Hach, so viele schöne Reviews! *Autorinnen seufzen ganz verzückt* Und weil ihr so schön brav reviewt habt, folgt hier wie versprochen das nächste Kapitel... Und wenn ihr wieder so fleißig in eure Tastaturen haut, dann kommt am Wochenende gleich noch ein Schwung... Vielleicht... Oder doch nicht? ... Schwere Entscheidung... Hm? *Autorinnen ziehen Streichhölzer*

__________________________________________________________________________________________

Schuld und Sühne

von: Salara und ManuKu

__________________________________________________________________________________________
 
Teil 21

Nach Aragorns Tod hatte Legolas das Schloss verlassen und sich dem weitläufigen Garten zugewandt. Er war, so hoch es ging, in die Krone einer alten Eiche geklettert. Erst, als die Äste des Baumes das Gewicht des schlanken Elben kaum noch tragen konnten, ließ er sich nieder.

Sein langes Leben hatte ihn schon oft so gesehen – daheim in Düsterwald –, doch meist hatte Legolas auf diese Art einige Momente des Friedens gesucht. Frieden war jedoch das, was er jetzt am wenigsten ertragen konnte. So lehnte er sich an den Stamm zurück und starrte in den Abendhimmel hinauf, der die Sterne hinter seinen Wolkenbergen verbarg. Ihr wildes Chaos schien die Emotionen in ihm perfekt widerzuspiegeln.

Noch immer konnte er den Griff spüren, mit dem Elrond ihn festgehalten hatte, doch schlimmer noch war die Erinnerung an jenen Moment, in dem er erkannte, dass das Herz in der Brust des Freundes wirklich nicht mehr schlug.

Das kann nicht sein... es darf nicht sein... es ist unmöglich...

Es ist ... wahr...

Er hatte es gespürt, das Schweigen des Todes in Aragorn, und spürte es noch. Es machte ihn fast wahnsinnig in seiner Endgültigkeit.

Heute morgen sah noch alles gut aus. Ich habe mit ihm geredet und...

Er dachte den Satz nicht zu Ende, konnte ihn nicht zu Ende denken, denn hätte er es getan, wäre seine Selbstbeherrschung vollends zusammengebrochen. So schloß er die Augen, schob jeden bewussten Gedanken weit von sich, außerhalb seiner Reichweite, und lauschte. Lauschte in den Sturmwind, der Regen ankündigte und die mit vertrocknetem Herbstlaub bedeckten Baumkronen rauschen ließ. Lauschte in die Weite des Tales, das den Tod Aragorns mit Schweigen ehren zu wollen schien. Lauschte in sich hinein, bis in ihm ein Lied aufstieg, das seiner Trauer entsprach.

Dann begann er zu singen.

Aus seinem Schmerz heraus erklang ein altes elbisches Klagelied, das er erst einmal gesungen hatte: damals, als der Tod ihm die Mutter genommen hatte. Und so wie zu jener Zeit, hallten die Worte auch diesmal laut und klar in die Nacht. Mit ihnen sang er sich Kummer, Versprechen und Wünsche von seiner Seele.

Legolas sang auch, um nichts anderes mehr hören zu müssen, um den Moment von Aragorns Sterben zu vergessen, den er doch nie wieder aus dem Kopf bekommen würde.

Er sang, bis nichts mehr eine Bedeutung besaß...

***

In Bruchtal schlief niemand in dieser Nacht.

Als der nächste Morgen als heller Streifen am Horizont herandämmerte, waren die trauernden Zwillinge in ihren Zimmern, während ein bedrückter Elrond seinen menschlichen Pflegesohn mit eigener Hand in seine besten Gewänder kleidete und für die bevorstehende Beerdigungszeremonie herrichtete.

Im gesamten Schloss war der Schmerz um Aragorns Tod greifbar. Es wurde kaum gesprochen und wenn, dann nur im Flüsterton, doch es bestand eine stumme Übereinkunft aller Elben, ihm das Geleit zu geben.

Am härtesten fiel es jedoch Legolas, sich dem Gedanken an die kommenden Stunden zu stellen. Er wußte, was kommen würde, und fürchtete den Moment, an dem er unweigerlich ein letztes Mal Abschied von Aragorn nehmen musste. Anders als an jenem Morgen im Bruchtaler Wald würde es diesmal wirklich – und endgültig – sein.

Es war einzig seiner Willensstärke zuzuschreiben, dass er es schaffte, seine Gefühle für den Moment in den Hintergrund zu verbannen, sich ins Schloss zurückzubegeben und dort die Kleidung anzulegen, die auf dem Bett für ihn bereitgelegt worden war. Neben einer schwarzen Hose lagen dort eine aus dunkelgrünem Samt gefertigte Tunika mit Überwurf, die an den Rändern mit silbernen Ornamenten bestickt waren. Er zog sie an, ohne auch nur einen Blick auf ihre Schönheit zu verschwenden. Dann setzte er sich nach kurzem Überlegen an den zierlichen Schreibtisch, nahm einen Bogen Pergament sowie Feder und Tinte und begann einen Brief zu schreiben. Immer wieder schweiften seine Gedanken dabei ab und so setzte er gerade den letzten Federstrich auf das Papier, als ein verhaltenes Klopfen an der Tür ertönte. Er zuckte sichtlich zusammenzucken.

„Ja?"

Die Tür ging auf und Elrond trat ins Zimmer. Auch er hatte die feierlichste seiner Roben angelegt und auf seiner Stirn war ein schmaler, geflochtener goldener Reif zu erkennen.

„Es ist an der Zeit..." sagte er leise und sein sichtlich besorgter Blick ließ Legolas keine Sekunde los.

Der schluckte schwer, dann legte er die Feder zur Seite und stand auf. „Ich komme."

Seine Stimme klang spröde wie zerspringendes Glas und spiegelte wider, was mit keinem Wort ausgedrückt werden konnte: den Gedanken Es ist wahr, wirklich real.

Hatte Legolas den inneren Schmerz bisher noch unterdrücken können, so zerstörte dieser eine Augenblick die Mauer, hinter der er ihn zurückzuhalten versucht hatte. Als er sich in Bewegung setzte und mit abgewandtem Gesicht an Elrond vorbeiging, begann für ihn einer der schwersten Wege seines bisherigen Lebens.

***

Die nächsten Stunden reduzierten sich für Legolas auf die wenigen Augenblicke, in denen die Geschehnisse intensiv genug waren, um den Nebel aus Niedergeschlagenheit und gedanklichem Durcheinander zu durchdringen...

***

...auf die Momente, in denen aus dem Zug leiser Gesang an sein Ohr drang...

***

...auf den Anblick der vielen Elben, die sich stumm dem aufbrechenden Trauerzug angeschlossen hatten...

***

...auf das Gefühl eines Armes, den irgendwer ... Elladan? ... um seine Schultern schlang, um ihn mitzuziehen...

***

...auf den Klang einer Stimme, die er kannte. Elronds Stimme. Dunkel vor Emotionen zwar, aber ruhig und gefasst.

„Er war ein Licht in unseren Leben. So strahlend hell, dass es für ganz Mittelerde gereicht hätte. Dieses Licht ist nun für immer erloschen..."

Die Worte taten viel zu weh, um sie lange ertragen zu können, und so tauchte Legolas' Verstand wieder in den schützenden Nebel zurück...

***

„Legolas! Legolas, hörst du mich?"

Matt hob Legolas den Kopf und blickte in die Richtung, aus der die hartnäckige Stimme kam.

Elladans Gesicht. Direkt vor ihm. Forschend. Besorgt. So wie all die anderen Gesichter, von denen er sich angestarrt fühlte. Er hasste dieses Gefühl.

„Was ist..." Die Worte klangen, als hätte er seine Stimme seit Jahren nicht gebraucht. „Was willst du?"

„Es wird Zeit, Estel zu..." Elladan verstummte. Schluckte schwer. Es glitzerte verdächtig in seinen Augen. „Willst du ihm etwas sagen oder mitgeben?"

Der Prinz schüttelte den Kopf. Dann – als könne diese Geste missverstanden werden – fügte er hinzu: „Was ich zu sagen hätte, wußte er bereits, ehe er starb..."

Sein Blick glitt an Elladan vorbei zu Aragorns lebloser Gestalt, die in einigen Metern Entfernung auf einer Bahre lag und bis zum Hals von einem großen weißseidenen Grabtuch bedeckt wurde. Direkt dahinter gähnte schwarz ein portalartig breiter Zugang in der Felswand.

Eine Felswand?

Irritiert sah Legolas sich um. Er stand am oberen Ende einer steinernen Treppe, die serpentinenartig von der Talsohle empor führte.

Wann war er sie hinaufgestiegen? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.

Die ungestellte Frage verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war. Es zu wissen, war nicht wichtig.

Unterdessen nickte Elladan. Er verstand. Dann wandte er sich ab und sah wieder zu seinem Vater, der neben Aragorns Kopf stand. Er hatte die Szene schweigend verfolgt und warf Legolas einen weiteren langen, undeutbaren Blick zu, ehe er zu sprechen begann.

„Sobald wir den Zugang zum Grab verschlossen haben, wird Estel sich auf eine neue Reise begeben."

In den Worten Elronds lag trotz des in ihnen deutlich vernehmbaren Kummers eine unerwartete Kraft. Mühelos verstand man sie noch in den hintersten Reihen der Anwesenden.

„Wir alle bitten die Valar, Aragorn, den einzigen Sohn von Arathorn und Gilraen, zu beschützen und sicher dorthin zu geleiten, wo man ihn bereits erwartet."

Er zögerte, atmete tief durch, dann zog er das weiße Seidentuch zur Gänze über das Gesicht des jungen Mannes. Anschließend wandte er sich dem zu den Grabkammern führenden Eingang zu. Auf sein Zeichen hin trugen die zwei Krieger, die die Bahre bislang gehalten hatten, sie in den Felsengang hinein zu den Grabkammern. Eine davon würde nun zur letzten Ruhestätte ihres menschlichen Bruders werden.

„Komm." Elladans Hand zitterte verdächtig, als er den Elbenprinzen sachte anstieß.

Er wartete, bis Legolas der Bahre zu folgen begann, die in diesem Augenblick durch die Zugangsöffnung verschwand, erst dann folgten Elrohir und er ihr gleichfalls.

Die Bahrenträger hatten unterdessen eine Kaverne betreten, die links direkt hinter dem Eingang in den Fels hineingetrieben worden war. Fackellicht erhellte sie. Die Flammen gaben den Blick auf weitere, durchweg unverschlossene, Zugänge frei, die wiederum in kleinere Kammern hineinführten. Neben jeder der Öffnungen lehnte eine große steinerne Platte an der Wand. Alle waren gerade groß genug, um die Öffnung passgerecht zu verriegeln.

Es waren Verschlusssteine.

Eine dieser Kammern steuerten die Träger jetzt an. Auch dort brannte eine einzelne Fackel in einer geschwungenen steinernen Halterung neben dem Eingang. Ohne zu zögern trugen die beiden Krieger die Bahre mit Aragorns Körper ins Innere und legten sie dort vorsichtig auf dem Sockel ab, der in der Mitte aus dem Fels herausgemeißelt worden war. Er hatte die Form eines – wenn auch steinernen – Ruhelagers und war, ebenso wie die gesamte Kammer, mit Reliefs von Pflanzen, Tieren und ineinander verschlungenen Mustern geschmückt.

Als die beiden Träger gegangen waren, traten Elrond und seine Söhne ein. Letztere hatten Legolas in ihre Mitte genommen.

„Es wird Zeit." Elronds Stimme klang heiser. „Wir müssen nun Abschied von ihm nehmen."

Sein Blick streifte Elladan, der dies als Aufforderung erkannte, den Anfang zu machen. Zögernd trat er an die Bahre heran, streckte die Hand aus, um Aragorn zu berühren – und ließ sie dann unverrichteterdinge wieder sinken.

„Lebwohl, Estel. Von nun an wirst du deinen Weg ohne uns gehen, doch in Gedanken werden wir weiterhin an deiner Seite sein. Dir gehört ein Teil unserer Herzen. Für immer."

Er trat zurück und machte seinem Bruder Platz, der mehr Kraft aufbrachte, denn Elrohir schlug das weiße Tuch noch einmal zurück und enthüllte Aragorns Gesicht. Lange Augenblicke stand er reglos da, wie um sich die friedlichen Züge des jungen Mannes für immer einzuprägen, dann holte er vernehmlich Luft.

„Ich hoffe, du findest dort, wo du nun hingehst, jemanden, der sich um dich kümmert und dich – wenn nötig – vor dir selbst beschützt, denn ich kann das nun nicht mehr tun." Er neigte seinen Kopf in einer Geste des Abschieds.

Elrohir mied jeden Blick, als er zu seinem Bruder zurücktrat, doch man sah am krampfhaften Schlucken, dass auch nur ein falsches Wort genügen würde, um seine Selbstbeherrschung zu zerstören.

Inzwischen war Elrond dicht an die Bahre herangetreten. So wie schon am Abend seines Todes legte er Aragorn auch jetzt wieder die Hände an die bleichen Wangen, sah auf ihn hinab, als warte er auf etwas, dann wurden seine Züge, die bislang einer emotionslosen Maske geglichen hatten, plötzlich weich.

„Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit für alles gehabt, aber sie war ein noch erbarmungsloserer Feind für dich als die Südländer. Besiegen kann ich die Zeit nicht, wohl aber festhalten, denn die Gedanken an dich kann sie mir nicht nehmen, dessen sei gewiss."

Plötzlich beugte er sich zu Aragorn herab und sagte so leise, dass es nur die in unmittelbarer Nähe stehenden Zwillinge hörten: „Möge der Rest deiner Reise leichter sein, als der Beginn es war, Estel..."

Dann trat auch Elrond wieder von der Bahre fort. Aller Augen richteten sich nun auf Legolas.

Es war nicht nötig, ihn erneut aufzurütteln, denn auf seltsame Weise schien er die ihm zuteil werdende Aufmerksamkeit zu spüren. Nach einigen Sekunden des Wartens blinzelte er und drehte den Kopf, um sich über seine momentane Umgebung zu orientieren. Dabei fiel sein Blick auf Aragorn. Legolas begriff, was man von ihm erwartete.

Ganz langsam setzte er sich in Bewegung, ging auf die Bahre zu, bis er schließlich direkt neben ihr stand. Die dichte Stille, die inzwischen wieder in der kleinen Kammer herrschte, ließ die nächsten Worte hallen.

„Ich weiß, wie es dort ist, wo du jetzt hingehst, denn ich war schon einmal da. Jetzt wünschte ich, dass mich dieser Ort damals nicht mehr freigegeben hätte. Das Zurückgelassenwerden ist nur schwer zu ertragen..."

Er verstummte, sah eine Zeitlang gedankenverloren in Aragorns Gesicht. So friedlich wie in diesem Augenblick war es selten gewesen.

„Wie dem auch sei... Dieser Platz wird dir nicht gefallen, Estel. Es ist dort viel zu ereignislos für jemand so Ungeduldiges wie dich. Also bring bitte nicht allzu viel Unruhe in Mandos  ehrwürdige Hallen, ja?"

Mehr zu sagen war Legolas nicht möglich. Also schwieg er statt dessen und deckte das Tuch ganz behutsam wieder über den Kopf seines Freundes, dann kehrte er zu Elladan und Elrohir zurück.

Er sah sie nicht an, nicht einmal, als ihn die Zwillinge links und rechts am Ellbogen berührten und aus der Kammer schoben. Dort standen in ein paar Schritten Entfernung noch immer die beiden Krieger, die Aragorns Bahre getragen hatten. Als sie sahen, dass alle wieder draußen waren, traten sie näher, entfernten die Fackel aus dem Grab und begannen die große Steinplatte in die Öffnung einzupassen.

Nun war deutlich der Gram in Elronds Augen zu erkennen, als er reglos zusah, wie sich Aragorns Grab langsam schloß.

Nachdem die Platte fast fugenlos in den Zugang eingefügt worden war, wandten sich die beiden Krieger ihrem Herrn zu und nickten. Ihre Aufgabe war nun erfüllt. Die allerletzte Handlung oblag Elrond selbst: die Platte endgültig zu versiegeln.

Nie zuvor war dem Elbenfürsten etwas schwerer gefallen als die beiden Handlungen, die er nun vorzunehmen hatte. Er trat an die Seite und verschob eines der gemeißelten Blätter, das bisher lediglich wie einfacher Zierrat gewirkt hatte. Es legte sich quer über den Rand der Platte, wie um sie zu halten, während etwas in den Stein einrastete. Auf der anderen Seite wiederholte er diese Prozedur. Wieder schoben sich Riegel seitlich in die Platte. Es war nur ein leises Klicken, doch für die Elben klang es schmerzhaft laut.

„Sagt den Steinmetzen, dass sie ihre Arbeit noch heute vollenden müssen. Sie wissen bereits, was ich als Inschrift wünsche." Elrond wandte sich um und sah einen der Wachleute an. „Danach soll niemand mehr seinen Schlaf stören."

„Ja, Herr!"

Die Wachen nickten erneut und gingen. Nun waren die vier Elben allein in der Kaverne. Einen Moment lang schwiegen alle, dann legte Elrohir seine Hand zwischen Legolas' Schulterblätter. „Es wird auch für uns Zeit zu gehen..."

Nicht die Geste selbst warf den Prinzen endgültig aus der Bahn, sondern die in ihr liegende Vertrautheit, die für ihn mit der Erkenntnis verbunden war, dass die Zwillinge sie nun unbewusst bei ihm anwandten. Legolas hatte bereits während seines ersten Aufenthaltes in Bruchtal beobachtet, dass die Zwillinge Aragorn auf diese Art stets dazu brachten, etwas zu tun, was er sonst nicht freiwillig getan hätte, wie zum Beispiel sich auszuruhen oder sich in einem Streit einem Gegenargument zu beugen. Es war ein seltsamer Mechanismus – nicht erklärbar, aber immer überaus wirksam.

Ich bin nicht euer Ersatzbruder, stiegen die Worte in ihm auf, aber er schluckte sie rechtzeitig genug, ehe auch nur ein Laut seine Kehle verlassen konnte. Ein kleiner Teil seines Verstandes sagte ihm, dass er dabei war, ungerecht zu reagieren und Elronds Söhne auf diese Art nur mit ihrer Trauer fertigzuwerden versuchten. Legolas begriff, dass alles nur Ausdruck ihrer Sorge um ihn war. Doch der Schmerz, der seit dem Moment von Aragorns Tod in ihm mit ungebremster Heftigkeit wütete, überlagerte das Wissen in diesem Augenblick. So wirkte es beinahe feindselig, als er ruckartig zurücktrat – heraus aus Elrohirs Reichweite. „Ist meine Anwesenheit noch vonnöten?"

„Nein, aber..."

Verständnislose Blicke streiften ihn, doch das kümmerte Legolas nicht. „Dann entschuldigt mich. Ich will jetzt allein sein."

Er wartete gar nicht erst auf eine Entgegnung, sondern verließ hastig die Begräbnisstätte. Fassungslos sahen ihm die Zwillinge nach.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?" Ratlos sah Elrohir seinen Vater an, doch Elrond schüttelte den Kopf. „Nein, das hast du nicht."

Es sind auch nicht die Worte, die falsch sind, sondern die Taten. Meine Taten, dachte er den Satz insgeheim zu Ende und seufzte leise. Von allen Fehlern, die ich je gemacht habe, ist dies wahrscheinlich der Schlimmste...

„Lasst ihn. Er braucht nur etwas Zeit."

Elrond ging zu seinen Söhnen, legte seine Arme um ihre Schultern und schob sie auf den Ausgang zu. „Wir werden im Schloss auf ihn warten."

***

Oberhalb der Treppe, die Elrond und die Zwillinge nun hinunterstiegen, hatten drei aufmerksame Augenpaare die Beisetzung genau verfolgt. Ihnen war kein Wort, keine Handlung entgangen, doch ganz besonders stolz waren sie, weil die sonst so wachsamen Elben ihre Anwesenheit nicht einmal zu ahnen schienen.

Als die Elben weit genug weg waren, krochen die drei Späher vom Rand der Klippe zurück, bis sie sich sicher genug glaubten, um aufstehen zu können.

„Aragorn...?" überlegte einer der drei. „Hieß so nicht der Kerl, den wir uns eigentlich schnappen sollten?"

„Das hat der Verräter jedenfalls behauptet."

„Gomar wird nicht glücklich darüber sein, dass dieser Aragorn gestorben ist, ehe er ihn in die Finger bekommen konnte." Der Wortführer sah seine beiden Kameraden ziemlich unglücklich an. „Aber wer von uns bringt ihm das bei? Ihr habt ja erlebt, was er mit Morag gemacht hat..."

„Das sagen wir ihm gemeinsam. Er kann unmöglich uns alle drei so verprügeln wie Morag. Und wenn er seine Wut trotzdem an jemandem auslassen will, hat er ja noch den Alten..."

„Der steht das auch nicht mehr lange durch. Habt ihr gesehen, wie er aussah, als wir wegritten? Euch ist klar, dass Gomar jemanden für seine Launen braucht, oder? Wenn der Alte inzwischen draufgegangen ist, sind wir dran..."

„Hör auf mit deiner Schwarzseherei." Der Wortführer funkelte seinen skeptischen Gefährten böse an. „Warum sollte der Kerl inzwischen gestorben sein, wo Gomar doch so bedacht darauf war, ihn gerade so lange am Leben zu erhalten, bis er den anderen auch hat?"

„Ich hoffe, du hast recht." Irgendwie schien keiner der drei so recht glücklich über die neue Wendung zu sein. Doch an den Dingen ließ sich nun nichts mehr ändern. Aragorn, dessen Gomar so unbedingt habhaft werden wollte, war tot. Tot und vor ihren Augen begraben worden. Dieser Fakt beendete ihre ohnehin sehr risikovolle Mission im Tal der Elben.

Ohne weitere Diskussionen holten sie ihre Pferde aus dem naheliegenden Versteck, stiegen auf und ritten in die Tiefen des Waldes hinein...

***

...sich nicht darüber bewußt, dass ihnen ein halbes Dutzend überaus wachsamer Blicke aus sorgsam gewählten Verstecken heraus folgten, bis sie fast außer Sicht waren. Erst dann löste sich ein Schatten aus einer der umgebenden Baumkronen.

Glorfindel.

Grimmige Entschlossenheit lag in seiner Miene, als er zwei seiner Leute zu sich herabwinkte.

„Folgt ihnen. Nicht zu dicht, aber verliert sie auch nicht. Sie wissen nicht, dass wir sie jetzt überwachen, und das soll so bleiben. Geht kein Risiko ein. Ändert sich etwas, kommt zurück und meldet es mir. Ich werde im Schloss sein."

Die beiden tauchten lautlos in die zwischen den Bäumen liegenden Schatten ein und waren Momente später aus seinem Blickfeld verschwunden. Er starrte ihnen noch einen Moment lang nach, dann sah er zu einem Punkt empor, an dem sich ein weiterer Krieger verborgen hielt. Man entdeckte seine Silhouette nur, wenn man gezielt nach ihm Ausschau hielt.

„Ihr drei bleibt hier und behaltet diese Stelle weiter im Auge. Ich denke nicht, dass sie noch einmal zurückkommen werden, andererseits jedoch haben sie gezeigt, dass sie unberechenbar sind. Also bleibt vorsichtig. Gegen Abend werde ich mit neuen Befehlen zurück sein."

Er ahnte das bestätigende Nicken des anderen mehr, als dass er es sah. Doch es genügte ihm völlig.

Glorfindel durchmaß mit raschen Schritten die kurze Distanz bis hin zu jenem Ort, an dem sie die Pferde sicher vor jedem Blick verborgen hatten. Dann stieg er auf und ritt davon. Die Nachricht, die er Elrond zu bringen gedachte, würde diesen nach all den schweren Ereignissen dieses Tages sicher freuen.

***

Die Bestattung Aragorns war vorbei und Elladan steuerte zusammen mit seinem Zwillingsbruder und seinem Vater das Schloss an. Kurz vor dem Eingang ins Gebäude fiel sein zufällig umherschweifender Blick auf die Gestalten zweier Kinder, die in einiger Entfernung unbeschwert, weltvergessen und spielerisch hintereinander herjagten. Es waren ein dunkelhaariges Mädchen und ein blonder, etwa einen halben Kopf größerer Junge, doch letzterer schien dem Mädchen an Wendigkeit haushoch überlegen zu sein, denn er holte sie jedes Mal mühelos ein und tippte sie an, um anschließend blitzschnell davonzujagen.

Nolana... ging es dem Elbenzwilling durch den Kopf. Sie habe ich über dem Geschehen völlig vergessen.

Er blieb stehen und sah seinen Vater um Verständnis bittend an. „Geht vor. Ich komme gleich nach. Zuerst möchte ich nach dem Kind sehen."

Der Elbenfürst folgte seinem Blick, sah dem Mädchen einen langen Augenblick stumm bei seinem unbeschwerten Umhertollen zu, dann wanderten seine blauen Augen wieder zu Elladan zurück.

„Ich denke, in ein paar Tagen können wir sie zu ihren Eltern zurückbringen. Sobald Glorfindel und unsere Kämpfer das Problem mit den Südländern endgültig aus dem Weg geschafft haben."

„Sie wird sich bestimmt freuen, das zu hören, Vater."

Elladan nickte ihm und seinem Bruder zu, die kurz darauf im Gebäude verschwanden, während er selbst langsam auf die beiden Kinder zuging. Der Elbenjunge sah ihn zuerst kommen und blieb wie angewurzelt stehen. Nolana reagierte einige Sekunden zu spät und prallte folgerichtig in ihn hinein, woraufhin beide Kinde ineinander verknäuelt zu Boden stürzten. Elladan half ihnen auf, dann sah er die beiden prüfend an.

„Ist alles in Ordnung bei euch?"

„Ja, Lord Elladan." Der Elbenjunge nickte und bemühte sich, neben dem Menschenmädchen erwachsen zu wirken, während er sich gleichzeitig so unauffällig wie möglich den schmerzenden Ellbogen rieb.

„Ich verstehe." Elladan sah es natürlich trotzdem und hatte Mühe, nicht zu schmunzeln. „Wie lautet dein Name?"

„Ich bin Giliathdil, Sohn von Galdharan und Aglarwen."

Elladan wusste, dass Galdharan, der Vater des Jungen, zu Glorfindels besten und erfahrensten Kriegern gehörte. Wenn Nolana irgendwo anders als im Schloß sicher war, dann in seinem Heim. Die Wahl, die Glorfindel zum Schutz des Mädchens getroffen hatte, beruhigte Elronds Ältesten. Bei den Eltern des Jungen war das Menschenkind für die nächsten Tage bestens aufgehoben. Zudem hatte sie in Giliathdil einen Spielgefährten gefunden, der fast das gleiche Alter wie sie besaß.

„Es tut mir leid, dass ich gestern keine Zeit mehr hatte, dir alles zu erklären, Nolana," wandte er sich dem Kind zu, das ihn bereits erwartungsvoll anstrahlte, und strich behutsam einen Zopf über ihre schmale Schulter zurück. „Aber ich nehme an, es gefällt dir bei Galdharan und seiner Familie, oder?"

„Hmm." Nolana nickte, und während sie ihrem Spielgefährten einen schnellen Blick zuwarf, wurde ihre Miene plötzlich ernst. „Bist du hier, um mich abzuholen?"

Elladan meinte, so etwas wie Enttäuschung aus ihrer Stimme herauszuhören und so schüttelte er beruhigend den Kopf. „Nein, noch nicht. Wenn es dir nichts ausmacht, noch ein paar Tage bei ihnen zu bleiben..."

„Nein, bestimmt nicht!" Hastig war die Antwort ihrem Mund entschlüpft, und genauso schnell überzog ein Ausdruck von Verlegenheit ihre Miene. „Aber danach komme ich wieder zurück. Ganz bestimmt!"

Nun musste der Elb doch schmunzeln. Die Worte des Kindes klangen tatsächlich, als betrachtete sie Bruchtal bereits als ihr Zuhause und Elladan als ihren Ersatz-Vater.

Wie schnell Kinder sich an Veränderungen anpassen können, dachte er und ohne, dass er es verhindern konnte, glitten seine Gedanken zu jenen Tagen zurück, in denen der damals zweieinhalbjährige Aragorn zum ersten Mal so reagiert hatte. Aragorn, der nun für immer fort war...

Mit Gewalt drängte Elladan diesen Gedanken wieder zurück, doch die Trauer, die dadurch neu aufgeflammt war, blieb. So wirkte er auch ziemlich bedrückt, als er auf die beiden Kinder hinabsah.

„Na schön, dann spielt weiter, aber gebt acht, dass ihr diesen Platz nicht verlasst. Du sorgst dafür, ja?" Er sah den Jungen ernst an, der sich dadurch gleich um Jahre erwachsener fühlte und nickte, als hätte man ihm gerade die wichtigste Aufgabe Mittelerdes übertragen.

„Und du..." Er strich Nolana noch einmal über das Haar. „Du bleibst immer in Aglarwens Nähe, hast du verstanden? Giliathdils Mutter wird sich um dich kümmern, bis ich komme, um dich heimzubringen."

„Heim?" Eine Sekunde lang kaute das Kind auf ihrer Lippe, dann legte sie den Kopf schief und sah Elladan an. „Du meinst nach Hause zu Mama und Papa?"

„Ja, genau!" Elladan zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. „Ich weiß noch nicht genau, wann das sein wird, aber bestimmt schon in ein paar Tagen."

„In ein paar Tagen..." wiederholte das Mädchen, und ein paar Augenblicke lang sah sie so aus, als wüsste sie nicht, ob sie die neue Information überhaupt glauben konnte. Dann nickte sie schließlich. Offenbar hatte der allen Kindern eigene Sinn fürs Praktische beschlossen, es erst zu glauben, wenn es wirklich soweit war. „Hmm, gut."

Sie schenkte Elladan einen letzten Blick, dann hob sie blitzschnell die Hand und stupste Giliathdil an. „Hab dich!"

Dann rannte sie juchzend davon.

„Das ist geschummelt!" Giliathdil starrte ihr empört hinterher. Die eine Sekunde, die es dauerte, war genug, um Elladan völlig zu vergessen, denn als der Junge sich von seiner Überraschung erholt hatte, stob er ihr hinterher und ließ den amüsierten Elben allein zurück. Der sah den beiden eine Zeitlang zu, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Er wollte mit der Mutter des Jungen noch alles Notwendige besprechen. Danach konnte er sich dann zu Elrohir und seinem Vater gesellen, um mit ihnen darauf zu warten, dass Legolas seinen Schock überwand und zu ihnen zurückkam...

***

Der war inzwischen blicklos und ohne auf eine Richtung zu achten von den Bestattungsgrotten fortgelaufen, weiter und weiter hinein in die baumbestandenen Gebiete, die Bruchtals Gärten umgaben, bis ihn schließlich nur noch Ruhe, Windesrauschen und das Gezwitscher vereinzelter Vögel umgaben. Wie lange er so gelaufen war, wußte Legolas nicht, und es war ihm auch egal. Er wollte fort, fort von jenem Ort, der ihn mit solcher Trauer erfüllte.

Irgendwann drang jedoch die Erkenntnis zu ihm durch, dass er noch endlos so weiterlaufen konnte, ohne seinen Schmerz dadurch zu mildern. So steuerte er den nächsten mächtigen Baum an und kletterte behände in seine schon herbstlich gelichtete Krone hinauf. Auf einem tragfähigen Ast ließ er sich schließlich nieder, hob seinen Blick zum Himmel und sah, wie dort dicke graue Wolken von stürmischen Winden vorangepeitscht wurden. Die gleichen Winde zerrten auch an seinem Haar, an seiner Kleidung und wischten mit erbarmungslosen Fingern über sein Gesicht, doch es war nicht die in ihnen liegende Kälte, die bald darauf die ersten Tränen über das Gesicht des Prinzen laufen ließ.

Es war der lange im Zaum gehaltene Kummer über den Verlust des Freundes, der sich dort oben – im Schutz der Blätter – schließlich doch noch Bahn brach. Über seinem Kummer vergaß er Zeit und Ort, und so wurde von Legolas unbeachtet langsam aus dem Vor- ein Nachmittag, und diesem schließlich Abend...

***

Weit vom Tal der Elben entfernt hatte auch Rivar längst jedes Gefühl für Zeit und Ort verloren. Seine Welt war nur noch von grenzenlosem Schmerz, vielgesichtiger Furcht und dem wortlosen Wunsch nach einem raschen Tod erfüllt.

Die meiste Zeit dämmerte er in einem halb bewusstlosen Zustand vor sich hin, aus dem ihn hin und wieder neue Schmerzen herausrissen. Wenn er es dann schaffte, die Augen einen Spalt breit zu öffnen, sah er meist das Gesicht Gomars vor sich: voll von ungezügelter Wut, mühsam unterdrückter Enttäuschung – und in letzter Zeit sogar einem Hauch von Besessenheit. Es war diese Besessenheit, die Rivar am meisten ängstigte, denn sie war in lange zurückliegender Vergangenheit geboren worden und wuchs nun mit jedem verstreichenden Tag, mit jedem flackernden Blick, mit jeder ausgestoßenen Drohung, ohne das irgendetwas in Mittelerde sie noch erlöschen lassen konnte.

Von diesen Tagen träumte Rivar nun oft. Wie in einer Flucht kehrten seine Gedanken bereitwillig zurück in jene Zeit, die aus jetziger Sicht um so vieles einfacher und deren Unsicherheiten plötzlich um so vieles beruhigender erschienen. Längst hatte sich die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit für ihn verwischt, und er hatte es zugelassen. Die Qualen, die Gomar ihm immer wieder bereitete, waren so einfacher zu ertragen.

Auch jetzt träumte Rivar wieder von jener Vergangenheit, als ihn etwas unsanft aus jenem Dunst aus Benommenheit und Traum holte. Es war eine überaus heftig geführte Ohrfeige, deren Kraft seinen haltlos nach vorn hängenden Kopf zurückschleuderte.

„Wach auf, du Hund."

Eine Hand – dieselbe, die ihn eben noch geschlagen hatte – griff sein Kinn und zwang seinen Kopf in die Höhe.

„Sieh mich an!"

Rivar vernahm die Worte zwar, doch seine Kraft war schon vor langer Zeit erschöpft. Allein der Gedanke daran, die Lider heben zu wollen, schien irrwitzig. Lediglich ein leises – ein sehr leises – Stöhnen kam über seine zerschlagenen, zerrissenen und von Durst und getrocknetem Blut verkrusteten Lippen.

„Du sollst mich ansehen, habe ich gesagt!"

Worte. Es waren nur Worte. Weder sie noch die in ihnen vernehmbare Wut konnten ihm etwas anhaben. Es war nicht nötig, die wenige Energie, die sein geschundener Körper noch besaß, dafür zu verschleudern, die Augen ein weiteres nutzloses Mal zu öffnen. Und so tat er es auch nicht.

Gomar hingegen machte diese Reaktionslosigkeit erneut wütend. Wie konnte dieser räudige Hund es immer und immer wieder wagen, sich seinen Anordnungen zu widersetzen? Erbost ließ er Rivars Kinn los, presste die Hand statt dessen auf Mund und Nase des Mannes und hielt mit der anderen dessen Kopf fest. Gomars Griff sorgte dafür, dass dem hilflosen Mann plötzlich jede Atemluft fehlte. Nach einigen Sekunden begann Rivars Körper heftig zu beben, als er vergeblich versuchte, einen Atemzug zu tun. Schließlich, nach weiteren langen Momenten riss der solchermaßen Gequälte die Augen doch noch auf. Panik lag in den grünen Tiefen, als er schwach den Kopf zur Seite zu drehen begann, im nutzlosen Versuch, der erbarmungslosen Umklammerung zu entkommen.

„Wie dumm du bist." Genüsslich zog Gomar seine Worte in die Länge und weidete sich an dem Anblick, wie der Gefangene verzweifelt nach Luft verlangte. Welch ein Machtgefühl ihm das vermittelte... „Du warst es immer. Schon damals, als du dich entschlossen hast, diesem Aradoran zu folgen, statt loyal in meinen Diensten zu bleiben. Und auch jetzt noch bist du es. Was hättest du werden können, und nun sieh dich heute an..."

Unterdessen waren Rivars Bewegungen immer heftiger geworden. Seine nach Luft hungernden Lungen brannten wie Feuer, doch das einzige Mittel, das dieses Feuer löschen konnte, fehlte nach wie vor. Gomars harter Griff trennte ihn von der so dringend ersehnten Atemluft!

„Du hättest mich einfach nur ansehen sollen, als ich es sagte. Aber nein. Nun gut, wenn du es bevorzugst, Gehorsam auf diese Art zu erlernen, dann will ich dir diesen Gefallen gern tun. Obwohl dein 'Lerneifer' ein bisschen spät kommt. Du wirst das Ende meiner Rache nicht mehr erleben..."

Gomar behielt den Griff noch einige zusätzliche Sekunden bei, ehe er Rivars Kopf schließlich losließ. Keuchend rang dieser nach Luft, doch sein Blick haftete nun unverwandt auf Gomar, der den Anblick mit regloser Miene und dem aufmerksamen Blick hasserfüllter dunkler Augen in sich aufnahm.

Es dauerte eine Weile, bis Rivar wieder einigermaßen zu Atem gekommen war.

„Was willst du noch?" Die Worte kamen nur schwerfällig über Rivars Lippen. Der fast unerträgliche Durst schien sie förmlich in seiner Kehle festzukleben. „Es gibt nichts mehr, was du noch nicht weißt."

„Du wirst es nicht verstehen..." Gomars Stimme vibrierte vor Erbitterung. „...aber ich will dir danken, alter Mann. Du hast mir geholfen, von dieser Droge loszukommen. Ich brauche sie nicht mehr, seit du hier bist!"

Rivar hatte zunächst keine Ahnung, worauf Gomar hinauswollte. Er hatte nichts getan, was dem Anführer der Südländer irgendwie aus seiner Sucht hätte helfen können. Es war so, wie Gomar gesagt hatte: er begriff es nicht. Verständnislos starrte er Gomar an, der mit einem beunruhigend flackernden Blick zu ihm hinaufsah, über seinen verbrannten, zerschlagenen Körper hinweg, an den Fesseln entlang, die ihn noch immer zwischen den beiden Bäumen hielten, und wieder zurück in Rivars Augen, so als warte er darauf, dass dieser auf die Lösung kam. Und als er schließlich begriff, traf es ihn wie ein Blitz.

„Du bist verrückt!" Rivar schüttelte schwach den Kopf. „Obwohl ich es eigentlich schon damals hätte sehen müssen. All die Gräueltaten, die in deinen Verliesen geschahen... Ich dachte immer, dass die Wärter nur ihre Grausamkeit an hilflosen Gefangenen auslebten. Aber so war es gar nicht, nicht wahr? Es war deine Grausamkeit, sie führten sie nur aus. Und bei mir ist es jetzt ebenso..."

„Du hast keine Ahnung!" Irgendwie schien es Gomar zu erfreuen, dass Rivar endlich begriffen hatte. „Weißt Du, wie es sich anfühlt, Macht in den Händen zu spüren, Herr über Leben und Tod zu sein? Du ahnst nicht, wie es ist, wenn schon ein einziges Wort von dir Angst und Schrecken in den Menschen erzeugen kann. All das hätte sich vervielfacht, bis ins Unermessliche gesteigert, wenn ihr mir damals nicht dazwischen gekommen wärt und das Ritual gestört hättet. Für einen Moment..."

Plötzlich trat er so dicht an Rivar heran, dass dieser den Atem Gomars auf seiner Haut spüren konnte.

„...habe ich gespürt, welche Macht mir verliehen worden wäre. Macht, mit der ich so viel hätte tun können. Macht, mit deren Hilfe ich den Mord an meinen Eltern hätte rächen können. Soll ich dir was sagen, alter Mann? Ich weiß genau, wie du dich gerade fühlst. Ich habe mich so gefühlt, als ich nichts tun konnte, um sie zu retten. Ich habe mich jedesmal so gefühlt, wenn meine Lehrmeister mich so lange quälten, bis ich tat, was sie verlangten. Und als ich es endlich aus freien Stücken tat, hatte ich Geschmack daran gefunden. Nur an einer Stelle haben sie versagt: sie haben es versäumt, mir meine Erinnerung zu nehmen. Unter all dem, was man aus mir gemacht hatte, befand sich noch das Wissen darum, wer ich einst gewesen war. Und dieses Wissen schmerzte und peinigte mich, bis ich es nicht mehr auszuhalten meinte. Damals entdeckte ich, dass ich diese Erinnerung nur mit Schmerz für eine Weile auslöschen konnte. Zuerst fügte ich diesen Schmerz mir zu, später anderen. Doch das war wie Gift: einmal gekostet, war es unaufhaltsam. Und süß, so süß... Die Süße, andere seine Überlegenheit spüren zu lassen, ist mit nichts zu vergleichen. Als mir nun der Zweck all meiner Leiden enthüllt wurde, dass ich die Essenz jenes EINEN, der körperlos auf seine Rückkehr wartet, in mich aufnehmen sollte, wußte ich, dass es das war, was ich wirklich wollte. Seine Macht in meinem Körper, seine Kräfte in meinem Sinn. Das höchste aller Ziele. Es war mein. So greifbar nahe. Und dann..."

Erneut überkam Gomar die Erinnerung an den Moment, in dem Arathorn ihm mit einer einzigen Bewegung alles geraubt hatte. Wut gesellte sich zu dem Irrsinn, der in den dunklen Augen des Südländers sichtbar an Stärke gewann.

„...verschmäht ER mich für diesen Aradoran. All die Jahre, in denen man mich vorbereitete, waren umsonst! Und es gab keine Möglichkeit, doch noch erwählt zu werden, seinem Willen doch noch eine neue Heimstatt zu bieten..."

Rivar hatte den Ausbruch Gomars schweigend mitangehört. Als er sah, wie hinter dem Flackern der Besessenheit nun auch das Begreifen um die weitere Bedeutung heraufdämmerte, schluckte er nur mühsam. In diesem einen Moment, mehr als zwanzig Jahre von dem ursprünglichen Ereignis entfernt, begriff Gomar endlich, dass er nur die körperliche Hülle für etwas Mächtigeres und nichts Besseres als ein menschliches Werkzeug gewesen wäre. Sein Verlangen nach Macht wäre auf ewig ungestillt geblieben!

Sekunden vergingen, in denen sich beider Blicke ineinander versenkten. Dann trat Gomar zurück, langsam, als erwache er aus einem tiefen Traum.

„Wie ich schon sagte..." Unvermittelt klang Gomars Stimme ruhig. „Ich muss dir dankbar sein, alter Mann. Du hast mir gerade die Augen geöffnet. Darum will ich dir eine Gnade erweisen, die du im Grunde nicht verdient hast."

Er sah erneut an Rivars Fesseln entlang. Seit Tagen war der Einsiedler nun schon zwischen die Äste zweier Bäume gespannt. Die groben Stricke hatten sich tief ins Fleisch gegraben, die Haut aufgerissen und sie schließlich um sich herum wieder verschorfen lassen. Das herabgelaufene Blut hatte lange Spuren gezeichnet und war dann, eigenwillige Muster bildend, getrocknet. Längst waren Arme und Beine gefühllos geworden, und der anfänglich unerträgliche Schmerz war inzwischen zu einem Teil von Rivars neuer Existenz geworden.

„Dann tötest du mich jetzt?" flüsterte er und sah im gleichen Augenblick, dass diese Hoffnung nach wie vor vergebens war. Gomar hatte noch immer nicht vor, seinen Qualen endlich ein Ende zu bereiten. Er brauchte ihn weiterhin als Objekt seiner Wut, um das Leid selbst nicht spüren zu müssen. Rivar begriff, dass Gomar ihn erst, wenn er Aragorn in den Fingern hatte, sterben lassen würde. Aragorn war als Sohn des Mannes, der ihm seinen Lebenszweck genommen hatte, das ersehnte Ziel und würde Gomar eine lange Zeit der Genugtuung verschaffen. Mehr denn je haßte Rivar sich dafür, die Existenz des jungen Mannes preisgegeben zu haben, doch noch mehr haßte er Gomar, weil dieser um seinen Selbsthass wußte.

„Nein," bestätigte Gomar gleich darauf seine Vermutung. „Noch brauche ich dich."

Er überlegte einen Augenblick, dann winkte er zwei seiner Krieger zu sich heran.

„Nehmt ihn ab und bringt ihn in mein Zelt. Bindet ihn dort an den Mittelpfosten."

Interessiert sah Gomar zu, wie die beiden Männer Rivar von den Fesseln befreiten, die seine Hände und Füße in den letzten Tagen starr fixiert hatten. Als die Stricke brutal aus der dicken Lage Schorf an den Handgelenken gerissen wurden, war es um Rivars Beherrschung geschehen. Schmerzerfüllt schrie er auf und der kühle Wind riss ihm den Laut von den Lippen, ehe daraus mehr als ein langgezogener Schrei werden konnte. Die langen Tage der Bewegungslosigkeit hatten dem Einsiedler jedes Gefühl in Armen und Beinen geraubt, doch als die Fesseln entfernt waren, schoß rasender Schmerz in seine Glieder, an denen neuerliches Blut entlang zu laufen begann, während ihn die beiden Männer in das größte der Zelte schleiften. Dort machten sie sich daran, ihn stehend an den mittleren Pfahl zu fesseln, doch Gomar, der ihnen gefolgt war, gebot ihrem Tun gleich darauf Einhalt.

„Wartet, nicht so."

Überrascht hielten die Männer inne und sahen Gomar an, der seinerseits jedoch Rivar anstarrte.

„Ich wollte dich zwar in meiner Nähe haben, aber so, dass du weiterhin leidest. Hier kann ich dir in Ruhe schildern, was ich mit Aradorans Sohn machen werde, wenn meine Männer ihn mir erst mal gebracht haben, und dabei genüsslich zusehen, wie dich dieses Wissen quält. Und ich halte auch mein anderes Versprechen: du wirst gleichzeitig Gehorsam lernen. Die erste Lektion: ein Diener hat vor seinem Herrn zu knien."

Er wandte sich den Männern zu, die ihn ratlos ansahen.

„Zwingt ihn auf die Knie und fesselt ihn in dieser Haltung an den Pfosten."

Als Rivars Männer schließlich fertig waren und zurücktraten, winkte er sie achtlos hinaus. Die beiden machten nach einem letzten Blick auf den Unglücklichen, dass sie davonkamen, während Gomar um den Pfosten herumging und die Arbeit seiner Männer begutachtete. Nun kniete Rivar vor ihm, während seine Beine links und rechts am Pfahl vorbei nach hinten führten und dort mit ledernen Riemen fest an den Knöcheln zusammengebunden waren. Auch die Arme hatte man ihm nach hinten gebunden, an den Handgelenken gefesselt und diese dann noch zusätzlich mit den Riemen der Fußgelenke verknüpft. Weitere Stricke an Oberschenkeln und Brustkorb banden auch den Rest des Körpers an dem Pfahl fest und ließen dem gepeinigten Mann nicht einen Millimeter Spielraum.

„Nun, wie ist das? Besser?" Die Worte klangen ungerührt, doch der Sarkasmus, der in ihnen lag, war kaum zu ertragen.

„Nennst du das Gnade?" krächzte Rivar und unterdrückte mühsam ein Stöhnen, weil neu aufgeflammter Schmerz durch seinen Körper schoß.

„Ist es das denn nicht?" Gomar zeigte kurz auf das Innere seines Zeltes. „Hier drin bist du vor Wind und Regen geschützt und hast zudem den Vorteil, von nun an alles aus nächster Nähe zu verfolgen. Das Privileg hat nicht mal Morag, und der ist schließlich meine rechte Hand."

Er beugte sich zu Rivar hinab, packte dessen Haare mit einer Hand und bog den Kopf zurück, soweit der Pfosten es gestattete, bis Rivar ihn ansehen mußte.

„Du hast mir zu einer wichtigen Einsicht verholfen, doch es hat mich schwach aussehen lassen. Ich kann nicht zulassen, dass meine Autorität bei den Männern untergraben wird. Darum bist du hier, Verräter, nicht weil ich plötzlich ein Gewissen entdeckt hätte."

„Ich bin hier, weil ich dein ganz privates Spielzeug sein soll, und nicht, weil du..."

Weiter kam Rivar nicht, denn in diesem Augenblick traf ihn Gomars Ohrfeige. Dann die zweite, die dritte. Ein Hagel von Schlägen prasselte auf ihn hinab, der erst unterbrochen wurde, als vor dem Zelt ein Räuspern zu hören war und dann Morags Stimme erklang.

„Herr? Die drei Kundschafter sind zurück. Sie haben wichtige Neuigkeiten für Euch, sagen sie."

Schwer atmend ließ Gomar von seinem Opfer ab und richtete sich auf.

„Sie sollen kommen!"

Er ließ sich auf sein Lager nieder und wartete. Kurz darauf traten die drei jungen Männer ein, die er vor einiger Zeit nach Bruchtal geschickt hatte. Ihr Blick traf Rivar, der erneut aus Mund und Nase blutete. Der Anblick ließ sie zögern, doch dafür hatte Gomar jetzt keine Geduld.

„Was bringt ihr für Kunde?" herrschte er sie an.

Langsam trat einer der drei vor.

„Dieser Mensch, dieser Aragorn, an dem Euch so viel gelegen ist, Herr..."

„Ja, was ist mit ihm? Wo ist er? Habt ihr ihn mitgebracht?"

„Nein, Herr!" Unsicher sah er zu seinen Gefährten, dann holte er tief Luft. „Er ist tot!"

Vernichtender hätte keine Nachricht wirken können – nicht für Gomar und auch nicht für Rivar, der plötzlich dankbar dafür war, dass die Stricke ihn aufrecht hielten, während die völlige Verzweiflung ihn zusammensacken lassen wollte. Gomar unterdessen sprang wie von einem Skorpion gestochen auf.

„Seid ihr euch dessen sicher?"

„Ja, Herr!" Der Wortführer nickte. Er fühlte sich in seiner Haut gar nicht wohl. „Wir sahen mit eigenen Augen, wie die Elben ihn begruben."

„Und ihr wißt genau, dass es sich bei dem Toten um diesen Aragorn gehandelt hat, und nicht um irgendjemand anderen?"

„Ganz sicher, Herr! Sie nannten seinen Namen, als sie ihn in seine Grabstätte trugen."

Einige Momente lang ließ Gomar sich diese neue Entwicklung durch den Kopf gehen und Stille legte sich über das Zelt.

Arathorns Sohn, den ich noch vor Tagen gesund und unbeschwert antraf, ist ... tot? Rivar konnte es kaum glauben, doch ein Blick auf die Miene des Südländers belehrte ihn eines Besseren. Gomar glaubte es jedenfalls, denn er blickte so finster, dass klar war, dass es bis zu einem weiteren Wutausbruch des Mannes nicht mehr lange dauern konnte. Rivar seufzte lautlos. Es war keine Frage, wer das Ziel dieser Wut sein würde...

Während Rivar angesichts dieser Vorahnung den Kopf hängen ließ, hob Gomar den seinen wieder und starrte die drei nervös wirkenden Krieger grimmig an. „Ihr habt Glück, dass ich keinen meiner Männer mehr wegen dieses Abschaums verlieren will, sonst erginge es euch jetzt schlecht. Also geht. Geht, bevor ich meine Geduld doch noch verliere und euch für dieses Versagen büßen lasse."

„Ja, Herr!"

Die drei waren so schnell aus dem Zelt verschwunden, als habe sie ein Zauber aufgelöst. Gomar indessen achtete gar nicht mehr auf sie, sondern wandte sich Rivar zu, der sich verzweifelt – und umsonst – bemühte, sich seine rasch wachsende Furcht nicht anmerken zu lassen.

„Tja, alter Mann, das ist Pech für dich, denke ich. Jetzt wirst du auch all das noch erleiden, was ich eigentlich für Aragorn vorgesehen hatte. Es wird ein langer, ein sehr langer..." Gomar kam nun so dicht an Rivar heran, bis ihre Gesichter nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren. Er wollte sich bei seinen nächsten Worten keine Regung im Antlitz des alten Mannes entgehen lassen. „...und schwerer Weg für dich. Du glaubst, du hast damals in den Verliesen schon alles gesehen, nicht wahr?"

Er lächelte Rivar an, doch aus dem ehemals spöttischen, überheblichen Lächeln war nun ein gefährliches Grinsen geworden. Ein Ausdruck des Wahnsinns, der sich angesichts des Entzugs seines lange gehegten Rachewunsches an Aradoran/Arathorn endlich ungehindert Bahn gebrochen hatte. Gomar, so begriff der alte Einsiedler, hatte bei der Nachricht von Aragorns Tod endgültig die letzte Schwelle überschritten: jene, die ihn bisher noch vom Irrsinn getrennt hatte. Schiere, namenlose Panik verdrängte augenblicklich jeden Schmerz.

„Glaube mir, ich werde dich in diesem Zelt noch viel Neues lehren."

Gomar griff zu einem Lederbündel, das beim Auswickeln alle zum Klingenputzen notwendigen Utensilien freigab, und nahm nach kurzem Überlegen eine Flasche mit einer Flüssigkeit hoch.

„Hiermit werden Schwertklingen entrostet," meinte Gomar eher beiläufig. „Weißt du, was man noch alles damit machen kann?"

Die offenen oder halb verheilten Wunden auf Rivars Körper beäugend näherte Gomar sich dem wehrlosen Mann und kurze Zeit später drangen die ersten Schreie aus seinem Zelt. In dem improvisierten Lager der Südländer wurde es plötzlich ganz still, und selbst den härtesten von Gomars Männern lief ein Schauer über den Rücken...

***

Nicht einmal eine Stunde war seit dem ersten qualvollen Schrei verfangen. Inzwischen war in Gomars Zelt wieder Stille eingekehrt, doch plötzlich flog die Zeltbahn des Eingangs zur Seite und der Südländer steckte seinen Kopf ins Freie.

„Wo sind diese drei Idioten?" dröhnte seine Stimme über die kleine Lichtung.

Erschrocken traten die solchermaßen Betitelten ins Freie und kamen hastig auf ihren Anführer zu. Schließlich blieben sie in einer Armeslänge Entfernung vor ihm stehen.

„Wir sind hier, Herr!"

„Wißt ihr, wo genau die Elben diesen Aragorn begraben haben?"

„Ja, unterhalb der Klippe, über die unsere Männer beim ersten Angriff ins Tal eindrangen."

„Gut. Ihr drei seid in einer Stunde zum Aufbruch fertig. Und sagt auch Morag Bescheid. Ich will ihn dabei haben. Diesmal reite ich selbst mit. Der Kerl mag tot sein, aber ich will ihn trotzdem sehen. Ich muss ihn nach all den vielen Jahren endlich sehen, ihn mir holen. Ich lasse nicht zu, dass die Elben ihn mir vorenthalten. Nicht im Leben und nicht im Tod..."

Seine Stimme hatte sich fast bis zur Besessenheit gesteigert, und es kostete den Südländer einige Augenblicke, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. Er sah die Blicke, die seine Leute angesichts dieser unglaublichen Anweisung wechselten, sah den Gedanken in ihren Augen ... er ist tot, was soll das nun wieder... doch sie waren viel zu klug, um mit Gomar diskutieren zu wollen. Sie gingen dorthin, wo er sie hinschickte.

„Wir reiten in einer Stunde und werden das Elbental nach Einbruch der Dunkelheit erreichen. Bei dem Verräter hier drinnen werden zwei Mann Wache stehen, bis ich wieder zurück bin. Ihr habt mich verstanden. Also los!"

Die drei beeilten sich, den Anordnungen nachzukommen, und Gomar kehrte in sein Zelt zurück. Keiner von ihnen ahnte, dass seit fast einer Stunde zwei weitere Augenpaare aus der Entfernung und gut gewählten Verstecken jede Bewegung im Lager verfolgten. Glorfindels Elbenkrieger waren den Kundschaftern unbemerkt bis hierher gefolgt, doch nicht dicht genug herangekommen, um die im Lager geführten Gespräche zu verstehen. So wechselten auch sie miteinander Blicke und warteten dann in stummer Übereinkunft auf die nächsten Entwicklungen...

***

Als die Fünfergruppe schließlich aufbrach, setzten sich auch die beiden Elben wieder in Bewegung. Es kostete sie erhebliche Mühe, sich unentdeckt zu halten, doch eine Zeitlang gelang ihnen das ohne Probleme.

Die Nachmittagsstunde neigte sich bereits dem Abend zu, als – angesichts der schwachen Lichtverhältnisse und des rutschig gewordenen Bodens – eines ihrer Pferde mit einem Huf in eine grasüberwucherte Bodenmulde rutschte und strauchelte. Es verursachte zwar kaum einen Laut, doch das ängstliche Schnauben des Tieres wurde trotzdem vom Wind in die Ferne getragen. Augenblicklich hielten die Elben ihre Tiere an und verharrten, doch Augenblicke lang geschah nichts. Die schwachen Punkte, zu denen die Südländer inzwischen geworden waren, setzten ihren Weg fort, als sei nichts geschehen. Die Elben warteten noch einige Momente, dann setzten auch sie ihren Weg fort.

***

Das Schnauben des Pferdes war, so schwach es auch gewesen sein mochte, dennoch nicht ungehört geblieben. Durch den Entzug der so lange eingenommenen Sytharm-Droge waren Gomars Sinne inzwischen schärfer als die jedes anderen Menschen. Er hob den Kopf und lauschte in die Umgebung, warf misstrauische Blicke in die Runde, doch er ließ sein Pferd weiterlaufen. Irgendwann zog er urplötzlich so heftig an den Zügeln, dass das Tier sich empört aufbäumte, um seinen Reiter abzuschütteln. Während er das tänzelnde Tier wieder zur Ruhe brachte, warf er einen unverdächtig wirkenden prüfenden Blick in jene Richtung, aus der sie kamen, dann ritt er weiter, als sei nichts geschehen.

Nach einiger Zeit winkte er Morag an seine Seite. Der Krieger lenkte sein Reittier gehorsam neben das seines Anführers. „Ja, Herr?"

„Laß dir nichts anmerken, aber ich denke, wir haben Gesellschaft bekommen. Irgendwo hinter uns, dem Klang vorhin nach zu urteilen, und ich denke, ich habe eben mindestens einen gesehen. Es können aber auch mehr sein."

„Mir ist nichts aufgefallen."

„Aber mir, und das genügt."

„Natürlich," beeilte Morag sich zu versichern.

„Kommt her, ihr drei..." Gomars Stimme blieb leise. „Ihr reitet in gemäßigtem Tempo weiter und lasst euch nichts anmerken. Wir beide hingegen..." Er sah Morag an und erläuterte ihm dann seinen Plan.

Kurz darauf trennten er und Morag sich dann von den anderen und schwenkten jeweils nach rechts und links ab.

***

Den ihnen folgenden Elben entging diese Trennung natürlich nicht. Irritiert blieben sie stehen, sahen sich an und beschlossen dann nach kurzer Beratung, sich ebenfalls aufzuteilen. Jeder von ihnen übernahm einen der beiden Männer die sich vom Trupp der Südländer trennten. Die verbleibenden drei Südländer, die weiter in Richtung Bruchtal ritten, würden ihre Kameraden in Empfang nehmen, die sich für genau diesen Fall oberhalb der Klippe versteckt hielten.

Die beiden Elben ahnten nicht, dass sie mit dieser Trennung ihr eigenes Todesurteil unterschrieben.

***

Eine weitere Stunde ruhigen Rittes verging, als unvermittelt Gomar wieder neben seinen drei jungen Kriegern auftauchte.

Er war nach seiner Trennung einen weiten Bogen geritten, dann seitwärts ausgebrochen und in einer Stelle mit überaus dicht wachsendem Unterholz verschwunden. Ohne sein Pferd zu stoppen, war er abgesprungen, hatte es mit einem Klaps aufs Hinterteil weitergeschickt und sich dann versteckt, um zu warten. Nach einiger Zeit war der Elb an ihm vorbeigeritten und nahe seines Versteckes stehen geblieben. Seine Augen ruhten auf dem Boden und musterten die Spuren, die Gomar beim Absprung von seinem Pferd hinterlassen hatte. Erst als Gomar aufsprang und seinen Wurfstern zielsicher in die Kehle des Elben schleuderte, begriff dieser seinen Fehler, doch es war zu spät für ihn. Mit gurgelndem Röcheln rutschte der Elbenkrieger vom Pferderücken und prallte auf den Waldboden. Da Gomar kein Risiko eingehen wollte, vollendete er sein Werk, indem er dem Elben kurzerhand die Kehle durchschnitt und die Leiche dann im Schutze des Unterholzes liegen ließ. Nachdem sein Pferd wieder zu ihm zurückgekehrt war, ritt er in einem weiten Bogen hinter seine Leute, um sich ihnen wieder anzuschließen.

Nun wartete er zusammen mit seinen drei Männern auf Morags Rückkehr. Die ließ etwas länger auf sich warten, doch schließlich tauchte auch Gomars Stellvertreter wieder bei ihnen auf. Er hatte zwar kleine Schnittwunden, schien im Großen und Ganzen aber nicht ernsthaft verletzt zu sein.

„Und?" Fragend sah Gomar den älteren Krieger an.

„Der wird uns keine Probleme mehr machen, Herr."

„Gut!" Gomar fragte nicht nach dem Wie und als er sich diesmal umdrehte, konnte er niemanden mehr hinter ihnen entdecken. Sie hatten offenbar ihre Verfolger erledigt. Alle waren nun tot – nur das allein war wichtig und nahm ihm eine der Sorgen. Sollten sich an ihrem Lager noch weitere Späher des Elbenvolkes befinden, so würde er sich sofort nach ihrer Rückkehr um dieses Problem kümmern. Eine andere Sorge jedoch blieb, und sie wog ungleich schwerer.

Wenn ihnen Elben bis ins Lager und von dort wieder bis hierher gefolgt waren, hieß es, dass sie mißtrauisch geworden waren, dass sie höchstwahrscheinlich auch die Stelle entdeckt hatten, über die sie bei ihrem ersten Überfall ins Tal gelangt waren. Womöglich saß dort bereits ein größerer Elbentrupp und wartete nur darauf, dass sie ihnen dumm und ahnungslos in die Falle gingen. Gomar hatte keine Ahnung, um wie viele es sich handelte, doch dass es Probleme geben würde, an die Leiche des Sohnes seines Feindes zu gelangen, war ihm klar.

Jeder andere hätte spätestens an dieser Stelle aufgegeben und sich damit begnügt, wenigstens einen von zweien in seiner Gewalt zu haben. Doch anders Gomar.

Gomar hatte jegliche Vernunft längst zugunsten seines Hasses verloren. Für ihn zählte keine Besonnenheit, kein Risiko, kein Verlust; für ihn zählte nur, seine Rache nach all den Jahren der Entbehrung irgendwie zu einem Ende bringen zu können. Und sei es nur, indem er den Elben ihren so lange und so sorgsam beschützten Menschen entführte, seine Leiche entweihte und den Verräter Rivar damit quälte, alles hilflos mitansehen zu müssen.

Ja, befand Gomar, als er sein Reittempo erhöhte und die anderen ihm gehorsam folgten, allein das ist mir jedes Risiko in dieser Sache wert. Und wenn es die halbe Nacht dauert und ich ganz allein dafür sorgen muss, alle Wache haltenden Elben zu erledigen... Ich finde erst Ruhe, wenn ICH mein Messer in den Körper Aragorns gestoßen habe und so meiner Blutrache gerecht werde. Bis dahin bleibt er für mich am Leben!

Das Pferd hatte kaum zwei Schritte gesetzt, als Gomar bereits mit ganzer Kraft an seine fixe Idee glaubte, einen Toten nochmals töten zu müssen...

***

Während die fünf Südländer weiter auf Bruchtal zu ritten...

Während Glorfindel doch länger als geplant damit beschäftigt war, eine Gruppe der besten Krieger zusammenzustellen, mit denen er so schnell wie möglich zum Lager der Südländer aufbrechen wollte...

Während die drei oberhalb des Bruchtaler Kliffs wartenden Elben noch immer geduldig auf neue Anweisungen und Verstärkung warteten...

Während Legolas in seiner Baumkronenzuflucht endlich in einen kurzen, aber tiefen Schlummer hinüberglitt...

...lag weit von allen entfernt im Wald ein blutüberströmter Elbenkrieger.

Eine Klinge hatte seinen Brustkorb an zwei Stellen durchbohrt und große Flecken auf seinem dunklen Wams entstehen lassen. Inzwischen war es durch und durch mit Blut getränkt.

Es war der Elb, den Morag nach einem mühsamen, heftigen Kampf erfolgreich zur Strecke gebracht zu haben glaubte. Dem aus Hektik und der Furcht, Gomar zu lange warten zu lassen, unachtsam gewordenen Südländer war jedoch entgangen, dass sich der Brustkorb des Elben noch immer schwach hob und senkte, als er ihn achtlos und ohne genauere Überprüfung liegen ließ, um sich seinem Herrn wieder anzuschließen...

***

wird fortgesetzt