicht, wie sehr Ihr Euch inzwischen verändert habt, fügte Legolas in Gedanken hinzu und lächelte unmerklich. „Ich bürge mit gutem Gewissen für jenen Assat, den ich jetzt sehe, nicht für jenen, der Ihr möglicherweise wieder sein werdet, wenn Ihr Bruchtal verlassen habt."
Assat schwieg darauf. Die Worte des Elben lasteten schwer auf seiner Seele, denn noch nie zuvor hatte jemand ein so großes Vertrauen in ihn gesetzt, wie es Legolas gerade getan hatte. Was sah der Elbe in ihm, das Assat selbst nicht in sich sah? Unvermittelt fielen ihm die Worte Elronds wieder ein, die dieser am Abend seiner Ankunft zu ihm gesagt hatte.
Auch wenn Ihr der alleinige Herr über Euer Handeln seid, so weiß ich doch, wie schwer es ist, aus alten Verhaltensweisen auszubrechen. Wer dazu fähig ist, für den besteht noch Hoffnung.
Da war es wieder, dieses Vertrauen in ihn. Assat sah Legolas verwirrt an. „Ist das die Magie in euch Elben? Dass ihr jeden Menschen, mit dem ihr in Berührung kommt, verändert?"
Ein helles, amüsiertes Lachen war die Antwort, als Legolas schließlich den Kopf schüttelte. „Wenn das Magie ist, dann beherrschen sie auch die Menschen."
Unvermittelt dachte er an Aragorn, an ihre erste Begegnung und an die Schnelligkeit, mit der sie einander vertraut hatten. Aragorn, der in diesem Moment in seinem Zimmer lag und gegen den Tod kämpfte...
Plötzlich wußte der Elbenprinz nicht mehr, warum er noch länger zögerte. Sein Platz war bei Aragorn, so wie er es dessen Vater in Mandos' Reich versprochen hatte.
Legolas blieb stehen. Inzwischen waren sie an ihrem Ziel angelangt.
„Geht wieder hinein. Und ich bitte Euch, Assat, bleibt dort, solange die Heiler es für notwendig halten. Was nun Eure Frage nach dem Ursprung dieser ... Magie ... betrifft, so findet Ihr die Antwort vielleicht in Mirodas' Verhalten, wenn Ihr nur aufmerksam genug hinseht. Er wird bald wieder erwachen."
Assats Hand lag bereits auf der Türklinke, als er Legolas nachdenklich ansah. „Ich weiß zwar nicht, ob es Euch etwas bedeutet, aber ich gebe Euch mein Wort, dass ich das Eure nicht entehren werde."
„Ich vertraue Eurem Wort, Assat." Die Entgegnung kam ohne Zögern. „Nun kann ich beruhigt gehen."
„Geht Ihr zu Estel?"
Legolas, der sich gerade abwenden wollte, blieb stehen und sah Assat an. Die vorherige Leichtigkeit war wie fortgewischt, als er tief Luft holte und nickte. „Ja, die Absicht habe ich."
„Meint Ihr, es läßt sich einrichten, dass ich noch einmal mit ihm rede?"
„Ich weiß es nicht," antwortete Legolas. Die Ruhe, die in seinen Worten lag, war jedoch nur Fassade. „Estel ist sehr krank."
Als könnten seine Worte das Schlimmste heraufbeschwören, wandte sich der Elbe abrupt ab und ging, während Assat ihm schweigend nachsah.
***
„Ich glaube, er kommt zu sich!"
Die Worte schienen von weit her zu kommen, doch sie genügten, um Aragorns Bewußtsein in die Gegenwart zurückzuholen. Noch während er gegen die überwältigende Schwere seiner Lider kämpfte, spürte er, dass ihm kurz eine kühle Hand auf die Stirn gelegt wurde.
„Estel?"
Es war die Stimme seines Vaters. Mühsam öffnete Aragorn seine Augen einen Spalt breit und blinzelte ins Licht. Zuerst nahm er nur einen Schatten wahr, einen sich bewegenden vagen Schemen, doch schnell nahm dieser Gestalt an.
„Vater..." Es war nicht mehr als ein heiseres Flüstern, doch für Elrohir und seinen Vater war es ein Klang, der sie erleichtert lächeln ließ.
„Wie fühlst du dich?"
„Müde." Aragorn schluckte gegen seine schmerzhaft trockene Kehle an. „Und durstig."
„Hast du noch Schmerzen im Fuß?"
Aragorn lauschte kurz in sich hinein, versuchte mit den Zehen zu wackeln, doch eine feste Bandage verhinderte jede Bewegung. Er schüttelte den Kopf. „Es fühlt sich irgendwie taub an."
„Das kommt von den Mitteln, die ich dir gab. Glaub mir, du wirst deinen Fuß bald wieder spüren." Während er sprach, schob Elrond eine Hand unter Aragorns Kopf, hob ihn leicht an und hielt einen Becher gegen die Lippen seines Pflegesohnes. „Hier, trink."
Der trank in langen Schlucken. Köstliches kaltes Wasser rann seine Kehle hinab und linderte das Brennen. Es war dem jungen Mann in diesem Moment egal, ob sich noch irgendwelche Heilmittel darin befanden. In diesem Moment wollte er nur seinen Durst stillen. Als er genug hatte, drehte er den Kopf fort. „Nicht mehr, bitte!"
Der Becher wurde weggestellt und Aragorn vorsichtig auf das Kissen zurückgebettet.
„Du hast uns ziemliche Sorgen bereitet."
„Das tut mir leid, Vater." Aragorns Blick haftete einen Moment lang auf Elrond, wanderte dann zu dem Zwilling weiter. „Elrohir, du bist auch hier?"
„Sicher!" Elronds Sohn lächelte andeutungsweise. Er wollte das Gespräch über das Respektieren von Privatsphäre zwar erst mit Aragorn führen, wenn dieser wieder gesund war, doch ein kleiner Vorgeschmack darauf konnte nicht schaden. „Ich dachte mir, dass es besser ist, dich nicht mehr aus den Augen zu lassen. Sonst räumst du mir womöglich in einer unbeobachteten Minute mein gesamtes Zimmer aus."
„Wovon redest du?" Verständnislos runzelte Aragorn die Stirn. Elrohirs Worte ergaben für ihn keinen Sinn.
„Von einer ganz bestimmten, jetzt allerdings im Bruinen versenkten Pfeilspitze, die uns zwei schlaflose Nächte bescherte!"
„Ach, das!" Schuldbewusst wollte Aragorn Elrohir für den „Einbruch" um Verzeihung bitten, als ihm etwas anderes klar wurde. „Zwei Nächte, sagst du? So lange war ich bewusstlos?"
„Mehr oder weniger ja." Aufmerksam betrachtete Elrond das Gesicht seines menschlichen Sohnes. Aragorn war zwar noch sehr blaß, doch das Fieber war merklich zurückgegangen. „Zwischendurch warst du zwar wach, doch nicht für sehr lange. Erinnerst du dich daran?"
„Nur an wenig. Ich weiß, dass ich mit dir gesprochen habe..." Einzelne Bilder schossen, Splittern eines zersprungenen Spiegels gleich, durch Aragorns Gedächtnis, doch die meisten verschwanden schneller, als er sie festhalten konnte. Einige blieben. Legolas, der mit ihm redete. Die Hand seines Vaters, die sich über seine Augen legte. Ein Kampf.
Ein Kampf? War er Wirklichkeit oder Phantasie?
„Habe ich dich kämpfen sehen, Vater, oder habe ich das nur geträumt?"
„Nein, du hast nicht geträumt." Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Aragorn Ärger über die Züge Elronds huschen sehen, doch er verschwand sofort. „Du wolltest uns sogar zu Hilfe kommen und hättest das fast mit deinem Leben bezahlt. Wenn der Prinz nicht so gute Reflexe hätte..."
„Legolas? Wo ist er?"
„Es war zwar eine längere Diskussion, aber wir haben ihn schließlich überzeugen können, schlafen zu gehen. Er hatte eine sehr anstrengende Reise durch die Berge und diesen Kampf hinter sich. Vermutlich ruht er noch immer."
„DAS glaube ich nun weniger." Elrohir deutete mit einer Kopfbewegung auf die Zimmertür, die gerade leise geöffnet wurde. Legolas trat ein und sein erster Blick galt Aragorn.
„Du bist wach!" Ein Strahlen überzog das Antlitz des Elbenprinzen, der grußlos an Elrond vorbei an das Bett seines Freundes eilte und dabei die beredt-amüsierten Blicke ignorierte, die hinter seinem Rücken zwischen Vater und Sohn gewechselt wurden. „Den Valar sei Dank!"
„Legolas!" Aragorns Stimme war zwar noch leise, aber bereits wieder von Spuren jener Energie durchdrungen, die ihn in spätestens drei Tagen von seinem Krankenlager forttreiben würde. „Ich hatte mich schon gefragt, wo du bist."
„Jetzt bin ich, wo ich sein sollte. Wo ich versprochen habe, zu sein." Sein Blick wanderte zu Elrond. „Verzeiht, mein Lord, aber nichts, dass Ihr sagt oder tut, wird mich noch einmal von Estel fortbringen, solange er in Gefahr schwebt."
Für eine Sekunde huschte die Vision durch Elronds Sinn. Er dachte an Arathorns Bild in Legolas' Pupillen, an das Versprechen, das der Prinz gegeben haben musste...
„Ich weiß," sagte er schlicht. „Ich weiß, wem Ihr das gelobt habt. Und so wie er danke auch ich Euch dafür."
Legolas war nicht überrascht, dass der Elbenherr um seine Begegnung mit Arathorn wußte. In schweigender Verständigung nickte er Elrond zu, dann ließ er sich wieder in jenem Sessel nieder, in dem er auch am Vortag schon gesessen hatte.
Elrohir indessen, für den der kurze Wortwechsel rätselhaft geblieben war, verschränkte schweigend die Arme vor der Brust. Stirnrunzelnd beobachtete er, wie müde Elronds Bewegungen wirkten, als er zu dem Schränkchen mit den Heiltränken hinüberging und etwas zusammenzumischen begann. Der jüngere Zwilling fragte sich, ob der Herr von Bruchtal auf Legolas denselben Eindruck machte, als er ihm schließlich folgte.
„Du hast beide Nächte hindurch an Estels Seite gewacht, Vater. Da für sein Leben offenbar keine Gefahr mehr besteht, solltest auch du dich endlich ausruhen. Legolas und ich werden hier bleiben."
„Das Schlimmste scheint zwar vorbei zu sein, doch außer Gefahr ist er noch nicht. Ich kann jetzt nicht..." begann der Elbenherr, doch sein Sohn unterbrach ihn.
„Doch, du kannst, und ich bitte dich, es zu tun. Ich rate es dir als Heiler, nicht als dein Sohn!"
Elrond hielt kurz in seinen Bewegungen inne und sah Elrohir über die Schulter hinweg an. Der erschrak angesichts der dunklen Schatten unter den Augen seines Vaters. Sie zeugten ebenso wie das schwächer gewordene Elbenlicht von dessen tiefgehender Erschöpfung.
„Du warst länger auf den Beinen als wir alle zusammen. Ich mache mir fast mehr Sorgen um dich als um Estel."
Elrond setzte zu einer scharfen Erwiderung an, schluckte sie dann jedoch hinunter. Es hatte keinen Sinn, etwas leugnen zu wollen, das so offensichtlich war. Tatsächlich hatte er selten eine solche Müdigkeit in sich verspürt wie jetzt. Selbst die einfachsten Gedanken schienen inzwischen nur noch zäh fließen zu wollen. Drei schlaflose Nächte, die Sorge um Aragorns Leben und die während des Angriffs empfangene Verletzung... Das alles forderte seinen Preis.
Doch noch kräftezehrender war die Vision, die ihn nicht mehr loslassen wollte. Schlimmes stand ihnen allen bevor – Elrond wußte es so sicher, wie er den ersten Schnee nahen spürte. Der Anblick der Schlangentätowierung bei Assat hatte es zur Gewißheit werden lassen. Etwas sagte ihm, dass er ziemlich bald Kraft nötig haben würde. Und so gab er – überraschend für alle Anwesenden – ohne weitere Worte nach.
„Du hast Recht." Er drückte Elrohir das Gebräu in die Hand. „Das hier muss Estel innerhalb der nächsten Stunde trinken. Sorge dafür."
Als Elrohir nickte, ging er zu Aragorn hinüber. „Es wird dich zwar erneut müde machen, aber die Heilung deines Körpers unterstützen und die letzten Reste des Fiebers bekämpfen. Kann ich mich darauf verlassen, dass du das Mittel nimmst?"
Selbst Aragorn spürte, dass Elrond am Ende seiner Kraft war. Wo er sonst diskutiert oder nach Ausflüchten gesucht hätte, nickte er diesmal. „Ich verspreche es, Vater."
„Und ich werde dafür sorgen, dass er dieses Versprechen auch einhält." Legolas warf seinem Freund einen entschlossenen Blick zu.
„Dann ziehe ich mich jetzt in meine Räume zurück. Holt mich, falls etwas sein sollte!"
Sekunden später war Elrond fort. Die erstaunten Blicke Elrohirs hafteten noch auf der Tür, als diese sich schon längst hinter seinem Vater geschlossen hatte.
„Ich mache mir Sorgen um ihn. Er hat einfach so nachgegeben. Wie müde er sein muss.." überlegte er leise und nur für sich, doch er hatte nicht mit dem scharfen Gehör von Legolas' gerechnet. Der hatte das Gemurmel mühelos verstanden.
„Ich sehe noch jemanden, dem die Augen fast im Laufen zufallen," sagte er und lächelte Elrohir leise an, doch der Nachdruck in seinen Worten wurde dadurch nicht geschmälert. „Wenn dies mein Zuhause wäre, würde ich dich jetzt von den Wachen ins Bett stecken lassen. Als Gast kann ich es dir jedoch nur empfehlen. Oder um deine eigenen Worten zu zitieren: Ich rate es dir nicht als Heiler, sondern als besorgter Freund."
So wie sein Vater hatte auch Elrohir zunächst protestieren wollen, ließ es jedoch ebenso schnell bleiben wie dieser. Legolas hatte ihn mühelos durchschaut – und er wußte das auch. So wurde aus seinem Protest ein mattes Kopfschütteln.
„Es sind wahrhaft merkwürdige Zeiten, in denen die Gäste den Gastgebern Anweisungen geben."
Als Legolas seiner „Empfehlung" eine weitere folgen lassen wollte, hob Elrohir in einer Geste der Kapitulation die Hände. „Schon gut, ich tue ja, was Ihr befehlt, EUER HOHEIT!"
Elrohir betonte die letzten beiden Worte und verbeugte sich gespielt ehrfurchtsvoll, doch ein belustigtes Zwinkern nahm ihnen die Schärfe und entlarvte sie als das, was sie wirklich waren: ein Eingeständnis seiner Erschöpfung.
Legolas begriff das.
„Dann geh schlafen. Ich werde Aragorn das Mittel deines Vaters geben und du hast wie er mein Wort, dass dein Bruder es bis auf den letzten Tropfen austrinken wird." Ein weiterer bestimmter Blick streifte Aragorn, der hörbar genervt brummte.
„Allein zu verfolgen, wie du das anstellst, wäre es mir wert, wach zu bleiben." Elrohir grinste ganz unverhohlen, als er an Aragorns Bett trat und zu diesem hinuntersah. „Niemand weiß so gut wie ich, wie ungern Estel Tränke dieser Art zu sich nimmt."
Der Blick des Zwillings blieb an seinem menschlichen Bruder hängen. Plötzlich war Elrohirs Miene ernst und offenbarte eine Verletzlichkeit, die Aragorn noch nie bei ihm bemerkt hatte.
„Ich beschwöre dich um Elbereths Willen: nimm den Trank, Estel. Zwei Nächte voller Bangen liegen hinter uns. Ich sah, wie Elladan dich wieder wie damals als Kind in seinen Armen wiegte und hätte es ebenfalls getan, wenn dir dadurch das Leben geschenkt worden wäre. Aber das tat es nicht. Uns blieb nichts außer dieser Hilflosigkeit." Elrohirs Stimme war so sanft, dass es Aragorn unwillkürlich die Tränen in die Augen trieb. „Mitansehen zu müssen, wie du mit dem Tode ringst, deinen Atemzügen zu lauschen und sich ständig davor fürchten zu müssen, auf den nächsten vergeblich zu warten... Vater, Elladan, ich... Keiner von uns erträgt das noch einmal, kleiner Bruder."
Er beugte sich hastig zu Aragorn hinab und küßte ihn auf die Stirn, dann verließ Elrohir den Raum, ehe Aragorn sich soweit gesammelt hatte, dass er etwas erwidern konnte.
„Das gilt auch für mich!" Legolas' Stimme war kaum mehr als ein tonloses Flüstern und Aragorn war gezwungen, genau hinzuhören, um es zu verstehen. Ein blaues Augenpaar suchte den Blick eines grauen. Hielt es fest.
„Als ich kam, stand es sehr schlecht um dich. Weißt du, wie es war, hören zu müssen, dass du sterben könntest?"
„Legolas, es..." begann Aragorn mit einer weiteren Entschuldigung, doch der Elbe schüttelte den Kopf.
„Lass mich reden... bitte!" Unvermittelt erhob Legolas sich aus dem Sessel und setzte sich zu Aragorn auf das Bett. Einen Moment lang sahen sich die Freunde schweigend an, dann legte Thranduils Sohn seine Hand auf die Brust des Menschen, dorthin, wo er dessen Herz schlagen fühlte.
„Das hier, das Leben unter meiner Hand, ist mir wichtig. Wenn es einst erlischt und dein Weg in dich in die Totenreiche der Menschen führt, wird auch für mich kein Bleiben mehr in Mittelerde sein."
Als gelte es, mit dieser Geste einen Bund zu besiegeln, legte Aragorn nun seine Hand auf die des Freundes und hielt sie fest. Er wagte es nicht, auch nur eine Silbe von sich zu geben, sah den Elben jedoch unverwandt an, während es in seinen Augenwinkeln erneut verdächtig zu glitzern begann.
„Ich gab deinem Vater in Mandos' Reich ein Versprechen, Estel. Ich werde deine Wege mit dir gehen, wohin sie dich auch führen mögen. Es war mehr als nur ein Versprechen für ein besorgtes Vaterherz. Es ist, was das Meine fühlt, seit wir uns auf jener Lichtung begegneten. Du bist inzwischen mehr als nur ein Freund, dem ich mein Leben verdanke. Und wenn dich der Weg zu deinen Vorvätern führt, durch die Hallen der Toten hindurch, so werde ich nach Valinor gehen. Ich werde es in der Hoffnung tun, dich irgendwie – und sei es nur im Traum – ein letztes Mal sehen zu können, ehe deine menschliche Seele jene Grenze überschreitet, die uns Elben zurückhält. Das Ende der Zeiten kann ich erwarten, solange mir die Erinnerung an dich bleibt."
„Legolas..." Ein mühsames, heiseres Flüstern verriet, welcher Gefühlsaufruhr in Aragorn tobte. „Das kannst du unmöglich ernst meinen. Weißt du überhaupt, was du da sagst?"
„Ich weiß es, mein Freund, und ich meine jedes Wort davon. Nichts kann mich von diesem Entschluß abbringen. Dieser Schwur ist mein Versprechen an dich. Wenn du zu deinem Vater gehst, werde ich dir bis in die Unsterblichen Lande hinein folgen."
„Bitte, sag das nicht..."
„Aragorn! Es sind mehr als nur Worte der Freundschaft. Sie sind Wahrheit. Unumstößlich."
Legolas' Stimme klang plötzlich sehr eindringlich und sie brachte den Menschen zum Verstummen.
„In der letzten Nacht, als die Südländer hier eindrangen und dich zu entführen versuchten, wärst du beinahe gestorben. Ich dachte, es zerreißt mir das Herz, als das hier...." Er klopfte kurz auf Aragorns Herzgegend. „...einige Momente lang nicht mehr schlug. In diesem Moment hätte ich mit Freuden meine Unsterblichkeit gegeben, um dich am Leben zu erhalten. Du bist jemand Besonderes, den zu kennen und Freund zu nennen, ein kostbares Privileg ist. Du bist der Bruder, den ich nie hatte und dem ich folgen werde, wohin er auch geht."
„Legolas, du weißt, ich bin nur ein Mensch und als solcher werde ich eines Tages sterben. Doch du bist unsterblich, dein Platz ist hier, bei deinem Vater, in deinem Reich. Auf dich warten noch viele Aufgaben, viele Jahrhunderte..." Aragorn verstummte, als er in die Augen seines Freundes sah. Tiefste Entschlossenheit spiegelte sich darin, die weit über alles hinausging, was er an Argumenten zusammenzutragen imstande war.
„Ich bin wahrhaft glücklich, denn die Valar haben mich doppelt beschenkt," sagte er leise und drückte die Hand des Elbenprinzen, die noch immer über seinem Herz ruhte. „Sie stellten mir nicht nur Elrond und seine Söhne zur Seite, sondern auch dich..."
Legolas lächelte kurz, dann erhob er sich und holte den Becher mit dem Heiltrank, den Elrohir vor seinem Gehen auf das Nachtschränkchen gestellt hatte.
„Mal sehen, ob du das gleich auch noch meinst." Er drückte Aragorn das Gefäß in die Hand. „Los, trink. Du weißt ja, ich habe es versprochen – und ich halte immer mein Wort."
Der betrachtete den Inhalt seufzend, dann erhob er sich zu einer halb sitzenden Position und warf Legolas einen finsteren Blick zu. „Aber nur für dieses Mal. Eine Wiederholung wird es nicht geben, glaub mir!"
Dieser Worte würde Aragorn sich später noch erinnern, doch für den Moment war es nichts weiter als das übliche Geplänkel zwischen den beiden Freunden.
„Meinst du?" Legolas drückte den Becher an Aragorns Lippen, der stirnrunzelnd zu trinken begann. „Das werden wir ja sehen..."
***
wird fortgesetzt
