Danke, danke, danke, danke für die vielen lieben Reviews und sorry, wenn wir an euren Nerven gekratzt haben. *bg* Hier kommt nun das nächste Kapitel. Dann ist unser „Vorrat" jedoch aufgebraucht und ihr müsst wieder etwas warten. Wir schreiben so schnell weiter, wie es unsere Umwelt zulässt!

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Schuld und Sühne

von: Salara und ManuKu

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Teil 22

Elrond saß nahe des Balkons am Fenster und spielte auf seiner silbernen Harfe. Für einen Außenstehenden wäre dies ein ungewöhnliches Bild gewesen, denn der sonst so beherrschte Herr von Bruchtal ließ sich an diesem Abend von der Musik treiben. Wo sonst ein gelöster Ausdruck auf sein Gesicht trat, sobald er das Instrument zur Hand nahm, war es heute ein zutiefst schmerzhafter Zug, der sein Antlitz überzog. Die Musik vermochte ihm den Frieden nicht zu schenken, nach dem er sich so sehr sehnte.

Erneut entlockte er der Harfe leise, melancholische Töne. Sie spiegelten seinen Seelenzustand besser wider, als Worte es in diesem Moment gekonnt hätten. Elrond war traurig und unendlich müde. Die zurückliegenden Ereignisse hatten ihm alles an Kraft abgefordert – und dennoch: es war noch nicht vorbei. Tief in sich wußte der Herr von Bruchtal das, und diese Ahnung beunruhigte ihn zutiefst.

Elrond brach sein Spiel ab, als aus dem Garten ein verlorener und überaus hoffnungslos klingender Trauergesang zu ihm empor wehte. Legolas' klare, silberhelle Stimme hatte ihn irgendwann am Tage angestimmt und andere Elben hatten die Melodie schnell aufgenommen. Seither erfüllte ein melodisches Klagen die Luft. Während Legolas schon vor einiger Zeit verstummt war, führten die Bruchtaler Bewohner das Lied fort. Elrond wußte, dass der Gesang nun während der gesamten Nacht nicht mehr verklingen und jeder Ton noch tiefer in die verletzte Seele des Elbenprinzen eindringen würde.

Der Tod des Freundes schien Thranduils Sohn viel näher zu gehen, als Elrond es je vermutet hätte. Dass seine Söhne Elrohir und Elladan sich zurückziehen würden, war zu erwarten gewesen, doch das Ausmaß von Legolas' Schmerz war unvermutet stark.

Sanft glitten Elronds Fingerspitzen erneut über die Saiten der Harfe und ohne, dass er sich dessen bewusst war, nahm er nun ebenfalls die Melodie auf, die durch die Fenster bis in sein Herz klang.

Estel, mein Sohn, ist tot. Tot für Elladan und Elrohir, seine Brüder; tot für Legolas, seinen besten Freund; tot für die Menschen, die noch nicht einmal wussten, dass in ihm ihre kaum noch vorhandene Hoffnung schlummerte.

Elrond schüttelte unglücklich den Kopf, als er sich die Trauer in den Gesichtern von Legolas und den Zwillingen ins Gedächtnis rief. Ihr Kummer hatte tiefsten Unglauben enthalten, wie er nur jenen eigen war, denen der Tod so selten begegnete, dass sie ihm immer wieder mit dem Unverständnis eines Kindes gegenüberstanden.

Warum? Warum musste es so weit kommen?

Der Herr über Bruchtal stand auf und stellte die Harfe wieder an ihren Platz zurück. Er hatte gehofft, durch die Kraft ihrer Musik Klarheit darüber zu erlangen, ob er mit seinen Handlungen den richtigen oder falschen Weg beschritten hatte, doch diese Klarheit war ihm versagt geblieben.

Seufzend trat er ans Fenster und beantwortete das leise Klopfen, das in diesem Moment von seiner Tür her ertönte, eher unbewusst. Ohne sich umzudrehen wusste er, dass es Glorfindel war, der da ruhig in den Raum trat. Eigentlich hatte der Elbenkrieger nur das baldige Ausrücken seiner Männer melden wollen, doch beim Anblick des völlig deprimierten Elrond änderte er seine Absicht, kam ebenfalls ans Fenster und blieb schließlich neben ihm stehen.

Sie schwiegen eine Weile, doch dann begann der Elbenkämpfer aus Gondolin leise zu sprechen.

„U I vethed. [Dies ist nicht das Ende].

Na I onnad. [Es ist der Anfang].

Si boe u-dhannathach. [Jetzt darfst du nicht zögern.]"

Elrond lächelte leicht – zum ersten Mal an diesem unglücklichen Tag –, dann wandte er sich für einen Moment seinem Freund und Berater zu. „Immer wieder findest du die passenden Worte, um mich aufzurütteln."

Man musste nicht über die Gabe des Gedankenlesens verfügen, um zu sehen, dass Elrond trotz dieser Worte noch immer nicht davon überzeugt zu sein schien, dass er richtig gehandelt hatte. Also versuchte Glorfindel es auf einem anderen Weg.

„Es ist ein schwieriger Pfad, den Ihr nun eingeschlagen habt, doch es gab keine andere Wahl."

„Wirklich nicht?"

Elrond warf Glorfindel einen weiteren zweifelnden Seitenblick zu, dann starrte er wieder in die Nacht hinaus, wo die Wolken an einigen Stellen aufgebrochen waren und nun wirklich ein paar Sterne erkennbar wurden.

„Ich bin mir dessen nicht mehr sicher," flüsterte er und dachte an die einsame Seele, deren Stimme ihn am Tag immer wieder über mögliche andere Entscheidungen hatte nachdenken lassen: Legolas.

Unwillkürlich drängte sich Elrond das Bild des Prinzen auf: wie sich seine Silhouette gegen das herabstürzende Wasser des Bruinen abzeichnete. Wie auch der Strom war der Lebenswille des silberhaarigen Elben im Davonfließen begriffen.

„Nichts kann uns in so tiefe Depressionen stürzen wie Tod, Verlust und Trauer. Du weißt das ebenso gut wie ich, mein Freund, doch noch nie war ich mir dessen so bewusst wie jetzt. Ich habe Angst vor den Konsequenzen unseres Handelns..."

Er deutete mit einer schwachen Kopfbewegung in den Garten, in dem Legolas' Stimme vor einiger Zeit verklungen war. Auch Glorfindel hatte sie sicher deutlich vernommen. „Was haben wir nur getan, mein Freund? Niemand von uns hatte eine Ahnung, wie tief die Freundschaft des Prinzen zu Estel bereits war. Das Ausmaß, in dem er trauert, könnte ihn innerhalb kürzester Zeit nach Valinor treiben."

„Ich weiß, doch die Entscheidung, die das alles erst in Gang setzte, lag nie bei Euch, sondern bei Estel. Er war sich dessen sicher bewusst – und hat dennoch so entschieden, weil er glaubte, dass das die einzig mögliche Lösung war."

Elrond wusste das nur zu gut, doch es war, als verlieh die Äußerung Glorfindels plötzlich jenen Worten erneut Stimme, die er vor noch nicht allzu langer Zeit mit seinem Ziehsohn ausgetauscht hatte...

***

„Du musst nicht sterben, mein Sohn! Das kann nicht die Lösung sein..."

„Doch, Vater! Das ist die einzige Lösung!" Die Antwort Aragorns hatte trotz der Schwäche in der Stimme die Entschlossenheit nicht verbergen können, die hinter den Worten stand. Es schmerzte den jungen Mann deutlich, seinem elbischen Vater so schonungslos gegenübertreten zu müssen.

„Mein Tod ist letztlich unausweichlich, und du weißt das auch. Ich kann es in deinem Blick sehen." Aragorns Augen begannen zu glitzern und er streckte eine Hand nach Elrond aus, als wollte er seinen Segen zu diesem Vorhaben.

„Wie kannst du mir so etwas bloß vorschlagen?" Elrond war einen Schritt zurückgewichen, als ihm klar wurde, dass Aragorn es ernst meinte. Der ließ die Hand enttäuscht sinken, und die silbergrauen Augen des Menschen wurden ebenso hart wie die seines Gegenüber.

„Weil ich anders nicht leben kann... nicht leben möchte. Ich will mich nicht jahrelang verstecken, nicht ununterbrochen darüber nachdenken müssen, wie viele Leben meinetwegen noch gewaltsam beendet werden, bis die Südländer endlich begreifen, dass sie mich woanders suchen müssen und ihr Morden an anderer Stelle, an anderen Personen weitergeht, weil sie noch immer nach mir suchen."

„Wir werden ihr Lager finden, sie vernichten..." begann Glorfindel, der sich bislang aus der Auseinandersetzung herausgehalten hatte, doch Aragorns Blick traf ihn, brachte ihn zum Verstummen.

„Und dabei womöglich noch mehr unsterbliche Leben opfern? Ihr habt mir gesagt, wie gut sie sind, Lord Glorfindel. Solche Worte aus Eurem Mund zu hören erübrigt jedes andere Urteil. Demnach sind ihre Kampfkünste den Euren durchaus gewachsen. Das macht sie zu sehr gefährlichen Gegnern. Ich zweifele nicht an Eurer Erfahrung, Eurer Entschlossenheit oder gar Eurem Willen, dieses Risiko einzugehen, doch Ihr würdet es nicht um Euretwillen tun, oder weil Ihr in Gefahr seid. Ihr würdet es um meinetwillen tun und das kann und will ich nicht zulassen."

„Es ist nicht an dir, dies für mich zu entscheiden, Estel." Jetzt war Glorfindels Stimme genauso entschlossen wie die des jungen Menschen. „Wenn ich für dich kämpfte, dann tat ich es freiwillig, weil ich in dir sehe, was auch dein Vater in dir sieht. Weil du jemand Besonderes bist! Und das gleiche gilt für die Beweggründe meiner Männer!"

Aragorn schüttelte stur den Kopf. „So viele sind meinetwegen schon gestorben, so viele mehr schweben in Bruchtal meinetwegen ständig in Gefahr. Wie lange soll das noch so bleiben? Ich bitte Euch, seht weiter in die Zukunft. Selbst wenn die Südländer keine Bedrohung mehr für mich darstellen, werden andere Feinde kommen, schlimmere womöglich, als es die Südländer jetzt sind. Rivars Tagebuch..."

Aragorn deutete auf den ledernen Band, der unweit seines Bettes auf einem Tisch lag.

„...erzählt davon, wie meinem Vater und ihm die Flucht gelang. Als mein Vater den Palantir dieses Gomar berührte, erfuhr der Dunkle Herrscher von seiner Existenz. Selbst wenn wir voraussetzen, dass Sauron inzwischen weiß, dass mein Vater nicht mehr lebt, so können wir doch nie sicher sein, dass er nicht dennoch seine Spione ausschickt, um nach weiteren Nachkommen Isildurs zu suchen. Keiner, nicht du, Vater..."

Er sah erst Elrond an, dann Glorfindel.

„... und nicht Ihr, mein Lord Glorfindel, nicht meine Brüder, nicht Legolas... keiner, der von meiner Existenz weiß, kann je sicher sein, nicht eines Tages doch mal in die Gewalt dieser Spione zu geraten. Und was dann? Ich muss euch nicht sagen, was man dann mit dem Unglücklichen machen wird. Es wird im besten Fall Tage, im schlimmsten Stunden dauern, bis man das entsprechende Wissen aus ihm herausgepresst haben wird. Und selbst, wenn sie mich trotzdem nicht fangen, weil mich die Macht Lady Galadriels beschützt – das Leben jener armen Seele wäre nur noch eine unbeschreibliche Tortur, ihr Ende der unerfüllte Wunsch nach dem Tod, sein Blut an meinen Händen. Doch so ein Leben auf Kosten und abhängig von anderen, wäre lediglich ein Vegetieren. Ihr würdet so etwas anderen nie für euch zu tun gestatten – und ich werde es auch nicht. Versteht doch, ich kann nicht länger zulassen, dass andere die Probleme für mich lösen. Soll es wirklich noch eine Zukunft für mich geben, dann gibt es sie nur, wenn ich jetzt damit beginne, sie selbst zu lösen. Auf meine Art."

„Aber doch nicht auf diese, Estel," bat Elrond den Menschen ein letztes Mal, wohl wissend, dass dieser sich nicht umstimmen lassen würde. Nie zuvor war dem Elbenfürsten so schmerzhaft klar vor Augen geführt worden, dass Aragorn in der Tat erwachsen geworden war und nun eigene Entscheidungen fällte. „Lass es doch dieses eine Mal noch zu, dass die Macht meines Volkes dich beschützt. Es gibt noch so viel, das deiner harrt..."

„Ja, ich weiß." Plötzlich war Aragorns Stimme wieder sanft. Er spürte, dass der Widerstand seines Vaters schwand. „Aber alles, was die Zukunft noch für mich bereithalten mag, bleibt lediglich der Schatten eines Traums, wenn ich mich jetzt verstecke: unerreichbar, weil die Gefahr, von der Dunkelheit gefunden zu werden viel zu groß geworden ist. Nein, Vater..." Sein Blick bat Elrond auf eine Art um Verzeihung, wie es Worte nie vermocht hätten. „...es gibt keine andere Möglichkeit ... und du weißt es auch."

Elrond seufzte vernehmlich, dann nickte er zögernd.

„Mein Verstand weiß, dass du Recht hast, doch mein Herz fürchtet sich vor dem, was du mir damit auferlegst. Was du uns allen damit auferlegst. Wie, denkst du, werden deine Brüder darauf reagieren, wenn ich ihnen erzähle, wozu du dich entschlossen hast? Und wie erst Prinz Legolas?"

„Sie dürfen es niemals erfahren! Vor allem Legolas nicht, denn er würde mir folgen. Das jedoch kann ich nicht zulassen."

Plötzlich fiel Aragorn das Gespräch mit seinem Freund wieder ein, das Versprechen, das dieser ihm am Morgen erst gegeben hatte.

„Wenn..." Aragorn schluckte. „Vater, halte Legolas hier fest. Lass nicht zu, dass er mir dorthin folgt, wo er mich dann wähnen wird. Sein Kummer wird ihn blind für die wirklich wichtigen Dinge in seinem Leben und taub für jede noch so gute Begründung machen. Er wird nach Valinor gehen wollen, doch das darf er nicht. Sein Platz ist hier in Mittelerde, in seinem Reich, bei seinem Volk. Du musst dafür sorgen, dass er und meine Brüder nichts Unüberlegtes tun."

„Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, mein Sohn, das verspreche ich dir."

Er sah kurz zu Glorfindel hinüber, der sein Schweigen beibehielt. Doch dessen Blick traf den Elbenfürsten um so beredter, denn eine Frage lag darin, die der Gondoliner nie laut zu stellen wagen würde.

Und wer wird dann für Euch da sein, Lord Elrond?

***

Elrond riss sich von seinen Gedanken los und sah Glorfindel an.

„Du hast recht. Es war seine Entscheidung. Trotzdem fühle ich mich all dem hilflos ausgeliefert, was die Valar mit mir und meiner Familie noch vorhaben mögen."

„Estels Tod ist den Südländern, die auf der Klippe lauerten, sicher nicht verborgen geblieben, denn die Halle des Abschieds lag direkt unter ihnen." Glorfindel verlieh seinen Worten sanften Nachdruck. „Es gibt keine Veranlassung, sich über einen zweiten Angriff Sorgen zu machen, denn nun haben sie keinen Grund mehr dafür. Außerdem werden meine Männer sie in Kürze verfolgen und bald herausfinden, wie stark ihre Truppe wirklich ist. Die Blutrache, die mit Arathorn begann, endete mit dem Tod seines Sohnes. Nun gibt es niemanden mehr, der unter ihre Wirksamkeit fällt. Estels Tat hat Eurer Familie und diesem Tal die Sicherheit zurückgegeben."

Elrond sah seinen Vertrauten mit einem undefinierbaren Ausdruck an.

„Wenn ich das doch nur glauben könnte," flüsterte er und konnte nicht verhindern, dass erneut die Bilder seiner Vision an ihm vorbeihuschten. In den letzten Tagen hatte er nicht viel Zeit gehabt, sich mit ihr zu beschäftigen, doch jetzt trat sie wieder mit aller Deutlichkeit in den Vordergrund, so als wollte sie ihr baldiges Wahrwerden verkünden.

Elrohir, getroffen von der Klinge des eigenen Vaters...

Wieso blieb der Schatten dieser Vision auf ihm liegen, wenn alles vorbei war?

Elrond wandte sich wieder dem Fenster zu und starrte blicklos in den Sternenhimmel, der durch vereinzelte Lücken in der Wolkendecke sichtbar wurde.

„Es war so schwer, Estel in den Armen zu halten und zu wissen, wie hart sein Tod meine Söhne und Legolas treffen würde," fuhr Elrond nach einer Weile fort. Dann sah er Glorfindel mit einem Blick an, den dieser in all den Jahrtausenden noch nie bei Elrond gesehen hatte. Schuldgefühl und Zweifel lagen darin. Der Herr von Bruchtal suchte eine Antwort, von der er noch nicht wusste, wie er sie finden sollte.

Glorfindel durfte sie ihm nicht geben und konnte ihm nur eine Brücke dorthin bauen.

„Ihr denkt daran, ihnen trotz Estels Bitte die Wahrheit zu sagen, nicht wahr?"

„Kann man es mir so deutlich ansehen?" Elrond lächelte verlegen.

„Ja, denn auch mir würde an Eurer Stelle dieser Gedanke nicht aus dem Sinn gehen. Doch bevor Ihr es ihnen offenbart, müsst Ihr Euch eines fragen: Wie werden sie reagieren, wenn Ihr ihnen jetzt die Wahrheit erzählt?"

Elrond sah seinen Vertrauten lange an, dann nickte er verstehend.

„Ich weiß, was du mir damit sagen willst und du hast recht, Mellon nín! Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen. Ich bitte dich, ruf meine Söhne zu mir."

Elrond hatte seine Antwort gefunden.

Während sich die Hand des Gondoliner Kämpfers kurz auf seine Schulter legte, um sie aufmunternd zu drücken, verfiel der Herr von Bruchtal wieder in Gedanken und so verließ Glorfindel leise den Raum, um Elladan und Elrohir zu suchen, sie zu ihrem Vater zu bitten und dann zu seinen inzwischen vollständig versammelten Männern zurückzukehren.

„Estel hatte unrecht," flüsterte Elrond und starrte hinaus in den Garten, den die Nacht nun verbarg. „Ich glaube, er erkannte es selbst, kurz bevor er..."

Er konnte nicht weitersprechen und schloss die Augen, um sich die letzten Momente, in denen seine Familie noch beisammen sein konnte, ins Gedächtnis zurückzurufen...

***

„Ich... wir haben dir ein anderes Mittel gegeben. Es muss nur noch zu wirken beginnen."

Elrond erkannte am Blick seines menschlichen Ziehsohnes, dass dieser genau wusste, welches Mittel er nun zu sich genommen hatte. Der Blick der silbergrauen Augen drang tief in ihn und versuchte zu ergründen, ob die Entscheidung, die sie beide getroffen hatten, richtig gewesen war. Die Hand Aragorns, die sich Augenblicke später auf seinen Arm legte, zitterte leicht.

„Das wird es, Vater. Ich vertraue dir."

Vertrauen. Estel vertraute ihm sein Leben, sein Schicksal an. Elronds Gefühle drohten ihn in diesem Augenblick beinahe zu überwältigen, doch zum Glück lenkte Legolas den Blick seines menschlichen Sohnes auf sich, so dass er sich wieder unter Kontrolle bringen konnte. Doch das, was der Prinz aus Düsterwald sagte, ließ ihn erschüttert hochsehen.

„Das kannst du auch. Es ist kaum ein paar Minuten her, dass ich dir das Mittel gegeben habe, und sieh selbst, wie sehr sich dein Zustand bereits verbessert hat."

Elrond seufzte lautlos. Als ob diese Situation auch so nicht schon schwer genug gewesen wäre, ohne das Wissen, das Legolas nun an Aragorn weitergab.

„Du? Du hast..." Aragorn holte tief Luft, dann sah er Elrond an. Der Herr von Bruchtal, fühlte sich unter diesem Blick plötzlich klein und um eine Antwort verlegen. Irgendwann würde er sich dem Vorwurf, der in Aragorns Blick lag, stellen müssen.

„Meine Hand war nicht so ruhig, wie sie es hätte sein sollen. Der Prinz ... war mir behilflich."

Plötzlich war Aragorns Raum von fröhlichen und erleichterten Gesprächen gefüllt, doch es fiel Aragorn und Elrond schwer, sich ihnen anzuschließen. Tapfer die Furcht in sich niederkämpfend, versuchten sie diese letzten Momente, in denen sie alle beisammen waren, zu genießen. Elrond wollte zudem diese letzte Gelegenheit nutzen, um sich bei seinem menschlichen Ziehsohn zu entschuldigen.

„Lass uns nicht schon wieder über Lórien streiten, Estel. Sieh doch nur, wohin uns das das  letzte Mal geführt hat. Es wird keinen weiteren Disput darüber geben, denn dafür habe ich keine Kraft mehr."

„Verzeih mir, Vater!" Aragorn schaute ihn forschend an und ergriff die schlanke Hand des Elben. „Ich wollte dir nicht weh tun, glaub mir."

„Das weiß ich, Estel. Das wusste ich bereits beim ersten deiner Worte. Nur macht es dieses Wissen einem nicht einfacher, die Dinge zu akzeptieren. Niemand, der Kinder hat, kann sich einfach so damit abfinden, dass sie oft anders handeln, als man es ihnen rät. Du bildest da keine Ausnahme, denn in meinem Herzen bist du schon seit langem mein viertes Kind. Verzeih du mir also. Verzeih, dass ich dich zu zwingen versuchte, nach Lórien zu gehen."

Aragorn ließ seine Hand in der des Vaters ruhen, und Elrond hielt sich krampfhaft an ihm fest, um das fröhliche Gerede Elladans ertragen zu können, denn er wusste, was gleich kommen würde.

Als wäre dieser Gedanke das Kommando gewesen, riss Estels Hand sich plötzlich aus der seinen und der junge Mann schlang seine Arme um den Körper. Krämpfe erschütterten seine Gestalt.

Es hatte begonnen...

***

Erneut klopfte es an Elronds Tür. Der Laut riß den Herrn von Bruchtal aus seinen Erinnerungen. Seine Form straffte sich beinahe augenblicklich und er wandte sich zur Tür. Es war Zeit, sich dem Unvermeidbaren zu stellen.

„Herein."

Er wartete, bis seine beiden Söhne auf eine Geste von ihm Platz genommen hatten. Es schmerzte den Vater, sie anzusehen und zu erkennen, wie kraftlos und apathisch sie ihrer Umgebung begegneten. Ihr Blick war abwesend und vor Trauer ganz trüb. Elrond vermisste die jugendliche Unbekümmertheit, die Elladan und Elrohir sonst umgab.

Und plötzlich wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

„Elladan, Elrohir, ich muss Euch etwas erzählen. Doch zuallererst bitte ich Euch beide für das, was ich getan habe, um Verzeihung..."

***

Legolas saß schon seit Stunden in der Krone eines sehr alten Baumes. Seine Wange ruhte an der rauen, kühlen Rinde. Doch der silberhaarige Elb nahm dieses ihn sonst so beruhigende Gefühl auf seiner Haut ebenso wenig wahr wie das Rascheln der wenigen Blätter, die der Baum noch trug. Sie knisterten leise und zögernd, als versuchten sie, die Trauer des Prinzen zu mildern. Doch die Stimme der Bäume und Pflanzen erreichte den Prinzen heute nicht.

Düstere Gedanken hielten ihn gefangen, und sie wollten ihn auch nicht verlassen. Der Lebenswille des Prinzen war auf der Suche nach einem Licht, das die Dunkelheit, die um so vieles tiefer war als die der ihn umgebenden Nacht, durchdringen konnte. Einem Licht, das ihn in dieser Welt noch verharren lassen würde. Doch er fand es nicht und so weigerte sich seine Seele, die Wirklichkeit zu akzeptieren.

Er war so weit fort, dass er nicht bemerkte, wie der Baum, auf dem er saß, plötzlich unter dem Gewicht zweier weiterer Elben zu erzittern begann.

***

Assat stand am Fenster und sah in den anbrechenden Abend hinaus. Er hatte die Weise nicht vergessen können, die in der letzten Nacht zu ihm herübergeweht war und sogar einen großen Teil der elbischen Worte verstanden. Es war ein Abschiedsgesang gewesen, der Versprechen und Wünsche enthielt, die jemanden auf eine Reise begleiten sollten. Assat hatte dieses Lied zwar noch nie zuvor gehört, doch er wusste instinktiv, warum es gesungen worden war.

In Bruchtal war jemand gestorben.

Estel ist sehr krank, hatte er sich bald danach an Legolas' Worte erinnert. Sollte es sich um ihn gehandelt haben? Später am nächsten Morgen hatte einer der Elbenheiler seine Vermutung bestätigt.

Ungebeten war das Bild Aragorns vor ihm aufgetaucht. Mit welcher Sicherheit, welchem Mut er damals in Ardaneh vor ihm gestanden und sich ihm ausgeliefert hatte... Wie gern wäre Assat ihm noch einmal begegnet, um zu reden, um mehr über den Menschen zu erfahren, der einen so nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte. Er bedauerte, dass das jetzt nicht mehr möglich war.

Nach einem letzten Blick hinaus wandte er sich ab und ging zu seiner Lagerstatt zurück. Sein Blick streifte Miro, der entgegen aller Vorhersagen noch immer nicht erwacht war. Mehrmals am Tag sahen die Heiler nach dem jungen Mann, doch von Mal zu Mal waren ihre Mienen zuversichtlicher geworden. Er sei auf dem Weg der Besserung, hatten sie Assat versichert.

Nur sein Leben ist noch übrig.

Assat seufzte, während er bedrückt an all jene dachte, die er auf seinem Weg hierher bereits verloren hatte. Andrim und die anderen... Sie fehlten ihm – in diesem Augenblick mehr denn je.

Was soll ich nun tun? Ich kann nicht dort weitermachen, wo ich aufhörte. Aber was bleibt mir sonst für eine Wahl?

Beinahe automatisch erhob er sich, um zu Miro hinüberzugehen und sich wieder auf den Rand seines Lagers zu setzen, doch auf halbem Weg hielt er inne und wandte sich einem der Ausgänge zu. Er hatte sich zwar vorgenommen, Legolas' gegebenes Wort einzuhalten, andererseits jedoch war er es nicht gewohnt, so lange an einem Ort eingesperrt zu sein. Und wenn es nur ein paar Minuten waren – Assat musste hier raus!

Der Heiler, der in diesem Moment die Halle betrat, ließ nicht erkennen, ob ihn die Bitte des fremden Menschen überraschte. Er nickte nur wortlos, als Assat ihm im Vorbeigehen sagte, dass er bald wieder da sein würde.

Assat ging ziellos die gepflegten Wege entlang, bis er einen abgelegeneren Teil des Gartens erreichte. Die Bäume, die hier standen, waren sehr alt, denn trotz der abendlichen Dunkelheit wirkten ihre Stämme massig und ihre Kronen ungemein ausladend.

Der Mann mit der Schlangentätowierung fragte sich, welche Zeiten diese Gewächse schon erlebt haben mochten, während er sich unter einem ins schon empfindlich kühle Gras setzte, an den Stamm lehnte und zum Himmel starrte. Dort riss die seit Tagen tiefhängende Wolkendecke langsam auf, um einige Sterne sichtbar werden zu lassen.

Assat sah zu ihnen auf und ließ seine Gedanken treiben, ohne sich zu rühren. Schnell war er auf diese Art mit dem Schatten des Baumstammes verschmolzen. So kam es auch, dass die Zwillinge ihn nicht bemerkten, als sie einige Zeit später an diesen Ort kamen, um Legolas, nach dem sie schon eine Weile Ausschau gehalten hatten, endlich hier zu finden.

Zunächst wollte Assat sich bemerkbar machen, doch bereits die ersten Worte, die an sein Ohr drangen, ließen ihn sein Vorhaben wieder vergessen. Während er dem Wortwechsel der drei folgte, wurden seine Augen immer größer...

***

Nachdem sie das Gehörte und den damit verbundenen Schock verdaut hatten, machten Elladan und Elrohir sich auf die Suche nach Legolas. Elrond hatte ihnen nicht erst sagen müssen, wie dringend gerade er dieser Erklärung bedurfte. Es gelang ihnen nach erstaunlich kurzer Zeit, Legolas' Spur aufnehmen, die dieser achtlos und selbst für einen Menschen deutlich lesbar hinterlassen hatte.

Als sie ihn schließlich entdeckten, atmeten sie erleichtert auf. Flink kletterten sie die kräftigen Äste empor, bis sie dicht unter dem Standort des Prinzen verharrten. Der Ast, auf dem Legolas saß, würde nicht noch das Gewicht zweier weiterer Körper tragen können.

„Legolas!" Elladan musterte das Gesicht des Freundes, das ihnen zugewandt war. Er schien zu schlafen, doch es war die Art, in der er schlief, die die Zwillinge noch stärker alarmierte. Legolas schlief auf Menschenart – seine Augen waren geschlossen.

„Legolas!" Auch Elrohir versuchte es nun, allerdings etwas lauter als sein Bruder zuvor, und ihm gelang es schließlich, den Düsterwalder Prinzen aus seiner Versunkenheit zu wecken. Dieser runzelte die Stirn, als würde er sich durch die unerwartete Belästigung in seiner Leere gestört fühlen.

Müde öffnete Legolas die Augen, doch er starrte blicklos an den beiden Elben vorbei in die Dunkelheit.

„Legolas, hörst du mich?" Elrohir streckte eine Hand aus, berührte ihn am Arm, schüttelte ihn sachte. „Legolas... Estel lebt!"

Auch jetzt ernteten die Zwillinge keine Reaktion. Legolas starrte weiter regungslos an ihnen vorbei.

Hilflos sah Elrohir seinen Bruder an. „Was nun?"

Elladan überlegte einen Augenblick, dann griff er nach Legolas, und als dieser sich nicht wehrte, schaffte er ihn zusammen mit seinem Bruder hinunter auf den Erdboden. Dort angekommen, setzten sie Legolas auf den Boden, lehnten ihn gegen den Stamm und knieten sich vor ihn. Dann suchten sie in seinem Gesicht nach einer Reaktion, die sie jedoch noch immer nicht fanden.

„Legolas..."

***

Legolas fühlte, dass sein Körper sich bewegte, doch er sträubte sich nicht dagegen. Er spürte, dass die Gleichgültigkeit, die ihn erfasst hatte, mit jedem Moment weiter an Stärke gewann. Bereits die letzten Stunden waren ohne jede Bedeutung an ihm vorbeigeflossen und schon jetzt konnte er das Vergessen spüren, das den Kummer bald beenden würde.

„Legolas..."

Eine Stimme verlangte drängend danach, Gehör zu finden. Es war lästig, ihr zu folgen, doch aus unerfindlichen Gründen tat der Elb es. Er glaubte, diese letzte Anstrengung der Welt noch schuldig zu sein.

Mühsam kämpfte er sich in die Gegenwart zurück und fand sich an einen Baumstamm gelehnt wieder. Vor ihm knieten Elladan und Elrohir und musterten ihn mit besorgten Blicken. Die Tränen, die er in ihren Augen schimmern zu sehen meinte, erinnerten Legolas schlagartig an die Ereignisse des vergangenen Morgens.

Aragorn ist tot!

Elladan kam noch ein Stück näher an ihn heran und strich ihm eine Strähne seines langen hellen Haares aus dem Gesicht. Dann nahm er Legolas' Gesicht in beide Hände und sah aufmerksam in dessen blaue Augen.

Beginnt sein Geist bereits zu entschwinden? Ob er überhaupt verstehen wird, was wir ihm sagen wollen?

Der Blick, der Elladan begegnete, war verschleiert, doch er konnte in der Tiefe noch einen Rest des elbischen Lichtes entdecken. In Legolas hatte es immer heller geleuchtet als in jedem anderen Elben aus Düsterwald, dem der Zwilling je begegnet war.

„Legolas," flüsterte Elladan eindringlich und zwang ihn, zu ihm aufzusehen. „Mellon nín, hör mir zu!"

Die beiden Zwillinge sahen sich kurz um, um zu prüfen, ob sich noch jemand in ihrer Nähe befand. Doch als sie niemanden sahen und alles still um sie herum schien, waren sie beruhigt.

„Legolas, Estel ist noch am Leben!"

Elladan wusste nicht, ob Legolas die Bedeutung seiner Worte verstanden hatte, denn er reagierte zunächst nicht auf diese Neuigkeit.

Elrohir legte daraufhin dem Prinzen eine Hand auf den Arm und schüttelte ihn nachdrücklich. „Hast du verstanden? Estel lebt! Er lebt!"

Legolas verstand die Worte durchaus, doch er konnte ihren Inhalt anfangs nicht mit dem in Übereinstimmung bringen, was er in den letzten Stunden erlebt hatte. Dann sah er die Wahrheit in dem freudigen Leuchten, das die Zwillinge umgab.

„Wir... wir haben ihn begraben! Wir haben ihn verloren!" Legolas Stimme klang brüchig und ungläubig. „Ich habe es gesehen..."

Die Zwillinge lächelten sich erleichtert an.

„Ich weiß, wir konnten es anfangs auch nicht glauben, doch unser Vater hat es uns verraten! Er wartet auf dich, um es dir zu erklären..."

Aragorn ist noch am Leben!

„Aber ... aber wie? Warum? Und wieso hat Lord Elrond..."

Das ungläubige Gestammel des Prinzen verstummte schlagartig. Dann funkelten seine blauen Augen plötzlich zu Elladan empor.

„Euer Vater hat es gewusst und nichts gesagt? Er hat zugelassen, dass wir dachten, Aragorn sei..."

Er sprang auf. Statt der Schwäche, die bis eben noch die Worte gedämpft hatte, klangen sie plötzlich überaus ärgerlich und mit diesem Ärger waren unversehens auch Leben und Hoffnung in Legolas zurückgekehrt.

„Er will es mir erklären?"

Kalte Wut lag im Blick des Prinzen, doch sein Sternenlicht leuchtete wieder so hell wie zuvor. „Darauf bin ich sehr..." Er dehnte das Wort. „...neugierig!"

Ohne auf die Zwillinge zu warten, setzte Legolas sich in Bewegung und stürmte an ihnen vorbei auf das Schloss zu. Die sahen sich mit einem beredten Blick an, um ihm dann überrascht zu folgen. Auf diese „Unterhaltung" waren sie gespannt!

***

Assat, der noch immer still nur wenige Schritte von den drei Elben entfernt hinter einem dicken Baum hockte, glaubte sich verhört zu haben.

Der Mann, dem er damals in Ardaneh begegnet war, lebte also noch!

Der ehemalige Verbrecherkönig von Ardaneh blieb solange reglos, bis er sich sicher sein konnte, dass die drei Elben verschwunden waren und sein Lauschen geheim blieb. Dann machte er sich, tief in Gedanken versunken, auf den Rückweg in die Halle der Heiler.

***

Elrond saß in seinen Gemächern und versuchte, sich auf einen Bericht der Nordpatrouillen zu konzentrieren, doch immer wieder grübelte er darüber nach, wie ihre nächsten Schritte aussehen würden. Wie sollten sie sich den Südländern gegenüber verhalten? Wie konnte die Gefahr endgültig gebannt werden?

Er wurde jedoch unvermittelt aus seinen Gedanken gerissen, als seine Tür ohne jedes Anklopfen aufgerissen wurde und ein überaus wütender Legolas in den Raum stürmte, dem die besorgten Zwillinge folgten.

„Vater..."

Der Elbenherr hob beschwichtigend die Hand und Elladan verstummte. Dann sah er sich Legolas gegenüber, der dicht vor ihm stehen blieb und ihn mit dem wütendsten Blick maß, den Elrond je bei einem Lebewesen gesehen hatte. Doch es lag nicht nur Wut in den blauen Augen. Der Elbenherr sah auch, wie verletzt und hilflos Legolas sich fühlte – und dass dort, hinter den ersten aufwallenden Emotionen auch eine grenzenlose Erleichterung darauf wartete, sich irgendwann zeigen zu dürfen. Irgendwann, wenn gesagt war, was dem Prinzen in diesem Augenblick fast die Kehle abzuschnüren schien. Als er sich endlich halbwegs in der Gewalt hatte, sagte er nur ein einziges Wort.

„Warum?"

Sie maßen sich stumm, und Elrond hoffte, dass niemand merkte, WIE KLEIN er sich unter Legolas' Blick fühlte. „Es tut mir leid..."

„Es. Tut. Euch. Leid?" Jedes der Wörter klang wie eine Anklage. „Ist das alles? Es tut Euch leid? Was tut Euch denn leid, mein Lord? WAS? Dass Ihr dieses... dieses schreckliche Schauspiel inszeniert habt? Dass es mir fast das Herz brach, ihn sterben zu sehen?"

„Legolas, es betraf nicht nur Euch. Es betrifft alle. Ihr alle musstet glauben, dass Aragorn tot sei. Nur so kann er irgendwann der werden, zu dem das Schicksal ihn vorherbestimmt hat."

„All das, all der Kummer der vielen, die um ihn trauern, nur damit Estel einst die Krone Gondors tragen kann? Ist das nicht selbst für einen Nachkommen Isildurs ein wenig übertriebene Vorsicht, mein Lord?" Legolas schnaubte spöttisch und bitter.

„Ihr werdet es vielleicht nie begreifen, aber es ist nicht einmal annähernd genug, um Aragorn zu schützen." Elronds Miene verdüsterte sich. Nun verbarg auch er seinen aufkommenden Zorn nicht mehr vor den Anwesenden. „Ihr glaubt, Ihr wüsstet alles über jene Tage der letzten Allianz, in denen auch einiges geschah, das schon bald den Himmel Mittelerdes erneut verdüstern wird. Aber Ihr wißt nichts! Gar nichts! Ihr habt nie die unbeschreibliche Grausamkeit des Dunklen Herrschers erlebt! Aber ich! Ich war dort. Ich war Zeuge jener letzten Momente, ehe ihm Isildurs Tat den Körper nahm. Den Körper, Legolas, nicht die Macht, nicht die Erbarmungslosigkeit und schon gar nicht den Hass und den Rachedurst, den er seither gegenüber jenem Geschlecht hegt, das ihn zu dieser hilflosen Existenz verdammt hat. Glaubt Ihr wirklich, die wenigen Tausend Jahre Eures bisherigen Lebens hätten Euch schon ein ausreichendes Bild aller möglichen Grausamkeiten gegeben, mein Prinz? Wenn ja, dann vergesst es ganz schnell wieder. Ihr wisst nicht, was wirkliche Gräuel sind. Aber Aragorn würde das erfahren müssen, wenn Saurons Diener seiner je habhaft würden."

„Wie sollen sie seiner habhaft werden, wenn sie nicht einmal wissen, dass es seine Blutlinie noch gibt?"

Er weiß es, Legolas! Sauron hat vor über zwanzig Jahren erfahren, dass Isildurs Erben noch immer leben. Er weiß es, weil Aragorns Vater damals in den Südlanden mit seinen eigenen Händen verhinderte, dass Sauron den Körper eines Menschen übernahm und ihm dabei seine Identität enthüllte. Viele hundert Jahre sorgsamen Verbergens wurden in dem Moment, in dem Arathorn den Palantir jenes Südländers in die See warf, vergeblich. Er verhinderte damit ein schreckliches Unheil, doch der Preis dafür war hoch und es ist Aragorn, der ihn nun an die Südländer bezahlen soll. Keiner von uns will ihn in Gefahr sehen, doch es war Estel selbst, der zuerst erkannte, dass es nur einen Weg gibt, der ihm und jenen, die er liebt, dauerhaften Schutz bietet: sein Tod!"

Legolas' Wut war noch nicht verraucht, doch die tiefe Wahrheit, die er in den Worten Elronds erkannte, begann sie abzuschwächen. „Aber warum habt Ihr uns nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt?"

„Es gibt zwei Gründe. Zum einen war es Estels Wunsch. Er wusste, dass ihr alle, die ihr um seine Existenz wisst, dadurch auch unablässig in Gefahr seid. Wenn jedoch jeder davon überzeugt gewesen wäre, dass er nicht mehr lebt, wenn diese Nachricht sich irgendwann verbreitet hätte, wäre die Gefahr für ihn und für euch gebannt. Selbst in der Gefangenschaft dunkler Mächte hätte man Euch nie ein Wissen entreißen können, das Ihr nicht habt. Darum ging es Estel, nicht darum, Euch oder seinen Brüdern weh zu tun! Das müsst Ihr mir – und ihm – glauben, ich bitte Euch!"

„Keiner von uns..." Legolas sah sich kurz zu Elrohir und Elladan um, die sich inzwischen gesetzt hatten und der Auseinandersetzung stumm folgten. „...hätte ihn je verraten. Das muss er doch gewußt haben!"

„Er hat es gewußt, und eure Entschlossenheit auch nie bezweifelt. Aber es gibt immer Mittel, jemanden zu brechen. Vor wenigen Tagen erst war jemand hier, der mit seinem Leben geschworen hat, das Geheimnis um Aragorns Existenz zu schützen. Aragorn und ich wußten, dass dieser Mann eher sterben würde, als sein Wort zu brechen. Doch nicht einmal zwölf Stunden nach seiner Abreise aus Bruchtal ist er den Südländern in die Hände gefallen, und bereits in der darauffolgenden Nacht wurden wir angegriffen. Der Angriff galt Aragorn, Legolas. Was, glaubt Ihr, haben die Südländer mit ihrem Gefangenen wohl angestellt, um von ihm derart schnell alles über Estels Aufenthaltsort zu erfahren?"

„Ich weiß es nicht, und sein Schicksal rührt mich, obgleich ich diesen Menschen nicht kenne..."

„Ihr kennt ihn," unterbrach Elrond den Prinzen. „Es handelt sich um denselben Einsiedler, der Euch damals nach der Befreiung durch meine Söhne im Wald fand und bei sich aufnahm."

„Wie ist das möglich?" Ein Gemisch von Schock und nun auch Schuld zeigte sich auf den ebenmäßigen Zügen von Thranduils Sohn. „Wie habt Ihr ihn gefunden? Wann? Und wieso... Wieso weiß er überhaupt von Estels wahrer Identität?"

„Er weiß deshalb davon, weil er vor langer Zeit Aragorns Vater in den Südlanden das Leben rettete und hierher begleitete. Er war der Familie ein Freund, als Estel geboren wurde, und untröstlich, als Arathorn durch den feigen Überfall der Orks umkam. Damals hielten wir streng geheim, dass Arathorns Sohn überlebt hatte und verbreiteten, dass der Sohn das Schicksal des Vaters erlitt, um ihn zu schützen. Rivar erfuhr die Wahrheit erst vor ein paar Tagen. Damals jedoch verkroch er sich in seinem Kummer in jenem Wald, in dem er später auf Euch traf. Ich kenne diesen Mann, Legolas, und weiß, dass er einen unbeugsamen Willen besitzt. Er hat für Arathorns Familie seinen Herrn und seine Heimat aufgegeben. Trotzdem gelang es seinen Folterknechten, ihn in so kurzer Zeit zu brechen. Könnt Ihr denn wissen, wie lange Ihr..."

Er sah zu den Zwillingen hinüber, die der überraschenden Unterhaltung mit neuerlichem Erstaunen folgten.

„...oder ihr zwei den Grausamkeiten der Südländer standhalten würdet? Estel wollte es euch dreien ersparen, jemals eine Antwort auf diese Frage finden zu müssen. Ich hoffe, er vergibt mir, dass ich euch nun erneut dieser Möglichkeit aussetze, denn es nicht zu tun, hätte euch der Hoffnungslosigkeit anheim gegeben. Und dazu sah mein Herz sich nicht in der Lage."

Es gab nichts, was Legolas darauf erwidern konnte, so holte er nur tief Luft, ehe er schließlich fragte: „Und der zweite Grund? Ihr spracht von zweien."

„Der zweite Grund für mein Schweigen war die Annahme, dass die Freundschaft zu Estel noch nicht tief genug gehen würde, um ein solches Maß an Trauer in Euch wachzurufen. Immerhin kennt ihr euch erst kurze Zeit. Dass ich mich irrte, begriff ich erst, als es schon fast zu spät war. So kann ich Euch für den Schmerz nur um Verzeihung bitten – auch in Aragorns Namen. Ich weiß, dass die Sorge seiner letzten Momente Euch galt."

„Ich habe mein Schicksal in Mandos' Hallen für immer mit dem Eures Sohnes verknüpft, Ihr wisst das. Keine Macht, nicht einmal die Eure, wird mich dazu bringen, dieses Versprechen zu brechen, Lord Elrond. Also vergesst dies nicht und versucht nicht noch einmal, es ändern zu wollen!" Die blauen Augen des Prinzen blitzten, doch hinter der Härte der Oberfläche war bereits deutliche Erleichterung zu erkennen.

„Darauf habt Ihr mein Wort, Legolas!" Elrond neigte zur Bekräftigung seines Versprechens kurz seinen Kopf, dann deutete er auf einen freien Sessel.

„Nun, wo dies geklärt ist, können wir in Ruhe darauf warten, Estel aus seiner Gruft zu holen und in Sicherheit zu bringen."

Elrond hatte die Worte kaum ausgesprochen, als Legolas erneut von Unruhe gepackt wurde.

„Wir haben ihn in Stein eingeschlossen. In versiegelten Fels. Die Höhle ist so klein, er wird ersticken, Lord Elrond..."

Da es den Anschein machte, als wollte Legolas im nächsten Moment zu den Beisetzungsstätten stürmen, packte Elrond blitzschnell dessen Unterarm, hielt ihn unnachgiebig fest und zog ihn zu den Zwillingen hinüber, wo er ihn mit Nachdruck in einen Sessel hinunterdrückte.

„Er wird nicht ersticken, beruhigt Euch! Das Mittel, das ich ihm gab, versetzte ihn in einen todesähnlichen Zustand; es setzt Herzschlag und Atmung auf ein so niedriges Maß hinab, dass die Luft in seiner Grabstätte noch für Tage ausreichen würde. Es besteht keine Gefahr für ihn, Legolas! Habt Ihr mich verstanden? Es besteht kein Grund, sich Sorgen zu machen!"

Der nickte, wenn auch zögernd. Die Zwillinge waren jedoch noch nicht so überzeugt. „Das sah gestern Abend aber ganz anders aus," warf Elrohir gleich darauf ein. „Er hatte doch hohes Fieber und dann diese Krämpfe..."

„Das Fieber war künstlich erzeugt. Er nahm etwas zu sich, um dies zu bewirken. Wenn wir in seinem Raum nachsehen, werden wir sicher irgendwo eine leere Phiole finden." Elronds Stimme war ruhig. Er ließ sich nicht anmerken, dass gerade das die riskanteste Phase ihres Unternehmens gewesen war – lagen Aragorns Fieberschübe zu jenem Zeitpunkt doch gerade erst Stunden zurück.

Legolas schien sich an ebendiese Augenblicke zu erinnern, denn er neigte sinnend den Kopf. „Die Decke..."

„Hmm?" Verständnislos starrten ihn die anderen an.

„Als wir gestern Aragorns Zimmer wieder betraten, zog er gerade hastig die Decke an sein Kinn empor, dann drehte er sich von uns fort. Ich wette, diese Phiole liegt unter seinem Kissen!" Als sei ihm unerwartet etwas klargeworden, starrte der Elbenprinz Elrond plötzlich an.

„Dann habe ich also doch seinen Herzschlag gespürt, nicht wahr?" flüsterte er, während er den Elbenherrn nicht aus den Augen ließ.

Der nickte kurz. „Ja, das habt Ihr. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr genau einen solchen Augenblick trefft, war außerordentlich gering. Und dennoch... Ich dachte wirklich, unser Plan wäre in diesem Moment gescheitert, und war überrascht, wie leicht ich Euch vom Gegenteil überzeugen konnte."

„Schade, dass es uns nicht ebenso leicht gefallen war, dich davon zu überzeugen, Bruchtal zu verlassen, Legolas" warf Elladan übergangslos ein, und setzte an Legolas gewand hinzu: „Als du Vater suchen warst, bat Estel uns, dich aus Bruchtal fortzuschaffen. Er bettelte, flehte uns an... Wir dachten, aus ihm spricht das Fieber und haben ihn beschwichtigt. Wer sollte auch ahnen, was er plante. Legolas, Vater hat Recht: bis zuletzt war Estel bemüht, dir das Ganze zu ersparen."

„Ja..." Elrohirs Stimme war dunkel, als er weiterdachte – und begriff. „Und uns beiden auch. Immerhin sollten wir ihn gemeinsam fortbringen, Bruder."

„Unser kleiner Bruder..." Elladan lächelte versonnen. „Wer von uns hätte ihm bereits in diesen jungen Jahren solche Weitsicht zugetraut?"

„Nichts lässt jemanden schneller zu Weitblick gelangen als die Sorge um andere. Estel liebt uns sehr. Ihr dürft außerdem nicht vergessen, dass er darüber hinaus auch Mensch ist. Menschen altern schnell und haben nur wenig Zeit, reif und verantwortungsbewusst zu werden." Zum ersten Mal seit Legolas' ungestümem Eintritt lächelte Elrond nun. „Morgen Abend um diese Zeit werden wir Estel aus seiner Grabstätte herausholen und im Geheimen und sicher nach Lórien bringen, wo er sich in Ruhe von seiner Verletzung erholen kann. Danach will er sich unter einem neuen Namen den Waldläufern des Nordens anschließen, um mit ihnen zu gehen. Bis dahin haben Glorfindel und seine Krieger sicher endgültig mit den Südländern aufgeräumt, Rivar aus ihrer Gewalt befreit und Bruchtal endgültig wieder sicher gemacht. Morgen Abend..."

Er holte vernehmlich Luft und lächelte den drei jüngeren Elben zu.

„Morgen Abend gehören alle unsere Sorgen längst der Vergangenheit an."

„Darauf zu warten wird mir so schwer fallen wie nie etwas anderes zuvor," entgegnete Legolas und runzelte gleich darauf die Stirn, als der Elbenfürst nicht reagierte. Vor Elronds innerem Auge war mit beinahe elementarer Wucht das Bild seiner Vision aufgetaucht: Elrohir, der getroffen von der Klinge des Vaters zu Boden sank.

„Mein Lord, was ist mit Euch?" Besorgt beugte Legolas sich zu Elrond hinüber, der wie aus einem Traum zu erwachen schien und ihn mit dunklen, gramerfüllten Augen ansah.

„Nichts," erwiderte Elrond schließlich, doch sein Herz war schwer angesichts dieser Lüge. „Nichts..."

***

wird fortgesetzt