Es tut uns wirklich leid, dass wir euch so lange warten lassen, aber es geht zur Zeit aus persönlichen Gründen nicht schneller.
Um geistige Verwirrtheit und andere psychische Leiden *bg* bei einigen Lesern zu vermeiden, kommt hier ein kleines Kapitel quasi als Weihnachtsgeschenk für euch!
Es steht schon mehr geschrieben, doch wenn wir euch das ohne die noch zu schreibende Auflösung über Weihnachten/Neujahr lesen lassen, gibt es vielleicht Selbstmorddrohungen, Attentatsversuche oder ähnliches... *LOL*
Euch allen da draußen wünschen wir ein
wundervolles, ruhiges und besinnliches Weihnachtsfest mit euren Familien,
Freunden und Bekannten!
Alles Liebe für euch
Salara und ManuKu
Schuld und Sühne
von: Salara und ManuKu
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Teil 19
Glorfindels Rückkehr ins Herz von Bruchtal vollzog sich langsam, da er es nicht über sich brachte, die mit den Körpern der Getöteten beladenen Pferde in Galopp fallen zu lassen. Den beiden Männern waren Leben und Würde genommen worden, doch zumindest ihre letzte Heimkehr sollte angemessen sein.
Es dauerte über zwei Stunden, bis er die Tiere schließlich zügelte. Nun befanden sie sich vor dem Zugang zu jenem Bereich des Tales, in dem man für gewöhnlich die Toten zur letzten Ruhe bettete.
So weit wie nur möglich von den Wohngebäuden der Elben entfernt, stand hier lediglich ein einziges Gebäude: die Halle des Abschieds. In ihr bereitete man die Toten auf ihre letzte Reise vor und bahrte sie dann auf, damit Angehörige von ihnen Abschied nehmen konnten. Betrat man diese Halle, so war es, als betrete man einen schattigen Ort mitten im Wald, denn die elbischen Baumeister hatten die Halle zu einem Teil der Natur gemacht. Schlanken Ästen gleich schwangen sich die seitlichen Streben in die Höhe, zwischen und über sich Wände und Decke, die nur aus filigran geschnitzten Blättern und Blüten zu bestehen schienen. Durch sie hindurch fiel das Sonnenlicht ins Innere und erleuchtete es mit seinem warmen Schein.
Auch alles andere hier war in diesem Stil gehalten, selbst der sanft ansteigende Serpentinengang, der in eine der seitlichen Felswände gehauen worden war. Steinerne Pflanzenskulpturen säumten ihn bis etwa zur halben Höhe der Felswand, wo sich die Zugänge zu den Grüften befanden.
Die künstlich geschaffene Lebendigkeit täuschte jedoch nicht darüber hinweg: dies war ein Ort des Todes. Auch die Natur schien sich angepasst zu haben, denn der Wind wirkte hier kühler, das Licht ersterbender und auch die Bäume standen hier dichter als im Rest des Tales. Sogar ihre Schatten schienen dunkler, fast wie der Trauer dieses Ortes angemessen.
„Sorge dafür, dass man ihre Familien verständigt." Glorfindel sah den Krieger an, der ihn hierher begleitet hatte. „Ich werde Lord Elrond über alles unterrichten. Wir brechen wieder auf, sobald es geht."
Der Kämpfer sah flüchtig in die Höhe, dahin, wo er seine Leute versteckt wußte. Ob sie jetzt zu ihren getöteten Kameraden hinabsahen, ihnen einen letzten Gruß entboten? Er betrachtete die Körper der beiden Männer, die nun nicht mehr waren als eine vom Leben verlassene Hülle. Die Trauer über ihr gewaltsam beendetes Leben verdrängte die Wut auf die Angreifer für einen Moment.
„Möge euer Platz in Mandos' Halle ein Ort lichter Gedanken sein und euch die Zeit des Wartens nicht länger als der erste Tag des Frühlings erscheinen."
Er legte die Hand auf das Herz und neigte in einer Geste des Abschieds den Kopf, dann wandte er Asfaloth um und begann auf das in einiger Entfernung sichtbare Schloss zuzureiten.
***
Die Zeit des Frühstücks war schon lange vorbei und Elladan hatte sich mit Nolana schließlich in die große Halle zurückgezogen, nachdem Legolas ihm das am Morgen Vorgefallene geschildert und gleich darauf versichert hatte, dass Aragorn seither ruhig und friedlich schlief.
Der ältere Zwilling war gerade dabei, dem Mädchen eine der alten Geschichten Celebríans zu erzählen, als ein Diener zu ihm trat. „Lord Glorfindel ist gerade eingetroffen und wünscht mit Eurem Vater zu sprechen. Er sagt, es sei wichtig."
„Nein, laß meinen Vater ruhen. Bitte Glorfindel zu mir."
Elladan sah mit gerunzelter Stirn zur Tür, durch die gleich darauf der goldhaarige Elb eintrat und auf ihn zu kam.
„Elladan!" Glorfindel nickte ihm zu.
„Du bringst Neuigkeiten?"
„Ja. Gute und Schlechte, über die ich mit deinem Vater sprechen will."
„Mein Vater hat sich erst vor wenigen Stunden zur Ruhe begeben. Drei Tage und Nächte des Wachens liegen hinter ihm. Er war zu Tode erschöpft. Ich bitte dich, laß ihn schlafen. Sprich mit mir über deine Nachrichten."
„Das würde ich, aber es gilt, eine Entscheidung zu fällen."
„Die kannst du nicht selbst treffen?" Elladan war alarmiert. Er wußte um die umfassenden Vollmachten, mit denen Elrond den Kämpfer aus Gondolin ausgestattet hatte. Wenn dieser etwas nicht allein entscheiden wollte, handelte es sich vermutlich um etwas Bedeutendes.
Glorfindel indessen hatte sich spontan an Elronds Absicht erinnert, Bruchtal zu verlassen und alle Verantwortung seinen Söhnen zu übertragen. Schade, so überlegte er, dass das nicht der passende Zeitpunkt ist, Elrond etwas von seiner Last zu nehmen. Die Bürde, die auf seinen Schultern lastet, ist ohnehin schon lange zu schwer für ihn.
Obgleich er bezweifelte, dass dieser Augenblick wirklich dafür geeignet war, die Söhne des Elbenherrn endlich in die Pflicht zu nehmen, beschloß er Elladan dennoch einen kleinen Vorgeschmack davon zu geben, welcher Belastung sein Vater sich ununterbrochen ausgesetzt sah.
„Die gute Nachricht ist..." begann er, sehr zu Elladans Überraschung, der geglaubt hatte, Glorfindel würde darauf bestehen, mit Elrond zu sprechen. „...dass wir die Spuren der Angreifer gefunden haben und nun wissen, wie es ihnen gelang, an unseren Wachringen vorbei ins Tal zu kommen. Von nun an wird die Stelle von einer Abteilung meiner Männer scharf bewacht. Die schlechte Nachricht..." Trauer und Zorn flackerten in seiner Miene auf. „...lautet, dass die Südländer die zuvor dort eingesetzten Wachen getötet haben."
Er trat noch einen Schritt auf Elladan zu, der das Kind an seiner Seite inzwischen völlig vergessen hatte und Glorfindel mit nachdenklicher Miene ansah. Der Zwilling ahnte, worauf der Kämpfer hinauswollte. „Du willst ihnen folgen?"
„Ja! So schnell und mit so vielen Männern wie möglich. Die Spuren sind noch frisch."
Elladan antwortete zunächst nicht. Erst nach einigen Momenten verlieh er seinen Zweifeln laut Ausdruck. „Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht genau das ist, was sie damit bezwecken."
Auch Glorfindel hatte auf dem Weg zurück bereits darüber nachgedacht. Jetzt nickte er, doch man sah ihm unschwer an, dass er nicht glücklich mit den Konsequenzen seiner Überlegungen war. „Deshalb bin ich hier: um den Rat deines Vaters zu suchen. Er weiß wohl als einziger, welche Entscheidung die rechte ist."
Langsam begriff Elladan, dass es nichts gab, das er tun konnte. Betrübt ließ er die Schultern sinken. „Wir können nur vermuten, mit wie vielen Gegnern wir es da draußen zu tun haben. Außerdem kann das Entdecken der Spuren in der Tat gewollt gewesen sein, um uns zur Verfolgung zu veranlassen und so die Verteidigung der Gebäude weiter zu schwächen. Dann hätten sie in der Nacht hier leichteres Spiel für einen erneuten Angriff."
„Du verstehst, weshalb ich mit deinem Vater reden muß?"
„Ja, du hast recht: nur er kann wirklich alle Möglichkeiten bedenken."
Geistesabwesend strich Elladan Nolana immer wieder über das Haar, die dem auf Sindarin geführten Gespräch verständnislos lauschte, dem Klang der Worte jedoch wie einer Melodie folgte.
„Wenn du mich um meine Meinung fragen würdest, so würde ich dir raten, noch eine Nacht abzuwarten und ihnen dann erst zu folgen. Wenn sie die Spuren absichtlich hinterlassen haben, werden sie annehmen, dass wir genau das tun, was sie von uns erwarten, und heute Nacht einen zweiten Angriff unternehmen. In diesem Fall werden wir heute nacht jeden Mann brauchen. Wenn die Spuren jedoch nicht mit Absicht gelegt worden sind, dann führen sie dich und deine Männer auch morgen noch zu ihnen, denn wir müssen leider davon ausgehen, dass sie nicht eher ruhen werden, als bis sie Aragorn und dieses Kind hier in ihren Händen haben." Er sah Glorfindel in die Augen. „Wie gesagt, das ist nur meine Meinung. Wie mein Vater über diese Frage denkt, wird er dir selbst sagen. Nur bitte ich dich inständig, wenigstens noch bis Mittag zu warten, ehe du ihn wecken läßt."
Elladans wohldurchdachte Worte hatten Glorfindel überrascht. Wie ich sehe, sind die Zwillinge durchaus bereit, selbst Verantwortung zu tragen. Der goldhaarige Elb nahm sich vor, Elrond das bei nächster Gelegenheit deutlich zu machen. Unterdessen holte er tief Luft und nickte. „Einverstanden. Dann werde ich erst die getöteten Krieger würdig bestatten lassen. Danach jedoch komme ich wieder her."
„Gut." Elladan sah ernst zu Glorfindel empor und seine Augen verrieten, dass er diesem Moment bedrückt entgegensah. „Wir werden dich erwarten."
Glorfindel nickte wortlos, dann drehte er sich um und verließ die Halle. Elladan sah ihm einige Sekunden lang nach, dann erinnerte er sich wieder des Kindes, das noch immer stumm neben ihm saß.
„Also..." sagte er auf Westron und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, das von Nolana schließlich ganz zaghaft erwidert wurde. „...wo war ich stehengeblieben?"
***
Eine Etage höher saß Legolas nach wie vor in einem Sessel an Aragorns Kopfende und sah zu seinem Freund hinab. Kaum ein paar Minuten, nachdem dieser den Heiltrank zu sich genommen hatte, war er eingeschlafen und seither auch nicht erwacht. Der Elbenprinz hatte die nun eingetretene Ruhe dazu benutzt, die eigenen Gedanken schweifen zu lassen. Eine Bewegung des Menschen riss ihn jedoch überraschend aus seinen Betrachtungen.
***
Die dicken grauen Nebelschwaden, die Aragorns Bewußtsein beim Einschlafen eingehüllt hatten, teilten sich unversehens und gaben den Blick auf eine Felswand frei, die ihm überaus vertraut schien. Noch während er vergeblich darüber nachgrübelte, woher er sie kannte, begann er bereits auf sie zuzulaufen. Schnell rückte sie näher und näher, bis ihn schließlich nur noch ein paar Schritte von einer in die Höhe führenden Treppe trennten.
***
Aragorn befand sich offenbar in den Tiefen eines Traumes, denn er bewegte sich unruhig hin und her, so als versuchte er etwas loszuwerden, das ihn festhielt. Er warf den Kopf von einer Seite zur anderen, begann die Füße zu bewegen, als wollte er weglaufen und schließlich murmelte er Worte, die selbst für das scharfe elbische Gehör unverständlich blieben. Sorgenvoll richtete sich Legolas in seinem Sessel auf und sah zum Bett hinüber.
„Estel?" Der Elb registrierte beunruhigt, dass sein Freund sich nicht aus eigener Kraft aus seinem Albtraum befreien zu können schien. So stand er auf und setzte sich auf den Rand des Bettes. „So beruhige dich doch..."
Er griff nach der Hand des Menschen, die sich wie suchend öffnete und schloß, und hielt sie fest. „...du träumst nur."
Legolas hoffte, dass der Klang seiner Stimme genügen würde, den Menschen zu beruhigen...
***
...doch für den in seinem Albtraum gefangenen Aragorn war sie nicht mehr als die Erinnerung an längst vergangene Momente.
„Estel..." Leise flüsterte es an ihm vorbei. „...so beruhige dich doch..."
Die Worte waren falsch, ergaben keinen Sinn. Beruhigen? War das wie Einschlafen? Schlief er? Oder war er wach?
Er sah sich um und hatte plötzlich keine Ahnung mehr, ob das, was er sah, nun Realität oder Traumbild war. In diesem Augenblick begannen vor seinen Augen tastende Ranken aus dem Boden zu wachsen und nach seinen Füßen zu greifen. Sie drohten ihn festzuhalten, also intensivierte Aragorn seine Anstrengungen noch. Er lief und lief, doch wo ihn zuvor ein einzelner Schritt merklich vorangebracht hatte, schien er plötzlich fast am Boden zu kleben.
„Ich muss ... hier ... weg." Er begann das Letzte aus sich herauszuholen, doch schnell erschöpften sich seine Kräfte und er brach in mühsames Keuchen aus. Durch das heftige Atmen fing die Welt um ihn herum zu kreiseln an. Gerade, als er das Gefühl hatte, fallen zu müssen, glaubte er für einen Moment, eine Hand in der seinen zu spüren. Als er nach unten sah, war sie leer, doch die Welt war nun wieder so, wie er sie kannte: unverrückbar stabil...
Nicht nachdenken. Weiter.
„...du träumst..."
Da war sie wieder, diese Stimme, die verlangte, dass er sich an sie erinnerte. Doch die Worte verflogen wie Windböen und so vergaß er sie wieder. Die Ranken waren inzwischen auf der gesamten Strecke des letzten Wegstücks zu sehen. Drohend schoben sich die grünen Spitzen in seinen Pfad und versuchten sich um seine Fußgelenke zu schlingen.
Er trat nach ihnen, während er lief. Strauchelte. Trat. Lief weiter.
„Lasst ... mich ... los..." Schritt. Ausweichen. Sprung. Noch ein Schritt. Nicht mehr weit. Was wollten diese Dinger nur von ihm? Er musste zu dieser Treppe...
***
Während er hoffte, das Bewußtsein seines schlafenden Freundes irgendwie zu erreichen, kroch langsam echte Sorge in Legolas empor. Das Antlitz des jungen Mannes war fahl, die geschlossenen Augen waren von dunklen Schatten umrahmt und wieder klebten einzelne Strähnen des dunklen, ungebändigten Haares an schweißnasser Haut. Behutsam legte der Elb Aragorn seine andere Hand auf die Stirn, doch sie fühlte sich immer noch nicht so an, wie sie es eigentlich sollte.
Das Fieber ist noch nicht ganz fort. Die blauen Augen des Prinzen musterten die gequält wirkenden Züge des Schlafenden. Das Ganze gefällt mir nicht. Ich glaube, ich wecke besser Lord Elrond.
Noch ehe er seinen Entschluß in die Tat umsetzen konnte, beruhigten sich Aragorns Bewegungen. Ohne die Hand des Menschen loszulassen, wartete Legolas, ob Aragorns Alptraum damit vorbei war.
***
Triumphierend sah Aragorn, wie die Ranken sich wieder in den Boden zurückzogen, als sein Fuß die Treppe berührte. Ohne noch einen Gedanken an die seltsamen Gewächse zu verschwenden, wandte er sich den Stufen zu, die steil in die Höhe bis zu einer Öffnung im Fels führten. Ohne zu wissen, was sich dort verbarg, spürte Aragorn, dass er dorthin musste, dass sein Leben davon abhing. Er begann emporzusteigen. Die flüsternde Stimme war nun verstummt und vergessen, so wie die Zeit, die keine Rolle mehr spielte.
Das Dunkel der Öffnung schwebte ihm entgegen und wurde zum Eingang in eine Höhle, die in den Fels hineinzuführen schien. Er betrat sie ohne zu zögern.
Vor seinem Blick wurde aus kahlem Fels kunstvoll ornamentierter und geschmückter Stein, aus rohen, unbearbeiteten Wänden eine geschwungene Kammer mit einem Dach aus steinernen Blättern. Die plötzliche Pracht bewundernd ging er tiefer in die Höhle hinein. Wie schön es hier war...
***
Erleichtert sah Legolas, wie der Hauch eines Lächelns über das Gesicht seines menschlichen Freundes flog. Jetzt schläft er wieder ruhig und friedlich, dachte der Elb und wollte sich bereits aus dem Griff des Menschen lösen, als er spürte, wie Aragorns Körper sich plötzlich versteifte...
***
Rumpelnd schloß sich die Öffnung hinter Aragorn und ließ ihn in undurchdringlicher Finsternis zurück. Er erstarrte. Wo war der Eingang geblieben? Panisch wandte er sich um, tastete sich blind in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, doch seine Fingerspitzen strichen nun wieder über groben Fels und scharfkantige Spalten.
Plötzlich war da noch etwas, ein Vibrieren, das von überall zu kommen schien und sich fast wellenförmig durch den Fels hindurch ausbreitete. Er sah noch immer nichts, doch blitzartig begriff Aragorn, dass sich die Felswände um ihn herum zusammenschoben. Ihn einsperrten. Ihn erdrücken würden.
„Nein..." Er keuchte. Er schrie es in die Schwärze, die den Laut schluckte und durch unheilvolles Knirschen ersetzte. „Ich will hier raus!"
Fieberhaft fuhren seine Hände über den Fels, ohne eine Öffnung zu finden...
***
„Nein...Ich will hier raus..." Diesmal konnte Legolas seinen menschlichen Freund ohne Probleme verstehen, doch es waren nicht die Worte, die Furcht in dem Elbenprinzen weckten. Es war ihr Klang: panisch, verzweifelt, der Schrei eines Gefangenen.
„Aragorn, wach auf!" Legolas hatte mit seiner freien Hand die Schulter des Menschen gepackt und schüttelte ihn nun mit aller Kraft.
„Mach die Augen auf und sieh mich an...", flehte er. Ohne Erfolg. Aragorn blieb in seinem Albtraum gefangen.
***
Näher und näher hatten sich Wände und Decke an ihn geschoben. Er konnte sie fühlen, wenn er nur die Arme ganz zu den Seiten streckte. Mit jedem Moment schien nun auch die Luft dichter zu werden. Es gelang ihm nur unter äußerster Überwindung, sie einzuatmen, denn sie verstopfte seine Luftröhre förmlich. Er hatte dieses Gefühl nie kennengelernt, doch in jener Sekunde spürte Aragorn: so musste es sich anfühlen, wenn man erstickte.
Hilflos rang er nach Luft, doch weniger und weniger davon fand den Weg in seine Lungen. Aragorn spürte, dass der Tod ganz nah war...
***
Aus Aragorns Albtraum wurde gerade etwas anderes, etwas Bedrohlicheres. Legolas konnte es spüren, es an dem Entsetzen in den vor Furcht verzerrten Zügen des Schlafenden und an den keuchenden Atemzügen erkennen.
Konnten Menschen durch einen Albtraum sterben? fragte sich Legolas und spürte, dass keine Zeit mehr war, Lord Elrond zu wecken. Er musste selbst handeln – hier und jetzt! Nur wie?
Und plötzlich wurde er wütend. Wütend über die eigene Machtlosigkeit. Schon einmal hatte er sich diesem Gefühl ausgeliefert gesehen – es war noch gar nicht so lange her. Und er erinnerte sich daran, was ihn damals am Leben gehalten hatte: Vertrauen und zutiefst ehrliche Worte. Nicht zuletzt auch deswegen hatte er durchgehalten, bis mit Aragorn die Rettung gekommen war. Vielleicht war das hier ja auch der richtige Weg.
Oder womöglich der einzige.
Legolas begann spontan zu reden, und er legte alles in seine Worte, was er in sich spürte: seinen Zorn, seine Hilflosigkeit und – vor allem anderen – das Wissen um die Stärke ihrer Freundschaft...
***
Seine Kraft war fast aufgebraucht. Der Gedanke, einfach aufzugeben und sich von der Finsternis verschlucken zu lassen, war überaus verlockend. Es würde nur einen Herzschlag dauern, dann wäre alles vorbei: der Schmerz, die Furcht, die Aussichtslosigkeit...
„...wo auch immer du bist – hör mir gut zu..."
Unvermittelt umschlossen ihn Worte, die so nachdrücklich waren, dass er sich von ihnen beinahe geschlagen fühlte. Er wußte weder, wo sie so plötzlich herkamen, noch, wer sie sagte, doch die Kraft, die in ihnen lag, war stärker als der Zug der Dunkelheit.
„Du gehst nirgendwohin, hast du mich verstanden? Du bleibst hier..."
Aragorn lauschte den Worten nach, und unmerklich begann die ihn umgebende Finsternis an Substanz zu verlieren, atembarer zu werden. Dankbar rang er nach Luft.
„...bei deinem Vater und deinen Brüdern..." redete die Stimme inzwischen weiter. Etwas in Aragorn meinte sie zu kennen und riet ihm, ihr Vertrauen zu schenken. „...hier bei mir."
Langsam begann die Schwärze zurückzuweichen und zu einem nebligen Grau zu werden. Noch immer prasselten die Worte auf ihn ein, denen er sich nicht zu entziehen vermochte.
„...was auch immer dich von hier fortziehen will – du musst dich widersetzen. Also kämpfe gefälligst! Du kannst es gegen deinen Albtraum tun oder gegen mich. Aber ich warne dich! Vor ihm kannst du fliehen, vor mir kannst du es nicht, denn ich bleibe hier und werde dich festhalten..."
Aragorn wollte nicht gegen die Stimme kämpfen, denn er vertraute ihr. Also ließ er sich einfach von ihrem Klang einhüllen. Die Worte wurden zu einem Netz, das ihn immer weiter voran zog, auf eine schnell intensiver werdende Helligkeit zu, die den Fels nun durchdrang und ihn schließlich ganz verschwinden ließ. Für einen Moment wurde das Licht so unerträglich hell, dass er sich abwenden wollte – dann verschwand es unvermittelt, um erneut Dunkelheit zu weichen. Aragorn hatte keine Zeit, sich erneut vor ihr zu fürchten, denn aus den entfernten, fast geflüstert klingenden Worten war nun eine sehr reale Stimme geworden...
...die irgendwo in seiner Nähe erklang. Und die Dunkelheit wurde von seinen geschlossenen Lidern hervorgerufen, begriff er gleich danach benommen. Mühsam blinzelte er in die Umgebung zu einem verschwommenen Fleck auf, der über ihm schwebte und sich Sekunden später zu einem Gesicht formte.
Legolas' besorgtes Antlitz.
„Den Valar sei Dank, du bist wieder wach!" Der Elbenprinz ließ den Atem entweichen, den er während Aragorns Erwachen unwillkürlich angehalten hatte. „Du hast mir einen heillosen Schrecken eingejagt. Ich dachte, ich schaffe es nicht."
„Schaffst was nicht?" brummte Aragorn verständnislos, während die Reste seines Albtraums unbeachtet in den Hintergrund seines Denkens traten. Verständnislos sah er zu Legolas hoch, der ihn unverwandt musterte und sichtbar erleichtert sah, dass langsam wieder Farbe in das Gesicht das Freundes kam. „Ich verstehe kein Wort."
„Dich von deinem Albtraum zu befreien. Dich zurückzuholen." Plötzlich wurde die Stimme des Elben leise. „Erinnerst du dich denn an nichts?"
Aragorn runzelte die Stirn, wollte verneinen – und zögerte. Doch. Da war etwas. Ein vager Schemen, der zur Erinnerung wurde, sobald Aragorn ihn in Gedanken antippte. Das Erlebte hatte sich viel zu tief in ihn eingegraben, um es vergessen zu können. Die Ranken. Die sich zusammenschiebende Höhle. Diese Finsternis, die ihn fast verschlungen hätte. Die Furcht, zu sterben. Aber vor allem anderen erinnerte er sich an die Stimme, die ihm geholfen hatte, all das hinter sich zu lassen. Legolas' Stimme, wie er jetzt begriff.
Er wollte dem Freund danken und spürte plötzlich, dass die Hand des Elbenprinzen unbewusst noch immer die seine umfasst hielt. Aragorn hob sie leicht hoch, betrachtete sie überrascht – und hielt sie fest, als der Elb sie hastig wegziehen wollte. „Ich weiß mehr davon, als mir lieb ist. Und ich entsinne mich an dich. An deine Worte. Ich kann sie selbst jetzt noch in mir hören, weißt du."
Aragorn zog die schmale Hand des Elbenprinzen zu sich herab und legte seine andere Hand darüber, als wolle er sie schützen. „Allein hätte ich mich wahrscheinlich nicht aus diesem Traum befreien können. Danke!" Er begann zu grinsen. „Übrigens auch für deine Warnung, mir zu folgen..."
Spuren von Röte schossen in die Wangen des Elben, der plötzlich ziemlich verlegen aussah. „DARAN kannst du dich auch erinnern?"
„Sicher." Der junge Mann nickte. „An jedes einzelne Wort."
Legolas sah zu seinem menschlichen Freund hinab, dessen silbergraue Augen ihn aufmerksam beobachteten. Der Anflug eines Lächelns huschte über die alterslosen Züge des Elben. „Ich meinte sie ernst."
„Alle?"
Der Elb nickte, nun todernst. „Alle. Ich dachte, das hätte ich dir heute früh schon klargemacht."
„Manches ist so außerordentlich, dass man es mehrmals hören muss, um glauben zu können, dass es wirklich einem selbst gilt."
„Und? Tust du es jetzt endlich?"
Blicke begegneten sich, dann nickte Aragorn wortlos.
„Gut. Dann werde ich jetzt deinen Vater holen, damit er nach dir sehen kann." Legolas wollte sich erheben, doch er hatte nicht mit der Entschlossenheit des Menschen gerechnet.
„Nein, bitte nicht. Laß ihn schlafen." Aragorn hielt den Unterarm des Elben fest. „Es war ein Traum. Ein schlechter, zugegeben, aber eben nur ein Traum. Keine Krankheit."
Der Elbe wog die Worte Aragorns gegen seine Bedenken ab, dann sank er wieder auf die Bettkante zurück. „Einverstanden. Aber sollte sich das wiederholen, hältst du mich nicht mehr zurück."
„Es wird sich nicht wiederholen," versicherte ihm Aragorn, glaubte jedoch insgeheim nicht wirklich an seine Worte. Etwas – die Spur einer Vorahnung – sagte ihm, dass er so etwas noch einmal erleben würde. Mühsam schob er sich in eine halb sitzende Position hoch, dann grinste er den Freund gewollt übermütig an. „Ich bleibe einfach von jetzt an wach, solange du in meiner Nähe bist."
Kopfschüttelnd, doch im Grunde heilfroh, dass es Aragorn endlich besser zu gehen schien, schob ihm der Elbenprinz ein Kissen in den Nacken. „Wenn du meinst..."
Sie begannen sich zu unterhalten.
***
Eine halbe Stunde später gesellte sich Elladan zu ihnen, dem Nolana unterdessen kaum noch von der Seite wich. Nach einem beschwörenden Blick Aragorns verschwieg Legolas ihm den Vorfall mit dem Albtraum und bald war das Zimmer von unbeschwertem Geplauder erfüllt. Kurz darauf fand sich auch Elrohir ein: zwar mit letzten Resten von Müdigkeit auf den Zügen, doch überaus froh, seinen jüngsten Bruder endlich auf dem Wege der Besserung zu sehen.
Selbst Elronds sorgenvoller Ausdruck verschwand von seinem Antlitz, als er zu früher Nachmittagsstunde ins Zimmer seines menschlichen Sohnes kam, Legolas und seine Söhne fortschickte und Aragorn dann zu untersuchen begann. Es dauerte nicht lange, bis er feststellte, dass nicht nur dessen Fieber endlich etwas gesunken war, sondern auch der Heilungsprozess im Fuß endlich in Gang gekommen zu sein schien.
Der Elbenherr war gerade dabei, neue Heilsalbe auf die Wunde zu streichen, als ein leises Klopfen an der Tür ertönte.
„Ja, bitte?" Er sah auf, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.
Ein Diener trat ins Zimmer. „Lord Glorfindel wünscht Euch zu sprechen. Er sagt, es sei äußerst wichtig."
„Bitte ihn in meine Gemächer. Ich bin hier gleich fertig."
Der Diener wollte gehen, doch plötzlich schob sich die hochgewachsene Gestalt des Kämpfers aus Gondolin an ihm vorbei. „Verzeiht mein Eindringen, doch ich fürchte, was ich mitzuteilen habe, kann nicht warten, denn es betrifft auch Estel."
Mit einem Nicken entließ Elrond den Diener, dann sah er Glorfindel mit gerunzelter Stirn an. „Was ist denn? Ich habe dich noch nie so aufgebracht gesehen."
Der wartete mit der Antwort, bis sich die Tür geschlossen hatte. „Dazu habe ich auch allen Grund. Eben erreichte mich Nachricht von meinen Männern. Heute früh noch überlegte ich, den Spuren der Südländer zu folgen, doch die sind bereits wiedergekommen. Zumindest drei von ihnen. Noch tun sie nichts anderes, als Bruchtal zu beobachten, doch wer weiß, wann sich das ändert!! Er schnaubte. „Wie sicher müssen sie sich ihres Handelns sein, wenn sie sich ein zweites Mal hierher wagen!"
Elrond antwortete ihm nicht sofort.
Es ist noch nicht vorbei, dachte er und betrachtete Aragorn, der bislang stumm geblieben war. Wir haben gewußt, dass es noch einmal passieren könnte. Dennoch... wie kann ich dich nur auf Dauer vor ihnen schützen, Estel?
Sekundenlang sann er über mögliche Lösungen nach, dann holte er vernehmlich Luft. „Ich sehe nur einen Weg, dich ihrem Zugriff zu entziehen, mein Sohn. Du wirst Bruchtal unbemerkt verlassen und dich an den einzigen Ort begeben, an dem du völlig sicher bist: Lórien! Ich schicke dich zu Lady Galadriel!"
Zwei Augenpaare richteten sich auf Elrond: ein silbergraues, völlig fassungsloses, und ein blaues, in dem deutliche Zustimmung geschrieben stand.
„Vater, du kannst nicht ernsthaft daran denken, mich in Lórien einzusperren. Wie lange soll ich mich dort verstecken? Es muss eine andere Lösung geben. Es muss!!!" Aragorn richtete sich im Bett auf.
„Es gibt aber keine." Die Stimme des Elbenherrn war hart und sein Blick steinern. Tausende von Jahren und unzählige bereute Entschlüsse hatten beides hervorgebracht. „Jedenfalls keine, die mir derzeit einfällt. Es bleibt dabei: bis ich etwas Besseres weiß, gehst du nach Lórien!"
„Vater..."
Wider besseres Wissen versuchte Aragorn, den Entschluß Elronds noch ins Wanken zu bringen, doch der schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Nein!!! Du hast mich verstanden, Estel! Du gehst. Es liegt bei dir, ob freiwillig oder nicht. Und das war mein letztes Wort in dieser Angelegenheit!"
Aragorn seufzte. Er war nach wie vor nicht bereit, sein Schicksal einfach so hinzunehmen. Und wenn es den ganzen Abend und die ganze Nacht dauerte: Für ihn war das letzte Wort noch nicht gesprochen...
***
wird fortgesetzt
