Wir haben „Die Rückkehr des Königs" im Laufe der langen HdR-Filmnacht gesehen! Jaaaa, wir haben uns 10 Stunden ins Kino gesetzt und wussten hinterher trotzdem noch, wie man läuft. *bg*

Ich [ManuKu] bin der Meinung, dass man sich erst ein Urteil über den Film erlauben kann, wenn man ihn in der ungeschnippelten Fassung gesehen hat. Ich habe einige Szenen und Momente aus dem Buch vermisst. Also heißt es bis Ende des Jahres warten... Grrrrr...

Jetzt geht's aber weiter mit unserer Geschichte. Am Ende dieses Kapitels bitte nicht protestieren, sondern bis Mittwoch warten – dann geht's nämlich gleich weiter!

__________________________________________________________________________________________

Schuld und Sühne

von: Salara und ManuKu

__________________________________________________________________________________________
 
Teil 20

Hinter der dicken Wolkendecke dämmerte der Abend bereits heran, als die Tür zu Aragorns Zimmer endlich wieder aufging und Elronds hochgewachsene Gestalt im Türrahmen sichtbar wurde. Für eine Sekunde ging sein Blick zurück in den Raum, dann ließ er in einer Geste der Kapitulation seufzend die Schultern sinken.

„Ich bitte dich zum letzten Mal: überleg es dir, Estel." Die eindringlich formulierten Worte klangen wie eine Warnung.

„Da gibt es nichts mehr zu überlegen, Vater." Aragorns Stimme drang gedämpft aus dem Raum. 

Elrond antwortete nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. Dann schloß er ruhig die Tür und sah den Gang entlang bis zu Elrohirs Zimmer. Dort stand die Tür einen Spalt breit offen – gerade weit genug, um die dort wartenden Zwillinge und Legolas hören zu lassen, wann er seinen menschlichen Sohn verließ.

Seine Vermutung erwies sich als zutreffend. Kaum waren Aragorns Worte verklungen, erschienen die drei auf dem Flur. Elladan blieb jedoch stirnrunzelnd stehen, als er die Anspannung seines Vaters wahrnahm. „Wie geht es ihm? Du siehst so ernst aus. Besteht Grund zu neuer Sorge?"

„Nein... doch..." Elrond schloß kurz die Augen. „...ein wenig von beidem, um ehrlich zu sein."

Seine ebenmäßigen Züge wurden von einem eigenartigen Ausdruck überschattet, doch der verschwand so schnell wieder, dass nicht einmal seine Söhne, die jede Stimmung ihres Vaters sonst mühelos zu deuten vermochten, sie einordnen konnten. Eines allerdings erkannte sogar der darin völlig ungeübte Legolas: Elrond hatte sich mit einer Mauer umgeben, hinter der er seine Emotionen sorgsam verbarg.

„Es besteht zwar noch kein Grund zu erhöhter Sorge, doch leider auch keiner für Erleichterung. Estels Fieber ist nicht so weit gesunken, wie ich gehofft hatte. Die Wunde beginnt zu heilen, wenn auch sehr langsam. Wenigstens gibt sie keine Giftstoffe mehr in seinen Körper ab. Das ist im Grunde auch schon alles, was ich euch sagen kann. Ihr könnt zu ihm gehen, wenn ihr wollt."

Er machte Anstalten, an ihnen vorbeizugehen, überlegte es sich dann jedoch anders. Sein Blick traf die Zwillinge, und in den Tiefen seiner Augen lag etwas, das beinahe ein wortloses Flehen war.

„Vielleicht könnt ihr diesem Dickkopf ja begreiflich machen, dass Lórien die einzige Lösung ist. Möglicherweise findet ihr Argumente, die mein Verstand nicht zu finden vermag..." Er verstummte, als hätte er schon zuviel gesagt.

„Lórien?" Elrohir war erstaunt neben seinen Bruder getreten. „Warum willst du ihn zu Großmutter Galadriel schicken?"

„Weil Glorfindels Patrouille einen neuen Spähtrupp der Südländer entdeckt hat. Man muss nicht über die Gabe der Voraussicht verfügen, um zu wissen, dass sie früher oder später noch einmal versuchen werden, ihn sich zu holen. Ich bin entschlossen, ihn heimlich fortzubringen, sobald sein Zustand es gestattet. Wenn der Schutz der Galadhrim ihn umgibt, können wir sie beruhigt ausfindig machen und verfolgen. Tun wir es vorher, gehen wir das Risiko ein, dass ein Trupp von ihnen sich seiner in dieser Zeit schließlich doch noch bemächtigt. Doch ihr wißt ja, wie stur euer Bruder ist. Genau das will er nämlich nicht einsehen."

Elrond holte tief und vernehmbar Luft. Man sah, dass er sich diesmal zu seiner sonst üblichen Gelassenheit zwingen musste, als er die drei vor ihm stehenden jüngeren Elben nacheinander ansah. „Redet noch einmal mit ihm, ich bitte euch inständig. Ich werde unterdessen eine andere ... wirksamere Arznei für ihn mischen."

Ohne noch etwas hinzuzufügen, ging Elrond an den dreien vorbei zur Kräuterkammer, in der er gleich darauf verschwand. Die Zwillinge sahen ihm nach und tauschten dann einen ratlosen Blick aus.

„Was ist nur mit Vater los? Ich habe ihn noch nie so erlebt." Elladan starrte die Schnitzereien der hölzernen Kräuterkammertür an, als könne sein Wille sie durchsichtig werden lassen.

Elrohir sann über das Gesagte nach, dann zuckte er mit den Schultern. „Doch, hast du. Vor ein paar Tagen erst, als dieser alte Mann Estel besuchte. Erinnerst du dich? Damals war er auch so eigenartig. Außerdem, du weißt ja, wie stur Estel sein kann, wenn er will. Ich wette, die beiden haben sich in den letzten zwei Stunden deswegen heftig gestritten."

„Bleibt zu hoffen, dass wir mehr Glück haben und ihn überzeugen können." Legolas stand bereits vor der Tür zu Aragorns Raum. „Kommt ihr?"

***

Als die drei Elben eintraten, zog Aragorn gerade seine Decke bis ans Kinn hoch. Er sah zu ihnen auf, doch die Verlegenheit, die für eine Sekunde auf seinen Zügen lag, verwandelte sich gleich darauf in Abwehr.

„Ich weiß, weswegen ihr gekommen seid. Ihr kommt umsonst. Sagt ihm, ich bleibe bei meiner Entscheidung. Und nun geht, wenn ihr sonst nichts anderes wolltet, als mich von Vaters Meinung zu überzeugen."

Elladan, von der unerwartet heftigen Ablehnung Aragorns ziemlich überrumpelt, gab Nolana kurzentschlossen in Glorfindels Obhut. Es war unnötig, dass das Kind Zeuge einer Auseinandersetzung wurde, die jene führten, denen sie gerade erst zu vertrauen gelernt hatte. Der goldhaarige Kämpfer, der ungewohnt schweigsam wirkte, nahm das Mädchen mit sich, als er ging.

„Wir sind gekommen, weil wir nach dir sehen wollten, können aber auch wieder gehen, wenn wir nicht erwünscht sind," sagte er schließlich verletzt, als sie allein waren. Seine Erwiderung war schärfer ausgefallen, als er es beabsichtigt hatte, und er wollte sie bereits mit ein paar verbindlichen Worten mildern, als Aragorn sich demonstrativ von ihnen abwandte und zum Fenster drehte.

„Ja, tut das. Geht. Lasst mich in Ruhe. Alle! Am besten ist es, ihr kommt gar nicht mehr hierher!"

Für einen Moment sahen sich die drei verblüfft an, dann zuckte Elrohir mit den Schultern. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, was in den Menschen gefahren war.

„Estel, was soll das?" Legolas' Stimme war zwar sanft, doch sie verbarg den in ihr liegenden Tadel nicht. „Wir sind hier, weil wir uns um dich sorgen, nicht, um uns von dir beschimpfen zu lassen."

Während Aragorn als Antwort nur vernehmlich schnaubte, ging der Prinz um das Bett herum, bis er vor seinem Freund stand. Die Zwillinge folgten ihn und platzierten sich an den beiden anderen Seiten.

„Wenn du mit deinem Vater Streit hast, so ist dies eine Sache zwischen ihm und dir, nicht zwischen uns und dir." Legolas sah seinen Freund an. „Allerdings – und das wirst du wohl oder übel akzeptieren müssen – haben wir, deine Brüder und ich, das gleiche Recht, das du für dich in Anspruch nimmst: dir unsere Meinung zu diesem Thema mitzuteilen. Und du wirst sie dir anhören. Danach können wir entweder darüber reden oder dazu schweigen. Doch eines begreife, Estel: zumindest ich für meinen Teil werde mich durch nichts, was du sagst oder tust, von hier vertreiben lassen. Hast du mich verstanden?"

„Das gilt übrigens auch für uns beide," fügte Elladan hinzu und verschränkte die Arme vor der Brust, während er an Aragorn vorbei zu Legolas hinübergrinste. „Legolas, du musst wissen, dass er unausstehlich wird, wenn er krank ist."

Einen Herzschlag lang regte sich Aragorn nicht, dann rollte er sich auf den Rücken zurück und sah die drei nacheinander vorwurfsvoll an. Es sah fast so aus, als bedauere er seine zuvor gesagten Worte, doch dann verschloß sich seine Miene plötzlich.

„Ich dachte mir fast, dass ihr so etwas sagen würdet. Also gut, sprecht. Ich werde euch zuhören. Danach..." Er zog das Wort in die Länge. „...betrachte ich die Diskussion jedoch endgültig als beendet. Habt IHR MICH verstanden?"

Die drei wurden schlagartig ernst. „Klar und deutlich."

Mit ruhigen Worten begannen sie Aragorn ihre Ansichten zu erklären, doch schnell erwies sich, dass er ihren Argumenten ebenso wenig Gehör schenkte wie denen Elronds. Innerhalb von Minuten war das heftigste Wortgefecht im Gange, das nach einiger Zeit schließlich darin gipfelte, dass die drei Elben neben Aragorns Bett auf- und abmarschierten und abwechselnd auf den immer schweigsamer werdenden Menschen einredeten.

„Aragorn, so nimm doch Vernunft an. Es ist doch nicht für dein ganzes Leben, sondern nur solange, bis die Gefahr gebannt ist." – „Willst du wirklich, dass Vater dich zum Gehen zwingt?" – „Er tut, was er sich vorgenommen hat, und das weißt du auch. Also geh besser freiwillig."

„Nein! Wie oft soll ich es euch noch sagen? Ich werde Bruchtal nicht verlassen." Aragorn schüttelte entschlossen den Kopf, doch seine drei „Widersacher" ließen sich davon nicht beeindrucken.

„Estel, ich bitte dich als dein Freund..." – „...außerdem würde Arwen sich bestimmt freuen, dich wiederzusehen. Sie kennt dich noch als kleines Kind..." – „...wir kommen sofort zu dir, wenn die Gefahr für dich gebannt ist..."

Legolas suchte vergeblich nach einem Zeichen dafür, dass sein Freund Einsicht zeigte. Die Redeströme der Elben schienen vielmehr an dem jungen Mann vorbeizuplätschern, denn er sah nur reserviert zu ihnen empor und schüttelte schwach den Kopf, ohne jedoch etwas zu erwidern.

„Ich werde nicht zulassen, dass du so leichtsinnig und gegen jede Vernunft..." – „...und wenn ich dich höchstpersönlich auf ein Pferd binde und nach Lórien schaffe..." – „...und ich werde Elladan noch dabei behilflich sein, hast du gehört, kleiner Bru..."

Sie verstummten schlagartig, als Aragorn plötzlich schmerzerfüllt die Lider zusammenpresste.

„Estel?" Alarmiert setzte sich der jüngere der Zwillinge zu seinem menschlichen Bruder auf das Bett. „Was ist? Was hast du?"

„Alles dreht sich..." Aragorn öffnete die Augen wieder und sah Elrohir an, doch sein Blick sprach eine deutlichere Sprache, als seine abgehackten, leisen Worte es vermochten. „Und die Schmerzen... Sie sind wieder da."

Er machte Anstalten, die Bettdecke fortzuschieben, doch seine Kräfte reichten offenbar nicht aus, sich länger als ein paar Augenblicke mit ihr zu befassen, ehe die sehnige Hand des jungen Mannes zurückfiel. Sein Blick ging zu den Elbenzwillingen. „Elladan, Elrohir, mir ist so warm. Bitte... zieht wenigstens einen der Vorhänge auf..."

Die sahen sich bestürzt an. Keiner der Vorhänge, die im Winter die schlimmste Kälte draußen hielten, war vor die Fenster gezogen worden und auch das kleine Kaminfeuer hatte es kaum aufgeheizt. Das Zimmer Aragorns war kühl. Eigentlich hätte der junge Mann frösteln müssen.

Der ältere der Zwillinge, der sich nun auf die andere Bettseite hockte, legte eine Hand auf die Stirn des Menschen. Die Hitze, die er dort ertastete, ließ ihn die anderen beunruhigt ansehen. „Das Fieber ist wieder so hoch wie am ersten Abend und sein Herz rast. Es wird ihn töten, wenn nicht schnell etwas unternommen wird. Aber Estel ist so krank, dass ich es nicht wage, ihm ohne Vaters Rat etwas zu geben..."

Sein Blick blieb an Legolas hängen, der die Worte der Brüder wie erstarrt mitangehört hatte. „Bitte, Legolas, hol' unseren Vater. Er müsste in der Kräuterkammer sein. Wenn nicht, suche ihn in seinen Gemächern oder im Arbeitszimmer. Beeil dich."

Legolas lief los, während die Zwillinge bei Aragorn zurückblieben. Der starrte auf die Zimmertür, und als sie zu war, schloß sich seine Hand hastig um Elladans Handgelenk.

„Gut, dass du Legolas weggeschickt hast. Jetzt hör mir zu." Der Griff war schwach und der Elb hätte sich mühelos von ihm befreien können, doch er hielt erstaunt still und zog die Augenbrauen hoch. Was ging Aragorn nun wieder durch den Kopf? Elladan warf seinem Zwilling einen ratlosen Blick zu, doch Elrohir achtete gar nicht auf ihn.

„Du musst dafür sorgen, dass er Bruchtal verlässt." Aragorns Worte kamen so hastig, dass sie sich fast überschlugen. „Sofort, hast du verstanden? Er darf keinen Moment länger hier bleiben. Schick ihn gütlich fort oder schaff ihn gewaltsam weg. Das WIE ist mir egal, die Hauptsache ist nur, er geht. Hast du mich verstanden, Elladan? Er darf nicht bleiben... unter gar keinen Umständen..."

Inzwischen hatte Aragorn sich auf einen Ellbogen aufgestützt. Noch immer hielt er den Arm seines Bruders umklammert, doch sein Gesicht war hochrot und sein fiebrigglänzender Blick flog zwischen den Zwillingen hin und her.

„Ihr müsst mir das versprechen, es mir schwören. Ihr müsst! Ich weiß, ihr haltet euer Wort."

Eindringlich fixierte er die Elbenzwillinge, die kaum glauben konnten, was sie da gerade vernommen hatten. Aragorn hatte noch vor kurzem beinahe mit dem eigenen Leben bezahlt, um das von Legolas zu retten, und nun wollte er ihn plötzlich nicht mehr in seiner Nähe haben? Elronds Zwillingssöhne verstanden die Welt nicht mehr.

„Estel..." Elladan löste Aragorns Griff behutsam. „...du hast hohes Fieber. Du weißt nicht mehr, was du sagst."

„Doch, ich weiß es und ... ihr ... müsst..." Es war, als wäre just in diesem Augenblick die winzige Flamme erloschen, in der Aragorns Lebensenergie noch einmal aufgelodert war. Ein leises Aufstöhnen unterbrach seinen Satz. Fast zeitgleich sank er aufs Kissen zurück. Wenn es etwas gebraucht hätte, um die ohnehin bereits auf dem Höhepunkt befindliche Sorge des ältesten Zwillings weiter zu steigern, dann diese Geste.

Unterdessen kämpfte der junge Mann verbissen darum, bei Bewußtsein zu bleiben. Er setzte ein weiteres Mal zum Sprechen an, während sein Blick den seiner Brüder nicht losließ.

„Bitte..." flüsterte er, doch seine Worte waren nun kaum noch zu verstehen, denn sie klangen von Augenblick zu Augenblick dicker, schleppender, zunehmend unvollständiger. „... will ihm ... ersparen ..." Und dann – nach einer Pause – folgte schließlich: „...nicht ... nach ... Valinor ..."

„Ist schon gut. Beruhige dich. Niemand von uns wird nach Valinor gehen, kleiner Bruder, oder glaubst du wirklich, wir lassen dich ausgerechnet jetzt allein?" Elrohir strich Aragorn liebevoll mit einer Hand über das dunkle, schweißnasse Haar, doch die Sorge des Elben war so überwältigend, dass sich ein Lächeln einfach nicht mehr formen lassen wollte. „Wenn ich dir schon etwas schwöre, dann ganz bestimmt dies: Wir sind hier bei dir, und wir werden es bleiben. Bei Elbereth, wir werden keine Handbreit mehr von deiner Seite weichen, bis du wieder gesund bist!"

Kraftlos sah Aragorn von einem zum anderen, rang nach Worten. „Nein..."  Fast klang es wie ein Schluchzen. „...versteht ... nicht ..."

Elladan bewegte es gleichfalls bis ins tiefste Innere, seinen menschlichen Bruder erneut vor seinen Augen dahinschwinden sehen zu müssen. „Ganz ruhig, Estel. Wir verstehen dich ja."

Kurzentschlossen setzte er sich an das Kopfende des Bettes hoch und hob Aragorn in seine Arme. Während die Hitze des fiebernden Menschenkörpers durch die trennenden Kleidungsschichten hindurch auf seiner eigenen Haut brannte, schoß ihm blitzartig durch den Sinn, dass es das zweite Mal innerhalb weniger Tage war, dass er den jungen Menschen auf diese Art im Leben festzuhalten versuchte.

Bitte, nehmt ihn uns auch dieses Mal nicht, sandte er seine stumme Bitte in die Ferne und sah seinen Zwilling verzweifelt an.

Elrohir wußte instinktiv, was Elladan gerade tat, denn er hatte es selbst getan. Er wollte etwas zu seinem älteren Bruder sagen, ihn ermutigen – und konnte es nicht, denn mit einem Mal war seine Kehle wie zugeschnürt.

Ich habe dir doch gesagt, dass wir das kein weiteres Mal ertragen, kleiner Bruder, dachte er und sah Aragorn an. Dessen Augen waren zwar offen, doch der Blick der sonst so klugen, aufmerksamen Augen offenbarte nun kaum noch etwas von der Stärke, die sonst in Aragorn verborgen lag. Ungeduldig starrte der Elb zur Tür, die sich wie zum Trotz noch immer nicht öffnen wollte. Er bemerkte gar nicht, dass seine Hand inzwischen in Aragorns Bettdecke gekrallt war. Wo bleibst du, Vater?

***

Legolas war von Aragorns Zimmer aus direkt zu jener Tür gelaufen, hinter der er den Elbenherrn hatte verschwinden sehen, doch als er sie öffnete und ins Innere spähte, war der Raum – abgesehen von den Regalen – leer.

Seine Privatgemächer! Der Elbenprinz durchquerte den Gang, bis er schließlich vor Elronds Räumen stehenblieb. Ohne anzuklopfen riss er die Tür auf und trat ein. Ein rascher Rundumblick verriet ihm jedoch, dass auch sie verlassen waren.

Arbeitszimmer, hat Elladan gesagt. Ratlos sah Legolas sich im Gang um. Aber wo finde ich Lord Elronds Arbeitszimmer?

Er beschloß, einfach überall nachzusehen, bis er auf den älteren Elben stieß. Der Anblick des Freundes, dessen Zustand buchstäblich vor seinen Augen schlechter geworden war, ließ ihn nicht los und beschäftigte seine Gedanken so sehr, dass er erst nach langen Momenten darauf kam, seine fruchtlose Suche durch laute Rufe zu unterstützen.

„Lord Elrond!" Die klare Stimme des Elbenprinzen hallte durch die Gänge, „Wo seid Ihr? Estel... Er braucht Hilfe!"

Kaum zwei Sekunden vergingen, dann öffnete sich die am weitesten von Legolas entfernte Tür und Elrond tauchte im Gang auf. „Was ist geschehen?"

„Estel hat plötzlich erneut hohes Fieber. Elladan sagt... Er sagt, es wird ihn töten, falls nicht sofort etwas geschieht. Ich bitte Euch, kommt mit mir. Nur Eure Kunst vermag ihm jetzt noch zu helfen."

„Das Mittel ist fast fertig. Ich komme gleich." Elrond verschwand wieder im Raum, ließ ihn jedoch geöffnet. Legolas, den die Ungeduld fast zerriß, wartete ganze zwei Sekunden an Ort und Stelle, dann folgte er dem Elbenherrn.

Das Zimmer, in das der Düsterwalder Prinz nun eintrat, war in der Tat ein typisches Arbeitszimmer.

Ein wunderschön geschwungener, mit Schnitzereien verzierter und mit Papieren und Büchern bedeckter Schreibtisch nahm einen Großteil der linken Wand des kleinen Raumes ein. Ihm gegenüber waren auf der anderen Zimmerseite weitere Regale zu erblicken, die ebenfalls die Bücher und Schriftrollen enthielten. Auf der der Tür gegenüberliegenden Schmalseite ließ ein großes Fenster Licht in den Raum. Darunter stand ein schmales Schränkchen, auf dem Legolas nun die unterschiedlichsten Fläschchen und Schälchen erblickte. Eines davon nahm der ältere Elbe gerade hoch, um mit äußerster Konzentration daraus eine kleine Menge bräunlichen Pulvers abzumessen und es in einen auf seinem Schreibtisch stehenden Kelch zu geben. Dann stellte er das Schälchen fort und nahm stattdessen eine Wasserkaraffe, mit deren Inhalt er den Kelch zu zwei Dritteln auffüllte.

Fertig!" Elrond sah zu Legolas auf. Durch den Blick des Elbenherrn huschte ein Ausdruck, den man bestenfalls mit einem Wort umschreiben konnte: Schmerz. Dann, einen Atemzug später, war er fort. „Wir können gehen."

Legolas, der die verstreichenden Sekunden inzwischen fast körperlich zu empfinden glaubte, setzte sich erleichtert in Bewegung. Seit dem Beginn seiner Suche war etwas mehr als eine Minute vergangen – eine Ewigkeit, wie er meinte...

***

Als die Tür aufging und Elronds Gestalt sichtbar wurde, erhob Elrohir sich vom Bett. Er war unübersehbar erleichtert.

„Vater, endlich!" Er sah zu Aragorn zurück, der noch immer in Elladans Armen hing, unverständliche oder aus dem Zusammenhang gerissene Worte murmelte und die Augen nur noch mühsam offen halten zu können schien. „Estels Fieber..."

„Schon gut, ich sehe." Der Elbenherr legte seinem aufgewühlten jüngeren Sohn eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz, wie zur Ermutigung. Dann schob er ihn zur Seite. „Lasst mich ihn ansehen."

Elladan hatte Aragorn inzwischen wieder auf das Bett zurückgelegt. Nun stand er auf und wich bis an die Fensterfront zurück, wo er schließlich verharrte. Elrond warf erst ihm, dann Elrohir und schließlich Legolas prüfende Blicke zu, dann stellte er den Kelch auf dem Nachtisch ab. „Vielleicht solltet ihr solange..."

„Ich habe ihm geschworen, dass wir bei ihm bleiben, und wir werden diesen Schwur halten, Vater!" Elrohirs Stimme war zwar leise, doch ihr Klang war dem älteren Elben unvertraut. Es war fast, als spräche ein Fremder mit ihm, denn plötzlich lag Härte in den Worten, Unnachgiebigkeit und die unterschwellige Botschaft, dass keiner von ihnen sich noch einmal aus dem Zimmer weisen lassen würde.

„Dann müsst ihr euer Versprechen auch halten." Es klang, als bedauerte es der Elb, diese Worte sagen zu müssen, doch ob es wirklich so war, vermochte niemand zu sagen, denn Elrond wich allen Blicken aus, indem er sich gleich darauf erneut Aragorn widmete. Er legte ihm eine Hand auf die Stirn, dann ließ er zur Überraschung der jüngeren Elben kurz den Kopf hängen, ehe er sich wieder fasste.

„Keines meiner Kinder hat mich je vor größere Probleme gestellt als du. Weißt du das, Estel?" sagte er leise und strich dem jungen Mann, dem die Augen immer wieder zufielen, eine Haarsträhne aus der Stirn.

„Ich...weiß," flüsterte der und versuchte zu lächeln. Doch der Versuch misslang kläglich.

Eine Stille legte sich nun über den Raum, die jeden Laut zu schlucken schien. Für einen Moment vergaß Elrond durch sie alles um sich herum. Er beugte sich zu Aragorn hinab, nahm dessen Gesicht zwischen seine schlanken Hände und hielt es fest, während beider Blicke sich begegneten. Es lag etwas Besonderes in dieser einfachen Geste, doch keiner der jüngeren Elben fand einen Ausdruck dafür. So beobachteten sie, wie Aragorn seinen Pflegevater plötzlich offen ansah und dann schließlich schwach den Kopf schüttelte.

„...tut ... mir leid...Vater ... ging ... nicht..."

Eine kraftlose Hand des Menschen legte sich über eine von Elronds, die noch immer an der fieberheißen Wange lagen. „Mach dir ...  keine Vorwürfe ... es ... wird ... alles ... g..." Die Kraft des Menschen war endgültig erschöpft. Mitten im Wort verstummte er, doch sein Blick ließ den des Elben nicht los.

Behutsam löste Elrond seine Hände vom Antlitz Aragorns, dann griff er nach dem mitgebrachten Kelch, der nebenan auf dem Nachtschränkchen stand. „In diesem Mittel hier liegt Estels letzte Chance auf Rettung. Wenn auch das versagt..."

Es war nicht nötig weiterzureden – Legolas und die Zwillinge verstanden auch so. Sie beobachteten, wie Elrond sich zu seinem menschlichen Pflegesohn auf das Bett setzte und dann dessen Kopf soweit anhob, damit er den Kelch an die vom Fieber aufgesprungenen Lippen setzen konnte.

Legolas, der nach wie vor an der Tür stand, sah eher zufällig, dass die Hände Elronds zitterten. Man sah es, wenn man genau auf sie achtete. Er runzelte die Stirn. Schon die bloße Tatsache war ungewöhnlich und sagte Legolas mehr über den Zustand seines Freundes, als Worte es vermocht hätten. Einem spontanen Impuls folgend verließ der Prinz seinen Platz an der Tür, ging ebenfalls zu Aragorns Bett hinüber, um sich dort Elrond gegenüber auf die andere Seite zu setzen.

„Lasst mich das machen, mein Lord," sagte er leise und machte dann Anstalten, das Gefäß seinem Gastgeber aus der Hand zu nehmen. Elrond sah auf den Menschen hinunter, der kaum noch in der Lage war, die Vorgänge um ihn herum zu begreifen. Einen Moment lang spürte Legolas den Widerstand in der Hand des älteren Elben. Überrascht sah er, dass die Miene Elronds Ablehnung widerspiegelte, die jedoch schnell wieder zurückgedrängt wurde.

In der Annahme, sein Handeln würde die Gastfreundschaft dieses Hauses verletzen, setzte Thranduils Sohn zu einer Erklärung an, doch das kühle Metall des Gefäßes, das ihm in diesem Augenblick in die Hand geschoben wurde, machte Worte unnötig. Er setzte es vorsichtig an Aragorns Lippen, dann hob er mit der anderen den Kopf des Freundes ein Stück an.

„Trink, Estel," sagte er und ließ das Mittel langsam zwischen den kaum geöffneten Lippen hindurch in dessen Kehle rinnen. „Es wird dir helfen. .."

Es muss..., fügte er in Gedanken hinzu. Ich darf einfach nichts anderes glauben!

Es dauerte fast eine Minute, bis das Gefäß leer war. Legolas sah auf.

Weder Elrond noch die Zwillinge hatten sich in der Zeit einen Millimeter bewegt. Aller Augen hingen gebannt an Aragorn, dem in diesem Augenblick endgültig die Augen zufielen.

„Was geschieht da mit Estel?" Legolas hatte die Veränderung mit wachsender Sorge registriert.

„Ich weiß es nicht genau. Eigentlich sollte es die Fieberkrämpfe lösen, unter denen sein Körper leidet." Der dunkle, beruhigende Klang, der Elronds Stimme so unverwechselbar machte, war nun fast gänzlich daraus verschwunden. Geblieben waren die tonlosen Worte eines Hoffnungslosen. „Doch noch nie zuvor musste ich dieses Mittel für einen Menschen zubereiten. Wir können nur abwarten und hoffen, dass es stark genug für ihn ist."

Das Tageslicht war inzwischen vom Abend aus dem Zimmer gedrängt worden. Nun erhellte nur noch der Schein des Kaminfeuers den Raum, in dem die zur Untätigkeit gezwungenen vier Elben warteten. Und die Zeit schien sich mit jeder verstreichenden Minute weiter auszudehnen. Irgendwann begannen Aragorns Lider sich wieder zu öffnen. Nun waren seine Züge friedlich.

Legolas, der das Gesicht des Freundes unverwandt angestarrt hatte, konnte nichts anders als erleichtert zu lächeln.

„Es wirkt!" sagte er und sah erleichtert zu Elrond auf, dessen Züge jedoch nach wie vor kummervoll aussahen. „Und das sogar sehr schnell. Seht nur, er kommt wieder zu sich."

Auch die Zwillinge näherten sich nun dem Bett.

„Musst du es immer so spannend machen, kleiner Bruder?" Elrohirs Stimme zitterte so wie Elronds Hände zuvor, während er Aragorn anzulächeln bemüht war.

Aragorn schien die Frage gar nicht wahrgenommen zu haben, denn erst einmal sah er Elrond an, blickte dann zu Legolas weiter, um dann schließlich zu seinem Vater zurückzusehen. „Was ist geschehen?"

„Ich... wir haben dir ein anderes Mittel gegeben." Eine gerade unheimliche Ruhe lag in der Stimme des Elbenherrn, der die zur Seite gerutschte Hand seines menschlichen Pflegesohnes nahm, sie auf dessen Oberkörper zurücklegte, um dann nach der Temperatur zu fühlen. „Es muss nur noch zu wirken beginnen."

Aragorns silbergraue Augen hafteten lange auf ihm, dann hob er eine Hand und legte sie ihm einen Augenblick lang wie tröstend auf den Arm. „Das wird es, Vater. Ich vertraue dir."

„Das kannst du auch," setzte Legolas unvermittelt hinzu und wunderte sich, dass ihn sowohl Elrond als auch Aragorn wie aus einer Trance gerissen anstarrten. „Es ist kaum ein paar Minuten her, dass ich dir das Mittel gegeben habe, und sieh selbst, wie sehr sich dein Zustand bereits verbessert hat."

„Du? Du hast..." Aragorn holte tief Luft, dann sah er Elrond an, sagte jedoch kein Wort.

Der erwiderte den Blick unbewegt. „Meine Hand war nicht so ruhig, wie sie es hätte sein sollen. Der Prinz ... war mir behilflich."

„Ist es nicht völlig egal, wer das Glück hatte, dir einen Heiltrank ohne Gegenwehr einflössen zu können, kleiner Bruder?" Elladan trat hinter seinen Vater und grinste den Menschen über dessen Schulter hinweg erleichtert an. „Die Hauptsache ist, das er hilft."

„Ja." Es klang, als bliebe Aragorn das Wort im Halse stecken. „Du hast wohl recht."

„Das habe ich doch immer, das weißt du doch, Estel. Immerhin bin ich der Älteste von uns dreien."

„Wie konnte ich DAS nur vergessen?" Nun schlich sich auch über Aragorns müdes Antlitz ein gutmütiges Lächeln. Selbst in diesem Moment noch schien er das Geplänkel mit seinen Brüdern zu genießen.

„So, wie du es sonst auch tust? Durch einfaches, aber wirkungsvolles Ignorieren?" Elrohir hatte sich inzwischen wieder beruhigt und beteiligte sich an dem Wortwechsel.

„Vielleicht solltest du daran arbeiten, wenn du wieder gesund bist." Auch Elrond lächelte nun endlich, doch die Angst der zurückliegenden Augenblicke schien noch immer nicht von ihm gewichen zu sein, denn wenn man genau hinsah, konnte man tiefe Sorgenfalten auf seiner Stirn erkennen, während er immer wieder prüfend über Aragorns Stirn strich.

„Das werde ich. Versprochen!" Aragorns Mundwinkel zuckten amüsiert. „Solange ich das hier tun kann und dafür nicht nach Lór..."

„Nicht!" Noch ehe der Mensch das Wort ganz aussprechen konnte, schüttelte Elrond den Kopf. „Laß uns nicht schon wieder über Lórien streiten, Estel. Sieh doch nur, wohin uns das letzte Mal geführt hat. Es wird keinen weiteren Disput darüber geben, denn dafür habe ich keine Kraft mehr."

„Verzeih mir, Vater!" Schlagartig war Aragorn wieder ernst und ergriff die schlanke Hand des Elben. „Ich wollte dir nicht weh tun, glaub mir."

„Das weiß ich, Estel. Das wußte ich bereits beim ersten deiner Worte. Nur macht es dieses Wissen einem nicht einfacher, die Dinge zu akzeptieren. Niemand, der Kinder hat, kann sich einfach so damit abfinden, dass sie oft anders handeln, als man es ihnen rät. Du bildest da keine Ausnahme, denn in meinem Herzen bist du schon seit langem mein viertes Kind. Verzeih du mir also. Verzeih, dass ich dich zu zwingen versuchte, nach Lórien zu gehen."

Die Zwillinge hatten dem Gespräch der beiden mit wachsendem Unverständnis gelauscht. Der Ernst, der in beiden Stimmen lag, war wie ein Schatten, der mit jedem gesagten Wort weiter durch den Raum kroch und sich auf die Gemüter der Anwesenden legte. Schließlich hielt Elladan es für geraten, der Unterhaltung eine Wende zum Leichteren zu geben.

„Wie ich die Sache sehe, kleiner Bruder, wirst du die nächsten Wochen sowieso nicht aus diesem Zimmer kommen," begann er und verschränkte in einer Geste der Provokation grinsend die Arme vor der Brust. „Diese Zeit werden Elrohir, Legolas und ich nutzen, um dir die zehn Grundregeln für den Umgang mit älteren Brüdern und guten Freunden beizubringen..."

Er verstummte, als er sah, dass Aragorn urplötzlich die Arme um den Körper schlang, aufstöhnte und sich zusammenkrümmte.

„Estel?" – „Vater, was ist mit ihm?" Die Fragen der Zwillinge kamen fast zur selben Zeit, doch sie erhielten keine Antwort, da Elrond vollauf damit zu tun hatte, den sich  schmerzerfüllt hin und her windenden Aragorn festzuhalten.

Erst nach Minuten entspannte der junge Mann sich endlich etwas. Er öffnete die Augen und sah zu Elrond auf, doch in den grauen Tiefen war noch der Nachhall des Erlebten zu sehen.

„Was war das, Vater?" Aragorns Stimme war kaum zu verstehen, seine Worte leise.

Der Elbe hielt seinen menschlichen Sohn noch immer fest und zum Erstaunen aller machte er nicht die leisesten Anstalten, zu den in der Nähe aufgereihten Heiltränken zu greifen oder einen der Zwillinge danach zu schicken. Stattdessen hob er Aragorn noch weiter zu sich heran, bis der Kopf des Menschen an seinem Oberkörper ruhte. Für einen Moment lang sah er, dass Legolas und seine Söhne ihn schockiert anstarrten, doch ihre stummen Fragen prallten einfach an ihm ab. Seine Blicke galten nur Aragorn.

„Es tut mir so leid, mein Sohn. Das Mittel, es..." Elrond schluckte mehrmals und holte dann tief Luft, ehe er fortfuhr. "...es wirkt nicht. Dein Fieber ist so weit gestiegen, dass selbst mein Wissen es jetzt nicht mehr brechen kann. Die Krämpfe, die du spürst..."

Mit jedem Wort war seine Stimme brüchiger geworden, doch nun verstummte er ganz. Gleich darauf rann eine erste Träne an seiner Wange hinab. Elrond beachtete sie überhaupt nicht. Es war nicht mehr wichtig, Aragorn zu erklären, was warum mit ihm geschah. Alles, was noch zählte, war, ihm das Gefühl von Nähe und Wärme zu geben, denn Aragorns Zeit lief ab.

Der Elb setzte an, dem Menschen dies irgendwie beizubringen – und konnte es doch nicht. So sah er nur hilflos zu ihm hinab, während weitere Tränen langsam ihre Spur auf seinen Wangen zogen und vom Kinn schließlich auf die Tunika Aragorns tropften.

Der sah die sich bildenden dunklen Flecken auf dem Stoff und begriff fast augenblicklich, wie es um ihn stand, denn noch nie zuvor hatte er Tränen bei Elrond gesehen.

„Nicht, Vater. Bitte nicht." Ungelenk hob er einen kraftlosen Arm und legte ihn über jenen, der ihn festhielt. „Es ist doch alles meine Schuld. Du hast getan, was du konntest. Bitte nicht weinen..."

„VATER???"

Elladan glaubte, nicht recht gehört zu haben. Die Worte, so klar und einfach sie auch waren, schienen keinen Sinn zu ergeben. Sie durften einfach keinen Sinn ergeben. Reglos wie eine Statue stand er hinter Elrond und starrte erschüttert zwischen seinem jüngeren Zwilling und Legolas hin und her. Doch keiner der beiden achtete auf ihn – aller Augen hingen an Elrond und dem kostbaren Leben, das er hielt.

„Sag, dass das nicht wahr ist!" Elrohir ließ sich neben Legolas auf dem Rand des Bettes nieder und legte seine Hand an die Wange des Vaters. Er wollte ihn dazu zu zwingen, sie endlich anzusehen. Das Gefühl der Feuchtigkeit auf seinen Fingern traf den Zwilling wie ein Schlag. Langsam, unendlich langsam, zog er sie zurück, um sie zu betrachten.

Lange.

Fassungslos.

Nun endlich verstand auch er, was Elladan meinte.

„Nein..." flüsterte er, schüttelte den Kopf, starrte noch einmal auf seine Hände, dann packte er Elronds Schultern mit schmerzhaftem Griff. „Nein!!! Sag, dass das nicht sein kann. Dass du etwas tun wirst. Dass..."

„Ich kann nicht!!!"

Die verzweifelten Worte ließen alle Anwesenden zusammenzucken. Es war in den zurückliegenden Jahrtausenden schon einige Male vorgekommen, dass Elrond seinen Söhnen gegenüber derart laut geworden war, doch noch nie war er ihrem Blick dabei ausgewichen.

„Ich kann euch nicht sagen, was ihr von mir hören wollt. Was mein Herz hören will. Ich kann nichts tun, hört ihr? Nichts..."

Die Worte waren fast zuviel für alle. Elrond jedenfalls schien den Klang seiner eigenen Stimme nicht mehr ertragen zu können, denn er verstummte abrupt.

Aragorn schien als einziger noch ein wenig Fassung bewahrt zu haben, denn der Schatten eines traurigen Lächelns glitt rasch über seine zusehends fahler werdenden Züge. Ohne seinen Vater loszulassen, hob Aragorn den anderen Arm und streckte ihn nach seinem Bruder aus. „Elladan, komm her zu mi..."

Ein neuerlicher Anfall unterbrach ihn mitten im Satz. Wieder stöhnte er laut auf und wand  sich im Griff des Vaters, der ihn jedoch umklammert hielt, als gelte es das eigene Leben festzuhalten.

„Ich bin bei dir, hörst du? Ich lasse dich nicht allein. Ich bin hier und ich halte dich fest. Es tut mir so leid, mein Sohn, mein Estel..."

Elronds Worte sollten Aragorn trösten – und drangen doch nicht zu ihm durch. So hielten sie nur einen Trost bereit: jenen, dass der verzweifelte Vater sie aussprechen konnte. Der Elb hielt den jungen Mann an fest, als wollte ihn jemand seinen Armen entreißen. Endlich ließen die Krämpfe ein weiteres Mal nach.

Schwer um Luft ringend, zwang Aragorn seine Lider auf und sah sich um, bis er die Gestalten aller erfasst hatte. Auch Elladan hatte sich inzwischen um das Bett herumbewegt und stand nun hinter seinem jüngeren Bruder und Legolas.

„Mir geht ... so viel ... durch den Kopf ... doch die Zeit ... reicht einfach nicht ... für alles."

Aragorns Worte waren mühsam, immer wieder von Pausen unterbrochen und vom Anflug eines Lächelns begleitet. „Ich will euch danken ... dass ihr mich wie euren... Bruder behandelt habt..." Er sah zu Elrond auf, der keinen Blick von der Miene des Menschen ließ. „...dass ich mich ... fühle, als wäre ich wirklich ... dein Sohn..."

„Das waren wir gern." Elrohirs Stimme klang erstickt. „Deine Brüder, meine ich. Und das werden wir auch dann noch sein, wenn..."

Er verstummte. Es schien dem Zwilling unmöglich, das scheinbar Unabwendbare auszusprechen.

„Danke," flüsterte Aragorn und war insgeheim dankbar dafür, Elronds festen Griff um sich zu spüren. Langsam begann die Welt um den jungen Mann herum zu verschwinden. Die Konturen der Gegenstände und Personen wurden bereits unscharf. Er blinzelte heftig, bis ihm seine Augen noch einmal ein klares Bild boten.

Vor sich sah er Legolas und die Zwillinge. Ihr Anblick berührte ihn tief, denn er sah, was ihr Kummer sie in diesem Moment nicht sehen ließ. Er sah den Arm, den Elladan automatisch um die Schultern seines Zwillingsbruders legte, um ihn zu trösten. Er sah auch, wie dieser sich haltsuchend an ihn lehnte, ohne es bewußt wahrzunehmen – und er sah diese eine Gestalt neben ihnen, die ohne Trost und Halt war und wie die verlorenste Seele Mittelerdes wirkte.

„Legolas?"

So schwach er war, so mühsam es auch schien – Aragorn schaffte es, seinen Arm noch ein weiteres Mal zu heben und nach seinem Freund auszustrecken. Der starrte unverwandt auf die Bettdecke.

„Legolas... Sieh mich an... Bitte, sieh mich an..."

Er berührte den Elbenprinzen lediglich mit den Fingerspitzen, denn mehr Kraft hatte Aragorn nicht. Doch es war genug. Zögernd hob der Prinz den Blick, in dem man wie in einem offenen Buch Trauer, Schuldgefühl und Gedanken an ein gegebenes Versprechen erkennen konnte.

„Versprich mir etwas."

„Alles." Legolas räusperte sich, denn auch ihm war die Kehle wie zugeschnürt. „Alles, was du willst."

Aragorn spürte, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb, um von seinem Freund ganz gewisse Worte zu hören. Zu wenig Zeit – und er wußte es. Dennoch wollte Aragorn es wenigstens versuchen.

„Dann versprich mir..." Er spürte, wie erneut eine Welle von Krämpfen auf ihn zu kam. Sie waren stärker als die vorhergehenden. Entschlossen nahm er die letzten Kraftreserven zusammen. „...dass du hier bleibst. Hier in Mittelerde. Versprich es mir."

Der Elbenprinz schüttelte den Kopf. Feierlicher Ernst lag auf seinen Zügen. „Das kann und werde ich dir nicht versprechen, und das weißt du auch. Also beeil dich nicht zu sehr auf deinem Weg, ja?"

„Nicht..." Aragorn sah den Freund flehentlich an. „Warte wenigstens eine Woche. Um meinetwillen..."

Er hatte keine Zeit mehr, Legolas' Reaktion zu beobachten, denn unerträglicher Schmerz schoss bereits durch den kranken Menschenkörper.

„Vater..." Aragorn begann zu keuchen, als ersticke er, doch dessen ungeachtet drehte er den Kopf so weit zurück, damit er Elrond ansehen konnte. Und plötzlich fielen ihm Bilder seines Albtraums wieder ein. Ein Schauder rann das Rückgrat des jungen Mannes hinab. War es dort nicht ebenso gewesen? Es fühlte sich also wirklich so an, wenn man starb.

„Es liegt jetzt..." Er bäumte sich erneut auf. „...in deiner ... Hand..."

Übergangslos war keine Luft zum Atmen, keine Kraft zum Sprechen und kein Augenblick Zeit zum Denken mehr da. Mit ungeheurer Wucht krümmte sich der fieberglühende Körper zusammen, gegen die Kraft der Arme, die ihn hielten. Das Herz in Aragorns Brustkorb begann schneller und schneller zu schlagen, bis sogar das Pochen Schmerz verursachte.

Dann wurde es still um den jungen Mann. Mit der Stille kam die Schmerzlosigkeit, die so wohl tat. Und mit der Schmerzlosigkeit kam die Schwärze, die alles auslöschte: Gesichter, Namen, Gedanken – und schließlich auch die Erinnerung des Herzens an den Rhythmus, den es beibehalten musste, um Leben zu spenden...

Als der Körper in Elronds Armen schließlich zusammensackte und Aragorns Kopf leblos zur Seite fiel, starrten die Zwillinge ihn ungläubig an. 

„Estel?" Elladans Wispern war selbst für das scharfe elbische Gehör kaum zu verstehen, als er furchtsam seine Hand hob und auf dem Brustkorb seines Bruders platzierte. Einige Augenblicke lang starrte der Zwilling die Stelle an, dann ließ er die Hand schließlich wieder sinken. Der Herzschlag, den zu fühlen er gehofft hatte, war nicht mehr zu spüren.

Man musste kein Heiler sein, um zu erkennen, dass Aragorn tot war!

„Wir werden dich schrecklich vermissen, kleiner Bruder," flüsterte Elladan nach einer langen Pause, während neue Tränen seine Wangen hinab liefen und sein unterdrücktes Schluchzen gerade laut genug war, um vernommen zu werden. Er fuhr noch einmal liebkosend durch das dunkle Haar Aragorns, dann erhob er sich wortlos und verließ das Zimmer fluchtartig und ohne noch einmal zurückzusehen.

„Hatte ich dir nicht gesagt, du darfst so etwas nie wieder mit uns machen?" Auch Elrohir stand dicht davor, die Fassung zu verlieren. Seine Stimme verriet es deutlich, denn sie zitterte so wie die Elladans noch vor wenigen Momenten. Er betrachtete Aragorns Gestalt, die im Schein des Kaminfeuers einen geradezu unwirklichen, weil schlafenden Anblick bot. „Dieses eine Mal hättest du tun sollen, worum man dich bittet..."

Er ließ den Kopf hängen und stand auf. „Es tut mir leid, Vater, aber ich kann nicht länger..."

Ohne den Satz zu beenden flüchtete auch Elrohir aus dem Zimmer, das für alle so lange ein Ort der Freude und Herzlichkeit gewesen war. Aragorns Tod hatte es innerhalb kürzester Frist zu einer Stätte des Leids werden lassen.

Als die Tür sich geschlossen hatte, waren Elrond und Legolas allein. Der Elbenprinz war während der ganzen Zeit schrecklich still gewesen, doch nun brach er sein Schweigen schließlich.

„Estels Seele hat sich auf den Weg zu seinen Vorfahren gemacht." Es war die geradezu unnatürliche Ruhe in den Worten, die Elrond aus seinem Kummer riss und ihn aufsehen ließ. „Nachdem sein Körper zur letzten Ruhe gebettet wurde, werde auch ich mich auf den Weg machen, so wie ich es Eurem Sohn heute morgen erst schwor."

„Legolas..." Elrond sah den jüngeren Elben ungläubig an. „Die Trauer läßt Euch unbedachte Worte wählen. Ihr wißt nicht, was Ihr da sagt..."

Das kurze Lächeln des Prinzen brachte den Elbenherrn völlig aus dem Gleichgewicht. War die Freundschaft zwischen beiden schon derart tief gewesen, dass Aragorns Tod dem Elbenprinzen den Verstand trübte? Zu Elronds Schmerz mischte sich nun erneute Besorgnis. Legolas indessen konnte die Befürchtungen an dessen entgeisterter Miene deutlich erkennen. Schlagartig wurde er ernst.

„Vergebt mir mein Lachen an so unpassender Stelle, mein Lord, doch Eure Worte waren exakt jene, die Estel noch vor wenigen Stunden wählte, als er meinen Schwur vernahm. Ihr wusstet es beide nicht, aber ihr wart einander sehr, sehr ähnlich. Estel glich Euch vor allem in Eurer Entschlossenheit, Lord Elrond, doch weder seine noch Eure Worte können mich von meiner Absicht abbringen. Ich habe Arathorn vor Mandos' Hallen das Versprechen gegeben, dass Aragorns Wege auch die meinen sein sollen. Zwar wandelt Estel nun auf den Pfaden der Toten, doch ich kann zumindest jene gehen, die den Lebenden bleiben. Ihr habt meine Worte vernommen, Lord Elrond: sobald sich Estels Grabmal geschlossen hat, breche ich nach Valinor auf."

„Aber was wird mit Eurem Vater? Eure überstürzte Abreise wird ihm das Herz brechen."

„Nein, ich glaube kaum, denn wir sind uns fremd geworden. Ganz besonders, seit meine Mutter starb. Und in den letzten Jahren hat mein Vater sich ohnehin nur noch selten um meine Gesellschaft bemüht. Wir haben uns zwar seit dem Anschlag Caleans etwas öfter gesehen, doch meine endgültige Abreise wird ihn trotzdem wohl nicht allzu tief treffen. Ihr wart erst kürzlich in Düsterwald, Lord Elrond. Ihr habt gesehen, dass meine Heimat nicht mehr der lichte Ort von einst ist. Warum, glaubt Ihr, war ich damals, als ich Estel begegnete, mit jener Patrouille unterwegs? Ich hatte mich freiwillig gemeldet, weil ich die Schatten nicht mehr ertrug, die sich dichter und dichter an uns heranschieben. Dass es eine gute Entscheidung war, zeigte sich wenige Tage später, als ich auf Euren menschlichen Sohn traf – auf Aragorn."

Legolas' Blick verließ Elronds Gesicht und ging gedankenverloren aus dem Fenster.

„Aragorn war die Antwort auf etwas, von dem ich nicht gewusst hatte, dass ich es überhaupt vermisse. Als ich ihn kennenlernte, ahnte ich, welch ein Licht durch ihn in Bruchtal erstrahlen musste, denn er trug einen Teil davon in sich. Ich bin ein Elb und so zog es mich zu diesem Licht. Nun ist seine helle Seele, sein Licht, fort und ich kann nichts anders, als diesem Licht zu folgen."

Legolas wandte sich wieder Elrond zu, der angesichts der Hoffnungslosigkeit des Prinzen zunächst vergeblich nach den richtigen Worten suchte.

„Ich werde meinem Vater einen langen Brief schreiben und alles erklären. Er wird es verstehen. Glaubt mir, mein Lord. Immerhin kennt ihn niemand besser als ich."

„Und was ist mit Estels Bitte, noch eine Woche hier zu bleiben und abzuwarten? Ihr habt ihm gesagt..."

„Ich habe es ihm nie versprochen und Ihr wißt das." Unbeugsamkeit lag auf den jugendlichen Zügen des silberhaarigen Prinzen, doch in den Tiefen der blauen Augen war die Bitte um Verständnis zu erkennen, als er sich schließlich ebenfalls erhob. „Verzeiht, aber diese Wände erdrücken mich."

Sein abschiednehmender Blick ruhte lange auf Aragorn, dann griff er geistesabwesend nach einer Hand, die irgendwann während des letzten Krampfes unbeachtet zur Seite gerutscht und nun in unnatürlich verdrehter Haltung unter dem Körper des Menschen eingeklemmt war. Er zog sie hervor, um sie auf Aragorns Brust zurückzulegen – und zuckte zusammen, als er einen einzelnen Pulsschlag zu spüren meinte.

„Er lebt noch, mein Lord!"

Aufgeregt sah Legolas Elrond an, doch der schüttelte nur traurig den Kopf. „Ihr irrt Euch, Legolas."

„Ich habe es doch gefühlt, seinen Puls gespürt. So glaubt mir doch, mein Lord."

Unvermittelt griff Elrond nach Legolas' Hand und presste sie auf Aragorns Herz. „Sagt mir, was Ihr spürt!"

Legolas strengte seinen Tastsinn aufs Äußerste an, doch unter seiner Handfläche schlug kein Herz. Enttäuscht ließ Legolas den Kopf hängen.

Mitleidig entließ Elrond die Hand des Elbenprinzen aus seinem Griff. „Ihr habt Euch getäuscht, glaubt mir. Leid ist ein geschickter Verführer und läßt manchmal jene Dinge entstehen, die man sich wünscht."

„Ihr habt wohl recht!" Legolas brachte es nicht fertig, den älteren Elben anzusehen, als er sich umwandte und zur Tür ging. „Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche..."

Gleich darauf war der Elbenherr allein. Er presste Aragorn ein letztes Mal an sich, bevor er den Körper sanft auf das Bett zurücklegte. Sein Blick verließ das stille Antlitz des Menschen keinen Augenblick, nicht einmal dann, als nach einiger Zeit von fern eine einzelne Stimme erklang, die ein Klagelied in den Nachthimmel schickte. Elrond wußte, wem diese Stimme gehörte.

Legolas.

„Quel kaima [Schlafe wohl]..." Der Elb strich seinem jüngsten Sohn liebevoll über die Stirn, so als hätte er ihn gerade in den Schlaf gewiegt. „Möge dein Geist frei wandern. Ich werde mich um alles kümmern, sei unbesorgt, Estel."

***

wird fortgesetzt