Die im Text verwendete Grabinschrift entstammt dem Textbuch zum „Die Rückkehr des Königs"-Soundtrack. Die englische Übersetzung haben wir einfach mal stehen lassen, weil es leicht zu verstehen ist. Auf Deutsch übersetzt klang es schrecklich! *bg*

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Schuld und Sühne

von: Salara und ManuKu

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Teil 24

Das Geflacker der Fackel ließ die Klinge aufblitzen, doch gleich darauf senkte Gomar sie überraschend wieder. Morag sah, wie sein Anführer den Toten fassungslos anstarrte. Fast sah es so aus, als lauschte er auf etwas, das Morags Ohren verborgen blieb.

„Das kann nicht sein," murmelte er, während seine Augen wie unter Zwang auf Aragorns Brust verharrten.

Erneut lauschte Gomar in die Stille.

„Was...?" wollte Morag seiner Neugier nachgeben, doch eine unwirsche Handbewegung seines Anführers ließ ihn augenblicklich verstummen.

„Da! Wieder!" Der triumphierende Aufschrei Gomars hallte von den steinernen Wänden wieder. Dann sah er zu seinem Stellvertreter auf. „Komm her!"

Perplex trat Morag näher, um zu spüren, wie Gomar seine freie Hand packte und auf die Brust des Toten presste.

„Was spürst du?" herrschte der Südländer seinen Untergebenen an und studierte lauernd dessen Züge. Der konzentrierte sich widerstrebend auf die Empfindungen unter seiner Hand und versuchte zu erkennen, worauf Gomar hinauswollte.

Was soll ich spüren? Was meint er nur? Entgeht meinen Augen etwas... Plötzlich war ihm, als hätte ihn eine unsichtbare Faust in den Magen getroffen. Mit großen Augen starrte Morag seinen Anführer an. Sie wussten beide, dass Tote nach einer gewissen, aber recht kurzen Zeit, erkalteten und ihr Blut zu fließen aufhörte. Der Körper dieses Mann hier aber war immer noch warm und das Blut rann, wenn auch kaum wahrnehmbar, aus den gerade oberflächlich zugefügten Wunden in der Brust.

Warum ist Gomar das nicht sofort aufgefallen? Ist er so auf seine Rache versessen, dass er offensichtliche Dinge nicht mehr sofort sieht?

Er lebt noch, wollte Morag sagen – und verschluckte den Satz sofort, als unter seiner Handfläche plötzlich ein einzelner Herzschlag spürbar wurde.

„Sein Herz schlägt..." Die Worte klangen fassungslos unter der Gesichtsmaske.

„Du sagst es!" Gomar ließ Morags Hand los und nickte zufrieden, doch in den dunklen Tiefen seiner Augen brannte die Besessenheit so heiß wie nie zuvor. „Dieser Aragorn ist nicht tot! Er lebt und jetzt ist er mein ... für immer!"

Morag sah, wie sein Anführer den leblosen jungen Mann vor sich anstarrte. Es geschah mit dem gleichen Hochgefühl, mit dem man eine Jagdbeute ansah, die nach langem Kampf endlich zur Strecke gebracht worden war. Die gedankenlose Überheblichkeit eines Siegers lag in Gomars Haltung, in der für unbequeme Fragen kein Raum mehr war.

Morag jedoch vermochte die Lässigkeit seines Anführers nicht recht zu teilen. Das alles passte nicht zu dem, was man überall von den Elben erzählte: dass ihr Wissen das aller anderen Rassen Mittelerdes bei weitem übertraf. Ein ungutes Gefühl begann sich in seiner Magengrube breit zu machen.

„Aber wieso haben die Elben ihn dann begraben? Es heißt, sie seien das klügste aller Völker. Ihnen kann nicht entgangen sein, dass dieser Mann noch lebte, als sie ihn hier einschlossen..."

„Mir soll egal sein, ob sie es einfach übersehen haben oder für klüger gehalten werden, als sie es in Wirklichkeit sind. Mich interessiert nur, dass ich nun doch noch zu meiner Rache kommen werde! Und diesmal hindert mich niemand daran, denn die Elben werden gewiss nicht nachsehen, ob seine Leiche noch da ist!"

„Was aber, wenn sie wissen, dass er noch lebt?" Morag dachte an die Späher, die ihnen das Begräbnis so haargenau geschildert hatten. Er hatte schon im Lager nicht recht glauben können, dass die drei Männer unbemerkt an den Wachen der Elben vorbeigekommen sein sollten. „Wenn das alles sogar extra inszeniert wurde, um uns zu täuschen? In diesem Fall würden sie schnell merken, dass er nicht mehr..."

„Unsinn!" unterbrach Gomar ihn barsch. „Niemand betreibt einen solchen Aufwand, nur um jemandem etwas vorzuspielen. Wenn sie ihn uns hätten entziehen wollen, hätten sie ihn heimlich fortgeschafft, an einen anderen Ort, fernab jeden Zugriffs. Er ist aber noch hier!"

Gomars Augen funkelten. In Gedanken hatte der Südländer sich bereits auszumalen begonnen, was er alles mit Aragorn anzustellen gedachte. Er konnte kaum erwarten, den ersten seiner Pläne in die Tat umzusetzen. Schon die Vorstellung an die Dinge, die er mit dem Sohn dieses Aradoran anzustellen gedachte, ließ heftige Vorfreude in ihm wach werden.

„Nein, das Schicksal ist mir nach all der Zeit nun doch endlich günstig gesinnt! Kein unnötiger Kampf mehr, keine weiteren Verluste, doch vor allem gibt es niemanden, dem sein Fehlen auffallen wird. Dafür habe ich alle Zeit Mittelerdes, um ihn für den Frevel seines Vaters büßen zu lassen. Endlich bekomme ich den verdienten Lohn für meine Ausdauer, Morag!"

Gomar steckte den Dolch fort, dann zog er Aragorn in eine sitzende Position und schließlich über seine Schulter.

„Dennoch werde ich deine Mahnung bedenken! Deine Ratschläge erwiesen sich in der Vergangenheit hin und wieder sogar als nützlich! Und nun raus hier, ehe uns doch noch eine Wache bemerkt!"

Nachdem er seinen Stellvertreter solchermaßen beruhigt zu haben meinte, verließ Gomar mit wenigen Schritten die Grabkammer. Morag folgte ihm, schob draußen die Fackel in eine Halterung, dann begann er unter äußerster Kraftanstrengung den Verschlussstein wieder in Richtung der Öffnung zu schieben. Es erwies sich allerdings, dass es nur zu zweit gelingen würde, den vorherigen Zustand wiederherzustellen. So legte Gomar den leblosen Körper Aragorns noch einmal auf den Boden, um seinem Untergebenem dabei zu helfen, alle Spuren ihres Eindringens zu beseitigen.

Nachdem die Grabplatte verriegelt war, nahm er Aragorn wieder auf seine Schultern.

„Los! Beeilung!" Er wandte sich zum Gehen.

Morag folgte ihm, ohne sich noch einmal umzusehen. Beiden entgingen die Blutstropfen, die während des Ablegens aus Aragorns Wunden auf den Boden getropft waren und einen kleinen Fleck hinterlassen hatten. Sein dunkles Rot verschmolz im Licht der fast schon erlöschenden Fackel beinahe mit der Farbe des Gesteins der Höhle...

***

Als Morag und Gomar wieder ins Freie traten, schwebten gerade die ersten Schneeflocken an ihnen vorbei zu Boden. Noch war ein wenig Restwärme in der Erde, um sie zum Schmelzen zu bringen, doch schon sehr bald würden sie liegen bleiben.

Hastig und unter ständigen wachsamen Blicken in die Runde fesselte Morag Aragorns Hände vor dem Körper, dann half er Gomar, ihn sich so auf den Rücken zu platzieren, dass der Südländer die bevorstehende Kletterpartie über die Klippe gefahrlos bewältigen würde.

Während Morag das Seil straff hielt, erklomm Gomar es unter einigen Mühen. Oben angekommen gab er dem unten Wartenden ein Zeichen, dass die Luft rein war. Eine Weile später standen sie nebeneinander.

„Zurück zu den Pferden! Wir müssen uns beeilen, von hier wegzukommen. Diese Nacht hielt schon zuviel Glück für uns bereit. Ich glaube nicht, dass es noch lange so bleiben wird, denn irgendwann wird man nach den Elbenwachen sehen, die diesen Platz hüten sollten. Ihre Leichen werden für neue Aufregung sorgen. Doch dann müssen wir schon weit fort sein!"

Gomars Blick ging zum Himmel, wo der Schneefall bereits dichter zu werden begann.

„Wenigstens das Wetter ist auf unserer Seite. Ich habe inzwischen über deine Worte nachgedacht. Lauf voraus, Morag, und kehre zu den drei Männern zurück, die in der Lichtung auf uns warten. Schick sie vor! Sie sollen dafür sorgen, dass das Lager so rasch wie möglich abgebrochen wird. Bevor auch im Wald die Schneedecke zu wachsen beginnt, müssen wir zu dem verabredeten neuen Lagerplatz nahe der Berge aufgebrochen sein. Der Schnee wird alle Spuren, die wir noch hinterlassen könnten, für uns vernichten. Bestell ihnen, sie sollen sich beeilen! Wenn ich mit dem Gefangenen eintreffe, muss alles zum Aufbruch bereit sein! Du selbst wartest an der Lichtung auf mich!"

Morag nickte, froh darüber, dass sein Anführer diesmal auf ihn hörte, wand sich das aufgerollte Seil wieder um den Körper, dann hastete er in größter Eile in den Wald hinein, dorthin, wo die drei Männer warteten.

Bei Gomar ging es durch Aragorns zusätzliches Gewicht nicht ganz so schnell. So waren die drei Späher mit ihren neuen Befehlen auch schon in den Tiefen des nächtlichen Waldes verschwunden, als er Morag endlich eingeholt hatte.

Sie stiegen auf die Pferde, wobei Gomar Aragorn quer vor sich über den Rücken des Tieres legte, dann ritten auch sie los und hinter ihren Leuten her, während die ersten Schneeflocken nun auch den Weg zwischen den Baumwipfeln hindurch zum Waldboden fanden...

***

Weit von dieser Stelle entfernt lag der von Morag mit dem Schwert schwer verletzte Elb noch immer dort, wo ihn sein Gegner vermeintlich tot zurückgelassen hatte.

Als die ersten Schneeflocken auf das Gesicht des Kriegers fielen und dort tauten, kam schließlich wieder Leben in ihn. Leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle, dann – Momente später – begannen die Lider des Mannes zu flattern und schließlich schlug er die Augen auf.

Beißender Schmerz tobte durch den Körper des Elben, jeder Atemzug rasselte und wurde zu unsäglicher Qual, die Glieder schienen wie mit eisernen Ketten an den Waldboden geschmiedet, doch das Wissen um die Gefahr, in der die Bewohner Bruchtals und seine eigene Familie in diesem Moment schweben mochten, ließ den Lebenswillen des Kriegers neu aufflackern.

Er schrie leise auf, als er sich millimeterweise auf die Seite wälzte, brauchte Minuten, um seine Bewegung fortzusetzen und war schließlich nahe dran, erneut das Bewusstsein zu verlieren, als sich ihm ein vager Schatten näherte.

Für einen Augenblick stockte das Herz des Elben in seinem rasenden Lauf, dann vernahm er ein leises Schnauben.

Mein Pferd, schoss es ihm durch den Kopf und ein befreites Lächeln verzog die vor Qual zerbissenen Lippen. Er hat es nicht mitgenommen. Nun kann ich es schaffen. Ich kann sie warnen. Ich muss nur wach bleiben...

Mit einem geflüsterten Wort holte er das Tier dicht an sich heran und bewegte es dazu, sich neben ihm niederzulassen. Die blutigen Hände des Elbenkriegers streichelten beruhigend den Hals des Pferdes, bis es sich freiwillig zu dem Verletzten hinabneigte.

Ungeachtet der Schmerzen beim Atmen holte der Elb tief Luft, dann schlang er die Arme um den Pferdenacken und zog sich daran seitlich auf den Rücken des Tieres. Die Bewegung, mit der das Reittier gleich danach aufstand, entrang dem Elb neue Schmerzenslaute, doch er schaffte es mit äußerster Willensanstrengung, bei Bewusstsein zu bleiben.

„Lauf," flüsterte er und streichelte dem Pferd dankend den Hals. „Trag mich nach Hause. Ich muss sie warnen. Sie sind in Gefahr..."

Langsam begann das Ross durch den Wald zu traben.

***

Bei seiner Rückkehr in die Halle der Heiler sah Assat schon vom Eingang aus, dass Miro sich unruhig hin und her bewegte. Da außer ihm niemand zu sehen war, eilte er hastig an das Bett des Jungen und ließ sich vorsichtig neben ihm auf dem Rand der Lagerstatt nieder.

Miros Lider war noch immer geschlossen, doch unter ihnen bewegten sich – anders als in den Tagen zuvor – die Augen rastlos hin und her. Offenkundig träumte der junge Mann und dem angestrengten Ausdruck auf seinem Gesicht nach zu urteilen war es kein angenehmer Traum.

„...nein ... geh weg ... lass ... mich ... in Ruhe..."

Eine Hand wischte matt über die Decke, mit der Miro zugedeckt war. Es sah fast so aus, als wolle er irgendwas oder irgendwen vertreiben.

„Schon gut! Es ist niemand hier außer mir! Beruhige dich und wach auf. Wach endlich auf, Kleiner..."

Assat nahm Miros Hand und hielt sie fest, doch auf den noch immer im Schlaf gefangenen Jungen hatte diese einfache Geste eine schlimme Wirkung, denn er versuchte sich unbewusst aus Assats Griff zu befreien, während seine Worte nun rasend schnell und als ein Kauderwelsch aus Silben und unverständlichem Gemurmel kamen.

Hilflos sah Assat zu ihm hinunter, dann hob er den Blick und starrte suchend in die Runde, doch weit und breit konnte er keinen der elbischen Heiler sehen.

„Hey, wo seid ihr alle?" rief er verärgert in den Raum hinein, während er Miro nach wie vor mühsam festzuhalten versuchte, so gut es seine verletzte Hand eben zuließ.

Es dauerte keine zehn Sekunden, bis die hochgewachsene Gestalt eines Elben sich aus dem Schatten eines der Seiteneingänge löste, ruhigen Schrittes auf die beiden zukam und dann neben Assat stehenblieb.

„Lasst mich sehen!"

Während Assat Miro losließ und aufstand, beugte sich der Heiler über Miro, ohne dem besorgten Menschen auch nur einen Blick zuzuwerfen. Bedächtig prüfte er Miros Temperatur und den Zustand seiner Verletzungen, dann zupfte er die zwischenzeitlich beiseitegezogene Decke wieder über den schmalen Körper des jungen Mannes, richtete sich auf und sah Assat mit einem unlesbaren Ausdruck im Gesicht an.

„Es geht ihm so, wie man es nach all den Geschehnissen erwarten konnte. Es kann nun nicht mehr lange dauern, bis er erwacht. Habt Geduld."

Der Heiler wollte sich abwenden und gehen, doch seine letzten beiden Worte, die offenbar nicht mehr als eine zur Beruhigung Assats gedachte Phrase waren, brachten das Fass zum Überlaufen. Zu oft in den letzten anderthalb Tagen hatte Assat diese Worte gehört; stets aus anderen Kehlen, doch immer von dem gleichen nichtssagenden Desinteresse gefärbt. Was sich in Assat seit dem Verlust seiner Männer an Emotionen angestaut hatte, brach sich angesichts der Ablehnung, die er in der Stimme des Elbenheilers zu hören glaubte, schließlich Bahn. Er stellte sich dem Elb wütend in den Weg.

„Ist das alles, was ihr zu sagen habt?"

Die meerblauen Augen Assats bekamen einen gefährlichen Schimmer, während der Heiler völlig verblüfft zurückwich und den Menschen anstarrte, dessen dunkle Aura in diesem Augenblick für elbische Augen so stark wie noch nie zuvor erkennbar war.

„Geduld. Geduld. Geduld... Dieses Wort strapaziert Ihr nun schon den zweiten Tag, doch ich kann es nicht mehr hören. Es gleicht von Mal zu Mal mehr einer Ausrede! Sagt mir, Heiler, wieviel Geduld soll ich noch aufbringen? Soll ich ruhig hier sitzen und zusehen, wie der Junge langsam stirbt, ohne dass Ihr etwas dagegen unternehmt?"

Einige Augenblicke musterte der Heiler Assat verwundert, dann schüttelte er langsam den Kopf.

„Wie kommt Ihr darauf, dass Euer Gefährte im Sterben liegt?"

„Wie ich...?"

Die Frage des Heiler war ruhig gestellt worden, doch für die Ohren Assats, der viel zu aufgebracht war, um besonnen zu reagieren, klang sie einfach nur überheblich. Und so explodierte er zum zweiten Mal.

„WIE ICH DARAUF KOMME???"

Assats Stimme hallte laut durch den Raum.

„Seht ihn Euch an. Ich bin KEIN Heiler, doch selbst ich sehe, dass er sehr schwach ist und wahrscheinlich nie wieder aufwachen wird. Wenn wir jetzt in Ardaneh wären, würde ich jeden Heiler, jede Kräuterfrau herbeiholen, um ihm zu helfen. Doch hier sind mir die Hände gebunden. Ich sitze wie ein Gefangener in dieser... dieser Halle und starre tagelang freiwillig die Wände an, nur um nicht mitansehen zu müssen, wie Miro immer weiter verfällt. Wenn Ihr ihm wirklich helfen würdet, wäre er längst erwacht. Doch das ist er nicht. Er dämmert vor sich hin und ich kann nichts tun, um ihm zu helfen. Ihr ... ja, Ihr könntet es, doch Ihr tut es nicht. Eine solche Gleichgültigkeit hat er aber nicht verdient; nicht nach all dem, was er durchgestanden hat. Wenn Ihr glaubt, dass ich weiterhin einfach nur zusehe, dann habt Ihr Euch geirrt. Mein Schicksal ist nicht wichtig, aber Miros ist es für mich geworden, auch wenn Ihr das nicht versteht. Euer Estel hat ihm viel zu verdanken, doch wenn sich Dankbarkeit so äußert, dann wäre Miro ohne sie wohl besser dran! Und genau das gedenke ich Euren Herrn auch zu sagen. Noch in dieser Stunde!"

Ohne dem Heiler eine Möglichkeit zur Antwort zu geben, drehte Assat sich um und stürmte aus dem Raum.

Der Elb sah ihm nach und erwog für einen Moment, dem aufgebrachten Menschen nachzueilen, um ihm zu erklären, dass dessen junger Begleiter angesichts seines ernsten Zustandes lediglich für einige Tage in einen Heilschlaf versetzt worden war. Nach kurzem Nachdenken verwarf er diesen Einfall jedoch wieder. Der Mensch würde ohnehin nicht an den Schlosswachen vorbeikommen und sicher hierher zurückkehren, sobald er sich beruhigt hatte. Dann war immer noch genug Zeit, mit ihm zu reden.

Nach einem letzten Blick auf den noch immer schlafenden Mirodas verließ der Heiler den Raum wieder.

***

Elrond war ehrlich froh, Legolas und den Zwillingen endlich die Wahrheit gesagt zu haben, und sie hatten es besser aufgenommen, als angesichts der Umstände zu erwarten gewesen war. Besonders Legolas hatte ihm seit Estels „Tod" große Sorgen gemacht, doch die Gefahr, dass Königs Thranduils Sohn deswegen nach Valinor gehen würde, war gebannt.

Nachdem sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, waren die drei jungen Elben nach kurzer Übereinkunft in Aragorns Raum gegangen, um dort die Zeit bis zu seiner Befreiung aus der Grabstätte abzuwarten. Elrond hatte sie nicht daran gehindert, wusste er doch, dass dies die einzige Art war, Aragorn zumindest gedanklich nahe zu sein.

Er selbst hatte sich ihnen nicht angeschlossen, sondern versucht, nun endlich etwas Schlaf zu finden. Doch schon nach wenigen Minuten war ihm klar geworden, dass die Hoffnung auf Ruhe vergeblich war. Die Bilder seiner Vision ließen ihn nicht los und quälten ihn erbarmungslos weiter.

So war er nach ein paar Minuten wieder aufgestanden, hatte sich einfachere Kleidung übergezogen und dann das Schloss in Richtung auf die hinteren Gärten verlassen. Der Elbenherr hoffte, dass er vielleicht in einem Spaziergang ein wenig Frieden und Ablenkung fand.

Erstaunt sah Elrond zum Himmel, als draußen erste winzige Schneeflocken seine Haut trafen.

Der Winter hält in diesem Jahr früh Einzug. Hoffentlich sind die Gebirgspässe in ein paar Tagen noch so weit passierbar, dass wir Estel sicher nach Lórien bringen können...

Während er in Gedanken die Reiseroute durchging, führten ihn seine Schritte langsam vom Schloss fort. Hätte der Elbenherr seinen Blick vom Boden gelöst, hätte er die Gestalt gesehen, die in ebendiesem Moment aus der Halle der Heiler stürmte und direkt auf ihn zukam. So jedoch holten ihn bald darauf unvermittelt Assats wütende Worte aus seinen Gedanken.

„Wie schön, dass Ihr mir den Weg abnehmt. Zu Euch wollte ich gerade."

So abrupt aus seinen Betrachtungen gerissen sah Elrond auf – und prallte fast zurück, als ihn eine Wand aus beinahe greifbarer Wut traf. Augenblicklich wurde die Miene des Elbenfürsten steinern.

„Dies mag in Eurer Heimat die Art sein, Gespräche zu führen, doch hier in Bruchtal schätzt man es nicht, solchermaßen aus dem Dunkeln angesprochen zu werden. Wenn es etwas gibt, das man für Euch tun kann, dann sprecht mit meinen Heilern. Sie sind angewiesen, Euch zu helfen..."

„Habt Ihr sie auch angewiesen, Mirodas sterben zu lassen?" unterbrach Assat grob den Satz Elronds und erntete dadurch endlich die Aufmerksamkeit, die er angestrebt hatte.

„Was bedeutet das? Was ist mit dem jungen Mann?" Skeptisch runzelte Elrond die Stirn, während er einen Schritt näher trat.

„Welchen Teil meines Satz habt Ihr nicht verstanden? Miro stirbt – und Eure Heiler stehen ruhig daneben und sehen zu. Ist das die Art, wie Elben Dankbarkeit für geleistete Dienste zeigen?"

Elrond sah, dass Assat ihn erbittert anstarrte, und ebenso wie zuvor der Heiler musste auch er sich sehr beherrschen, um nicht vor der dunklen Aura des Mannes zurückzuweichen.

„Estel... Mein Sohn hatte Eurem Freund in der Tat sehr viel zu verdanken. Es tut mir leid, wenn es auf Euch den Anschein hat, als würde ich dies vergessen. Seid versichert, dass es nicht so ist. Ich werde mit Euch kommen und selbst nach Mirodas sehen. Wenn ich merke, dass Euch meine Heiler nicht angemessen behandeln, werde ich dafür Sorge tragen, dass sich das ändert."

Elrond wollte Assat eine Hand auf die Schulter legen, um ihn auf die Halle der Heiler zuzuschieben, doch in jenem Augenblick, in der die schlanke Hand des Elben in Kontakt mit der Tunika Assats kam, brach abrupt eine Vision über den Herrn Bruchtals herein...

***

Glorfindel, der die Klippe vor wenigen Augenblicken erreicht hatte, starrte fassungslos auf die leblosen Körper von Kánodal und seinen Gefährten nieder, doch das Bild veränderte sich nicht. Es blieb grausame Wahrheit.

Er hatte die drei noch vor seinem Abmarsch zum Südländerlager ablösen lassen wollen, doch als sie sich auf Rufe hin nicht meldeten, waren böse Vorahnungen in ihm erwacht. In einem Gebüsch, keine zehn Fuß vom Rand der Klippe entfernt, hatten sie die Vermissten dann gefunden.

Alle drei waren tot. Zweien war brutal das Genick gebrochen worden, dem dritten hatte eine scharfe Klinge die Kehle durchtrennt.

Ich hatte euch doch eingeschärft, dass ihr keinen Moment unaufmerksam sein dürft, dachte der Gondoliner Krieger und ließ es zu, dass für einen Augenblick Trauer um seine ermordeten Männer jeden Gedanken an die bevorstehende Mission verdrängte. Besonders Kánodals Tod berührte ihn tief, hatte er ihn doch von einem Kind zu einem Mann heranwachsen sehen. Glorfindel wusste, dass Kánodal mit ein paar weiteren Jahren intensiver Ausbildung zu einem der besten Krieger Bruchtals geworden wäre.

Wie mochte es den Südländern – und dass es sich bei den Mördern um sie handelte, daran zweifelte Glorfindel keinen Moment – nur gelungen sein, trotz der Überlegenheit elbischer Sinne wiederum derart dicht an die Wachtposten heranzukommen? Wie war es nur möglich, dass einfache Menschen Elben überrumpelten, ehe auch nur ein Laut der Warnung deren Lippen verlassen konnte?

Glorfindels Augen verengten sich wutentbrannt zu schmalen Schlitzen. Kánodal und die beiden anderen konnten ihm darauf nicht mehr antworten, doch die Südländer würden es bald schon tun, so wie sie auch ihr Handeln bitter bereuen sollten, schwor sich der Elb. Dann winkte er einige seiner Leute heran.

„Bringt sie zurück ins Tal. Man soll ihnen ein ehrenvolles Begräbnis ausrichten."

Die Männer nickten schweigend. Auch ihnen standen Schmerz, Trauer, Wut und vor allem der Wunsch nach Vergeltung der feigen Morde deutlich ins Gesicht geschrieben. Mit ehrenvoller Behutsamkeit wickelten sie die leblosen Körper ihrer Freunde in deren Umhänge, dann hoben sie sie nacheinander vom Boden auf und legten sie über die Rücken der Pferde. Zu Kánodal kamen sie zuletzt.

Als zwei Krieger ihn vom Boden aufnahmen und an Glorfindel vorbei zu einem der wartenden Pferde trugen, glitt das Antlitz des Getöteten unversehens durch Glorfindels Blickfeld. Die Augen des jungen Elben gingen starr hinauf zum Himmel, doch es war kein Leben mehr darin und das Leuchten des Sternenlichts um seinen Körper war – ebenso wie bei den anderen beiden – erloschen.

Glorfindel kannte die Eltern des jungen Kriegers, der keine vierhundert Jahre alt geworden war, persönlich und wusste, dass sie der Tod ihres einzigen Kindes schwer treffen würde. Es war mehr als wahrscheinlich, dass die beiden aus Gram bald nach Valinor überwechseln würden.

„Und erneut sind für die Unsterblichkeit gedachte Leben ausgelöscht worden..." murmelte Glorfindel, doch es schwang mehr in seinem Tonfall mit als das Unverständnis darüber, wie es so weit hatte kommen können. Es war Zorn, der die wenigen Worte bitter machte.

Als die Pferde mit den Körpern der Getöteten langsam den Weg zurück verschwanden, den sie hergekommen waren, quollen in Glorfindel für einen Augenblick Schuldgefühle hoch. Dann schüttelte er leicht den Kopf und richtete den Blick auf Bruchtal hinunter, das bereits von den ersten Schneeflocken des Winters umwirbelt wurde.

Für einen Moment presste die Furcht, dass Südländer in just jenem Augenblick vielleicht erneut ins Schloss eindrangen, seinen Magen zusammen, dann gewann der Verstand wieder die Oberhand. Dazu bestand jetzt keine Veranlassung mehr. Außerdem hätten sich in diesem Fall noch Seile als Kletterhilfen an den Bäumen nahe des Randes gefunden. Von Seilen oder Strickleitern war jedoch keine Spur mehr zu sehen. Nur abgeschabte Stellen an der Rinde verrieten bei ganz genauem Hinsehen, wo Stricke um die Bäume gebunden gewesen waren.

Nein, befand Glorfindel im Stillen, was auch immer sie hier wollten: sie sind bereits wieder weg!

„Diese Südländer sind wie böse Geister, die sich wie körperlose Schatten immer dichter an uns heranschieben und über uns herzufallen scheinen," knurrte er leise, doch seine Männer verstanden ihn deutlich. „Wie soll man gegen Schatten kämpfen, was gegen so viel Dunkelheit tun?"

Die Krieger antworteten nicht, und Glorfindel hatte es auch nicht erwartet. Dennoch musterte er sie kurz. Es schien, als stünden fast alle unter Schock. Die meisten von ihnen hatten noch nie innerhalb so kurzer Zeit so viele ihrer Freunde verloren.

Was wollten die Südländer jetzt noch in Bruchtal? Sie müssten inzwischen wissen, dass Estel tot ist. Ihre Späher haben die Beerdigung beobachtet und Elrond hat deutlich Aragorns Namen fallen lassen. Was also zieht diese düsteren Gestalten noch hierher?

Voll dunkler Vorahnung trat Glorfindel an den Rand der Klippe heran und starrte in die Tiefe. Trotz der treibenden Schneeflocken fand sein Blick die Bestattungshöhlen, die nicht weit unter ihm lagen, und blieb auf den vom Boden dorthin führenden Stufen haften.

Und während er nachdenklich in die Tiefe sah, kam ihm plötzlich ein Gedanke, der so ungeheuerlich war, dass er ihn weder aussprechen noch zu Ende denken konnte.

Nein. Das kann nicht sein! Das würden sie nicht wagen...

Glorfindel besaß zwar nicht die Gabe der Vorausschau wie Elrond, doch die Jahrtausende seines bewegten Lebens hatten ihn mit einem untrüglichen Instinkt ausgestattet, der den Gondoliner Krieger bisher nur selten getrogen hatte. Glorfindel hoffte, dass es wenigstens dieses eine Mal unbegründete Furcht war, als er einen Entschluss faßte und sich zu den ihn begleitenden Elben umwandte.

„Ich muss wissen, was die Südländer hier wollten. Wartet unterdessen hier auf mich," wies er sie an und zog ein Elbenseil aus einer seiner Satteltaschen. „Findet inzwischen heraus, welche Richtung die Südländer eingeschlagen haben, aber geht kein Risiko ein. Wartet mit ihrer Verfolgung, bis ich wieder da bin."

Ohne sich noch weiter um seine Männer und deren ratlose Mienen zu kümmern, seilte er sich geschickt bis zu den Bestattungshöhlen ab.

Dort angekommen sah er sich wachsam um, ehe er vorsichtig in den Zugang trat. Seine Hand ruhte griffbereit auf dem Knauf seines Schwertes, während ein rascher Blick die hinter dem Eingang lauernde Dunkelheit der Höhle durchdrang und an dem schwachen Feuerschein hängen blieb, der aus der seitlich abgehenden Bestattungsgrotte auf den finsteren Gang fiel. Mit zwei raschen Schritten betrat Glorfindel die schwach erleuchtete Höhle.

Es war in ihr so still, wie es sich für die letzte Ruhestätte von Toten gehörte. In der Luft hing der Duft jener Kräuter, die während der Beisetzungszeremonie Aragorns in kleine, in Seitennischen verborgene Schälchen mit Glutnestern gegeben worden waren. Der Duft hatte die Gemüter der Elben beruhigen sollen, für die der Tod trotz aller gelebten Jahrhunderte immer wieder ein aufwühlendes Ereignis war.

Glorfindels Schritte hallten leise von den Wänden wieder, als er zögernd die Seitenhöhle betrat. Das leise Schaben der ledernen Sohlen auf dem felsigen Untergrund blieb das einzige Geräusch, das an seine Ohren drang. Darüber hinaus war nichts zu hören. Als der Elb seine Sinne forschend weiter ausstreckte, erkannte er schnell, dass er wirklich allein im Inneren des Berges war. Hier war niemand außer ihm. Beruhigt ließ er den Atemzug entweichen, von dem er nicht einmal bemerkt hatte, dass er ihn angehalten hatte.

Ich glaube, das ruhige Leben in Bruchtal hat mich empfindlich werden lassen, denn ich fange schon an, Gespenster zu sehen. Warum sollten sie hier eingedrungen sein?

Sicherheitshalber wollte er trotzdem noch einen Blick auf Aragorns Grab werfen, bevor er sich wieder seinen Männern anschloss, um sie zum Lager der Südländer zu führen. Langsam wandte er sich der Steinplatte zu, hinter der Aragorn ruhte. Während der Zeremonie hatte er der Familie und den Freunden den Vorrang gelassen, doch auch ihm lagen noch Worte auf dem Herzen, die er loswerden wollte, ehe Aragorn Bruchtal im Verborgenen verließ.

Er nahm die kurz vor dem Verlöschen stehende Fackel von der Wand und entzündete an ihr geschickt eine weitere, die hell aufloderte. Diese nahm er aus der Halterung, während er die andere stattdessen hineinsteckte. Dann ging er auf die Platte zu, die Aragorns Grab verschloss. Sie versiegelte noch immer die dahinterliegende Höhle.

Glorfindel atmete zum wiederholten Male erleichtert durch.

Die Befürchtung, dass die Südländer Aragorns Grab geöffnet und das Verwirrspiel vielleicht entdeckt hatten, schienen unbegründet.

Sein Blick ruhte auf den Worten, die in geschwungenen elbischen Zeichen in die Grabplatte gemeißelt worden waren:

Orthannen im vi ól                 [In a dream I was lifted up]

Coll e dû                     [Borne from the darkness]

Or hiriath naur                       [Above rivers of fire]

Na rovail mae sui ´waew                   [On wings soft as the wind]

Darunter stand in etwas größerer Schrift:

Aragorn - Cormlle nae tanya haran              [Your heart was that of a king]

"Aragorn…" begann Glorfindel und verstummte sofort wieder. Einige Momente suchte er nach den richtigen Worten, dann streckte er seine Hand aus und ließ seine Finger über die elbischen Schriftzeichen fahren.

„Estel, du bist schon immer Wege gegangen, die andere gescheut haben. Als dein Lehrer bin ich sehr stolz auf dich, und ich bedauere sehr, dir das nicht mehr rechtzeitig gesagt zu haben. Obwohl du nicht unter deinesgleichen aufgewachsen bist, ist ein starker, selbstbewusster Mann aus dir geworden. Dein Herz schlägt elbisch und menschlich zugleich, doch du bist Isildurs Erbe, und als solcher musstest du irgendwann deine Bestimmung annehmen. Ich bewundere deinen Mut und deine Entschlossenheit, nun auf diese Art den Weg beschreiten zu wollen, den deine Ahnen so glücklos gegangen sind."

Glorfindel verstummte einen Augenblick und schloss die Augen. Dann lächelte er, als das Bild Estels vor seinem inneren Auge erschien. In seiner Vorstellung umhüllte den jungen Mann ein beinahe elbisches Leuchten.

„Ich bin fest davon überzeugt, dass du siegen wirst, wo sie aufgaben, dass du kämpfen wirst, wo sie verzweifelten. Ich wünsche dir Kraft und Weisheit auf deinem weiteren Weg, Aragorn, Sohn von Arathorn."

Nun, wo endlich ausgesprochen war, was das Herz des Kriegers schwer gemacht hatte, kehrte die Ruhe in Glorfindels Seele zurück. Plötzlich war er froh darüber, auf seine Art Abschied von Estel genommen zu haben.

Als er die Augen wieder öffnete und sich umdrehte, um zu gehen, fiel sein Blick eher zufällig auf den Boden der Höhle. Ein winziger Fleck, der sich nur vage vom Grau des Felsens abhob, ließ ihn verharren. Wie unter einem Bann hockte er sich nieder und hielt die Fackel nahe an den Boden.

Vor dem Eingang zu Aragorns Grab sah er eine dunkle Substanz auf dem steinernen Boden kleben. Vorsichtig streckte Glorfindel eine Hand aus und fuhr mit dem Zeigefinger darüber. Etwas von der Masse blieb an seiner Fingerspitze haften. Als er sie näher betrachtete, blieb fast sein unsterbliches Herz stehen.

Blut!

„Nein..." flüsterte er schockiert und starrte das Rot an, das seinen Zeigefinger färbte. Das Blut war noch frisch und offenkundig erst vor kurzem einer Wunde entströmt. Seit der Beisetzung Aragorns war jedoch schon mehr als ein halber Tag vergangen und seitdem hatte sich außer den Steinmetzen, die Meister ihres Handwerks waren und sich nicht bei etwas so Profanem wie einer Inschrift verletzen würden, niemand mehr den Höhlen genähert. Woher stammte das Blut also?

In Gedanken ging Glorfindel alle Erklärungen durch, die ihm einfielen und auch nur im Entferntesten möglich erschienen, doch keine hielt seiner Logik stand. Es blieb nur eine Antwort, doch die war schrecklich genug.

Er erhob sich, steckte die Fackel in eine freie Halterung und wandte sich dann erneut dem Grab zu. Schnell hatte er die Riegel an dem Verschlussstein entfernt und sich mit aller Kraft gegen ihn gestemmt. Mit elbischer Kraft und durch seine Besorgnis schaffte er den Stein beinahe mühelos zur Seite.

Zögernd ergriff er die Fackel wieder und betrat das Innere der kleinen Höhle, doch als der Schein des Feuers die verzierten Wände und die Decke erhellte, blieb der Elb wie erstarrt stehen. Etwas in ihm hatte den Anblick gefürchtet, der sich Glorfindel nun bot und dessen schlimmste Befürchtungen Wahrheit werden ließ.

Elbereth, nein, er ist fort...

Der Sockel, auf dem Aragorns Körper zur Ruhe gebettet worden war, lag leer vor ihm. Das seidene Tuch war achtlos auf den Boden geworfen worden und das Rot von vergossenem Blut auf dem zuvor makellosen Weiß untermauerte das Drama, dass sich hier abgespielt haben musste.

Was haben sie nur mit ihm gemacht?

Was ihm sein Verstand bereits seit dem Auffinden der getöteten Wachen lauter und lauter klarzumachen versucht hatte, begriff der Krieger nun mit einem Schlag: Alles, was Elrond, Aragorn und er getan und ersonnen hatten, selbst das Risiko, das der junge Mann mit dieser Aktion eingegangen war – alles war schließlich doch umsonst gewesen. Die Südländer hatten sich von der sorgsam inszenierten Bestattung nicht täuschen lassen und ihn sich geholt, was keiner von ihnen auch nur einen Moment lang für vorstellbar gehalten hatte.

Ein Chaos aus Wut, neuerlichen Schuldgefühlen und Angst um Aragorn beherrschte Glorfindel, als er den Raum hastig nach weiteren Spuren untersuchte, die er jedoch nicht fand. Alles, was er hatte, war das blutbefleckte weiße Tuch, doch es genügte, um seinen sonst so beherrschten Geist unendlich viele Szenarien zu Aragorns Schicksal ersinnen zu lassen. Es kostete den Elb enorme Mühe, die Szenen aus seinen Gedanken zu verbannen, denn eine war immer grausiger als die vorhergehende.

Die einzig beruhigenden Tatsachen an dem Wissen um das Verschwinden des offenbar verletzten und noch einige Zeit lang im Todesschlaf liegenden Aragorn waren das Fehlen einer Leiche und die vergleichsweise geringe Menge Blut, die Glorfindel in der Höhle gefunden hatte.

Wenn die Südländer Aragorn einfach nur hätten töten wollen, hätten sie es hier an Ort und Stelle getan, die Gruft danach wieder verschlossen und dann die Flucht ergriffen. Dass sie den Körper des jungen Mannes jedoch mit sich genommen hatten, wies darauf hin, dass sie ihn zumindest vorläufig lebendig wollten. Das vergossene Blut hingegen machte ihm weitaus mehr Sorgen. Wenn es von Aragorn stammte – und daran hegte er keinen Augenblick lang einen Zweifel –, dann war die Wut desjenigen, der ihn verletzt hatte, extrem gefährlich und sehr stark. Wahrscheinlich würde diese Erbitterung bald aus dem Ruder laufen und nach Vergeltung für die Taten Arathorns verlangen. In diesem Fall war Aragorn so gut wie tot, sobald er wieder erwachte.

Glorfindel spürte so deutlich wie nie zuvor, dass die Zeit gegen sie arbeitete. Er wollte sofort aus der Höhle und quer durch das Tal zum Schloss eilen, um Lord Elrond Bescheid zu geben, doch dann hielt er inne und zwang sich ein weiteres Mal zur Ruhe.

Oben auf der Klippe warteten noch immer seine Leute auf die Rückkehr ihres Befehlshabers. Wenn er nicht wiederkam, würden sie annehmen, dass er doch noch auf etwaige Eindringlinge gestoßen war und ihm hierher folgen. Von da bis zur endgültigen und öffentlichen Aufdeckung der ganzen Sache war es dann nur noch ein kleiner Schritt.

Nein! Unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft unterdrückte Glorfindel den Impuls, in Hektik zu verfallen. Er war erfahren genug, um zu wissen, dass Hast stets nur Schaden anrichtete. Der Schein um Aragorns Tod muss trotz allem gewahrt werden. Er muss auch weiterhin für Elben wie für Menschen als tot gelten, egal, was hier geschehen ist. Wir werden die Südländer finden, Aragorn und diesen alten Mann rechtzeitig aus ihren Händen befreien und ein für alle Mal mit dieser Bedrohung aufräumen.

Also verschloss Glorfindel das Grab sorgfältig wieder und beseitigte ebenso wie die Südländer vor ihm alle Spuren darauf, dass der Verschlussstein bewegt worden war. So flink wie noch nie zuvor erklomm er dann das Seil, wies seine völlig ratlosen Leute an, auch weiterhin nach Spuren Ausschau zu halten und hier auf ihn zu warten, bis er wiederkam. Erst dann machte er sich auf den Weg zu Elrond, um ein weiteres Mal der Überbringer schlechter Nachricht zu sein.

***

Elrond nahm nicht wahr, dass er taumelte und sich gleich darauf an Assats Schulter festklammerte. Die Vision, die über ihn hereinbrach, löschte jeden klaren Gedanken an das Hier und Jetzt aus.

Assat hingegen musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzustöhnen. Die Wunden auf seinem entstellten Rücken, die gerade erste Heilungsansätze zeigten, drohten sich angesichts der plötzlichen Belastung durch das zusätzliche Gewicht des Elben erneut zu öffnen. Als der Schmerz schließlich auf ein erträgliches Maß zurückging, war Assat selbst erstaunt darüber, dass er Elrond nicht losgelassen, sondern instinktiv aufgefangen und festgehalten hatte.

Besorgt sah er in das Gesicht des Elben, den er bei seiner Ankunft noch als so stolz und beherrscht erlebt hatte, doch die Dunkelheit der Nacht ließ ihn nicht viel erkennen. Er sah nur, dass Elronds Augen an ihm vorbei leer zu Boden starrten.

„Was ist mit Euch?" Assat, der nicht wusste, wie er sich jetzt verhalten sollte, erntete keine Reaktion.

Selbst wenn Elrond ihn gehört hätte; eine Antwort wäre ihm gar nicht möglich gewesen, denn die Bilder dieser neuen Vision nahmen dem Elbenherrn fast den Atem...

Estel saß auf der Erde.

Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt und ein grob aussehender, um den Hals gewundener Strick presste den jungen Mann an einen Baumstamm und hielt ihn dadurch gewaltsam aufrecht. Elrond war sicher, dass Aragorn anderenfalls zusammengesunken wäre. So klaffte seine Tunika jedoch bis zur Hüfte auseinander und eröffnete dem Elben einen furchtbaren Anblick.

Dünne rote Striemen überzogen Aragorns Oberkörper wie ein Gitter, doch das wirklich Schreckliche war das Symbol, das unter den Striemen deutlich zu erkennen war. Jemand hatte Aragorn mit einer Klinge einen liegenden Halbmond und drei halbwegs erkennbare Sterne tief in die Haut geschnitten. Das aus der Wunde ausgetretene Blut war längst getrocknet, doch die Schnitte waren tief und von Schlägen an mehreren Stellen wieder aufgerissen worden.

Aragorns Kopf war, soweit der Strick um den Hals es zuließ, auf die Brust gesunken und die dunklen Haare fielen ihm so tief ins Gesicht, dass der Elb nicht erkennen konnte, ob sein Sohn bei Bewußtsein war. Lediglich die in regelmäßigen Abständen zu weißem Nebel kondensierenden Atemzüge zeigten, dass er lebte.

Elrond fand das sich ihm bietende Bild verwirrend, denn die Gewalttätigkeit dieser Szene wurde im nächsten Augenblick vom sanften Schleier der Morgendämmerung, die sich gerade über alles legte, verdrängt. In das weiche Zwielicht mischten sich vom Himmel herabtanzende Schneeflocken, die auf Estels Körper fielen, dort schmolzen und schließlich in quälender Langsamkeit über den Blutspuren seitlich zur Erde rannen.

Abrupt zerrissen Schatten die eigenartige Friedfertigkeit. Sie bewegten sich auf die wehrlose Gestalt seines Sohnes zu und Elrond konnte den Schlag, der Aragorns geschundenen Körper gleich darauf traf, so deutlich spüren, als sei er selbst getroffen worden.

In hilflosem Zorn wartete er auf den nächsten, der unweigerlich kommen und dem er... dem Aragorn nicht entfliehen konnte.

Von einem Augenblick zum anderen erhellte sich die dunkle Szene und ein strahlendes, eindeutig elbisches Leuchten bewegte sich aus den hinter Estel stehenden Bäumen auf ihn zu. Doch dieses rettende Strahlen war noch zu weit entfernt, um die Dunkelheit, die Schatten und den Schmerz, den sie Aragorn zufügten, zurückzudrängen.

Plötzlich wichen sie von ganz allein zurück, denn auf dem Schoß seines Sohnes richtete sich in diesem Moment unerwartet eine Schlange zu voller Größe auf. Gefährlich zischend  wiegte die Königskobra ihren biegsamen Körper hin und her und entfaltete dabei die gezeichneten Ringe auf ihrem Nackenschild.

Die Schatten blieben respektvoll auf Distanz und so konnte das elbische Leuchten, das hinter den Bäumen die Dämmerung durchdrang, Aragorn endlich näher kommen...

Die Vision ließ Elrond so urplötzlich wieder frei, dass seine Knie nachgaben. Nur am Rande spürte er, dass er festgehalten wurde, denn das Denken des Elben war noch immer mit den eben gesehenen Bildern beschäftigt.

Was hat das zu bedeuten? Nur wenige wissen, dass Estel noch lebt, und sie werden schweigen. Es kann nicht alles umsonst gewesen sein! Bitte, ihr Valar, lasst nicht geschehen, was ich sah...

Es war ein unerfüllbarer Wunsch – und Elrond wusste es. Für Momente war das Verlangen, zu den Bestattungshöhlen zu laufen und nach Aragorn zu sehen, ungeheuer stark, und er konnte es nur zurückdrängen, weil er im gleichen Augenblick begriff, dass ihn jemand stützte. Assat, wie er sich erinnerte. Der Mensch durfte nichts erfahren...

Langsam hob Elrond den Kopf.

„Geht es Euch besser?" Assats unsicherer Blick traf ihn.

Der Elb richtete sich auf, ließ Assat los und strich seine Kleidung glatt, dann trat er einen Schritt zurück.

 „Ja... habt Dank für Eure Besorgnis. Und verzeiht mein Verhalten. Es war nur ein Schwächeanfall, nichts weiter!"

„Kein Wunder, nach allem, was in den letzten Tagen hier passiert ist." Assats Miene blieb unbewegt und selbst für die aufmerksamen Augen des Elben undeutbar.

„Wie meint Ihr das?" Elrond runzelte die Stirn.

„Ich meine Euren Sohn. Ich bedauere aufrichtig, was ihm geschah."

„Ihr habt also von Estels Tod erfahren?"

„Ja!" Assat blieb kurz angebunden, um durch unbedachte Worte nicht zu verraten, dass er um das sorgsam gehütete Geheimnis der Elben wusste, doch zumindest nickte er bestätigend mit dem Kopf.

Es war diese Bewegung, die dem Elb einen neuerlichen Schock versetzte, denn die schulterlangen Haare des Menschen, die mit einem Lederband zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden waren, wippten jetzt im Takt der Bewegung und lenkten Elronds Blick unwillkürlich auf die kleine Tätowierung hinter dessen Ohr.

Die Schlange...

Wie gebannt starrte er auf das Mal. Er hatte es schon bei Assats Ankunft gesehen und sich insgeheim gefragt, was dieses Tattoo wohl für den Menschen bedeuten könnte. Nun ergab die hoch aufgerichtete Königskobra, die Aragorn in der Vision beschützt hatte, für Elrond plötzlich einen Sinn.

Assat indessen war durch die neuerliche Erstarrung des Elben verunsichert.

„Was habt Ihr? Braucht Ihr Hilfe?"

Um Elrond notfalls erneut auffangen zu können, trat der Mensch dichter an ihn heran – und war erstaunt, als sich die schlanke Hand des Elben um seinen Unterarm schloss. Noch während sein fragender Blick Elrond streifte, lauschte dieser tief in sich hinein – und zog nach einigem Zögern die Hand enttäuscht wieder fort. Er hatte insgeheim darauf gehofft, durch den neuen Kontakt mit Assat eine weitere Vision auszulösen.

Was ich verhindern wollte, wird trotzdem eintreten, wurde dem Elbenherrn plötzlich klar, und dieser Assat spielt eine wichtige Rolle dabei. Ich darf ihn nicht mehr aus den Augen lassen, bis alles vorbei ist.

„Es geht mir wieder gut. Lasst uns jetzt nach Eurem Freund sehen."

Elrond ging voran zur Halle der Heiler und spürte, wie Assat kurz zögerte, als wollte er ihn auf das eben Vorgefallene ansprechen. Doch dann hielt der Mann aus Ardaneh sich zurück und folgte dem Elben. Alles, was in diesem Augenblick für ihn zählte, war Miro. Das Befinden des Elben war nicht seine Sache.

Die zwei hatten die Halle kaum betreten, als ihnen der Heiler bereits entgegenkam. Sein gesetzter Schritt beschleunigte sich jedoch geringfügig, als er sah, wer sich zu dieser Stunde zu ihm begeben hatte. Ehrerbietig verbeugte der Heiler sich. „Lord Elrond! Ich belästige Euch erst gar nicht mit der Frage, was Euch zu uns führt, denn ich weiß den Grund dafür bereits."

Sein deutlich vorwurfsvoller Blick streifte Assat, der sich davon jedoch nicht beeindrucken ließ, sondern die Arme vor dem Körper verschränkte.

„Ihr kommt, um nach dem Gefährten dieses Menschen zu sehen, habe ich Recht? Gestattet also, dass ich vorangehe."

Wortlos folgte Elrond dem Heiler an Miros Bett, wo er sich selbst genau über den Zustand des Jungen informierte. Nachdem er noch einige Sätze mit dem jüngeren Elben gewechselt hatte, kam er zu Assat zurück, der unterdessen an der Tür stehengeblieben war und die Szene aus der Ferne verfolgt hatte.

„Ich kann Euch beruhigen und hoffe, dass Ihr wenigstens meinen Worten Glauben schenkt, wenn Ihr schon meinen Heilern nicht vertraut. Für Euren jungen Freund wird gut gesorgt. Es geht ihm bereits viel besser. Sein Fieber ist gesunken und das gebrochene Bein wurde neu gerichtet und geschient. In ein paar Wochen wird er keine Probleme mehr damit haben."

„Hmm..." Skeptisch runzelte Assat die Stirn. „Und warum wacht Miro nicht auf?"

„Die Reise und die Verletzungen haben ihm viel abverlangt. Die Heiler versetzten ihn daher in einen Heilschlaf. Sein Körper muss Gelegenheit bekommen, neue Kraft zu schöpfen. Der junge Mann wird in etwa zwölf Stunden erwachen und sich dann besser fühlen."

Die Auskunft schien Assat zwar zu beruhigen, doch die dunklen Wolken des Ärgers verschwanden trotzdem nicht ganz aus seinem Gesicht.

„Warum hat Euer Heiler mir das nicht vorher gesagt? Wieso musste ich erst Euch um Hilfe bitten, um das zu erfahren?"

Ein sorgenvolles Lächeln zog flüchtig über die alterslosen Züge des Elbenherrn. Er hatte eine solche Frage befürchtet und wog nun ab, wie er dem vor ihm stehenden Mann beibringen konnte, dass man ihn gerade inständig gebeten hatte, Assat an einem anderen Ort unterzubringen. Sie ertrugen die dunkle Aura des Mannes nicht länger und Elrond wusste, was sie meinten. Auch er war vor wenigen Minuten fast vor ihr zurückgewichen.

„Nehmt es mir nicht übel, aber Ihr seid alles andere als ein normaler Mensch. Die Heiler in Bruchtal sind es nicht gewohnt, einem anderen außer mir Rede und Antwort zu Behandlungen zu stehen. Außerdem gabt Ihr ihnen auch keine Gelegenheit dazu, sagte man mir."

„WAS???"

Neuer Unmut keimte in Assat auf. Wieso behaupteten diese Elben, nicht mit ihm reden zu können?

„Ich war während der letzten Tage hier! Na ja, bis auf ein paar Ausnahmen. Aber zumindest lange genug. Sie hätten durchaus mit mir sprechen können. Und gefragt habe ich oft, das kann ich Euch versichern!"

„Ich weiß! Man hat es mir gesagt."

„Dann verstehe ich nicht, wieso..."

Elrond hob beschwichtigend die Hand und Assat verstummte, wenn auch widerstrebend. Plötzlich hatte er eine Lösung für alle Probleme. Seinen Söhnen und Glorfindel würde sie angesichts der jetzigen Situation zwar nicht gefallen, doch sie wussten nicht, was er seit der letzten Vision wusste, und so würde er es nicht zulassen, dass sie sich seiner Entscheidung wiedersetzten.

„Euch alles zu erklären, wäre zu kompliziert und würde zu lange dauern. Zeit haben wir jedoch nicht. Bitte, lasst es Euch genügen, wenn ich sage, dass Ihr ein ... außergewöhnlicher Mensch seid, dem – wenn ich Recht behalte – die Valar eine wichtige Aufgabe zugedacht haben."

Assat starrte den Elben verblüfft an. Er verstand immer weniger von dem, was Elrond zu erklären versuchte. Erst der Tod seiner Leute, dann die vorgetäuschte Bestattung Estels und nun dieses Gerede, dass ihm, einem Fremden, auch noch irgendeine Rolle dabei zukam. Was hatte er mit all dem zu tun?

„Teil wovon? Was könnte ich für Euren Sohn tun, wo er doch Euch hat?"

Die Frage war Assat kaum entschlüpft, als er sich auch schon für sie hätte ohrfeigen können. In einem unbedachten Moment hatte er preisgegeben, dass er um alles wußte.

„Was ich damit meine..." setzte er hastig nach – und verstummte, als ihn der härteste Blick traf, dem er sich jemals ausgesetzt gefühlt hatte. Die grauen Augen des Elbenherrn sahen bis auf den tiefsten Grund seiner Seele – und darüber hinaus. Niemals hatte Assat sich so ausgeliefert gefühlt wie in diesen wenigen Sekunden, die sich für ihn jedoch zu Ewigkeiten dehnten. Er wollte den Kopf wegdrehen, etwas sagen – und konnte nichts von alledem tun.

Was auch immer Elrond getan oder in den Gedanken Assats entdeckt haben mochte; es sah fast so aus, als wäre dadurch eine Vermutung bestätigt worden. Als ihn der Blick des Elben schließlich losließ, lag keine Spur von Zweifel oder Ärger mehr darin.

„Ihr wißt es also."

Assat wollte auch weiterhin den Ahnungslosen mimen, ließ die Idee jedoch sofort wieder fallen. Etwas in ihm wusste, dass es zwecklos sein würde.

„Ja. Seit etwas mehr als zwei Stunden."

Meine Söhne waren also nicht aufmerksam genug, als sie Legolas fanden... Elrond nickte gedankenverloren. „Ich verstehe."

„Und nun? Ich weiß nicht, wieso Ihr das alles getan habt, doch es müssen gewichtige Gründe sein, denn Eure Mühen waren beträchtlich und die Risiken sind hoch. Würdet Ihr mir glauben, wenn ich bei der Ehre meiner Zunft schwöre, dass ich kein Sterbenswort über diese Sache verlieren werde?"

Was würden die Elben nun gegen den unliebsamen „Mitwisser" unternehmen? Assat fürchtete die Antwort, wurde jedoch ein weiteres Mal an diesem ereignisreichen Tag überrascht, denn Elrond nickte ohne zu zögern.

„Das würde ich. Und nun kommt."

Er ging an Assat vorbei zur Tür, öffnete sie und trat ins Freie. Dort wandte er sich um und sah erwartungsvoll zum Menschen zurück. „Kommt mit mir!"

Assat wollte nach dem Grund fragen, ließ es dann aber. Er sah ein letztes Mal zu Miro zurück, um den sich gerade erneut der Heiler kümmerte.

Elrond folgte seinem Blick. „Für ihn wird gut gesorgt werden, das verspreche ich Euch."

Schweren Herzens trat Assat neben ihn. Er ließ den Jungen nur ungern zurück, denn Miro war inzwischen zur letzten Verbindung zu seinem bisherigen Leben geworden. So folgte er dem Elben nur langsam. Der hatte jedoch keine Schwierigkeiten, trotz der mondlosen, schneedurchstöberten Finsternis den Weg auszumachen.

Sie waren schon ziemlich weit von der Halle entfernt, als Assat die Ungewissheit nicht mehr länger aushielt.

„Sagt Ihr mir jetzt, was Ihr mit mir vorhabt? Schickt Ihr mich fort oder wollt Ihr mich einsperren?"

„Weder das eine noch das andere." Elrond führte den Mann an der ersten der vielen Wachpatrouillen vorbei, die von Glorfindel um das Schloss herum stationiert worden waren. „Ich möchte, dass Ihr von jetzt an bei mir im Schloss bleibt."

Diese vage Äußerung gefiel Assat nicht. „Und wie lange soll das so gehen? Fasst es bitte nicht als Beleidigung auf, aber ich hatte nicht vor, meinen Lebensabend hier zu beschließen, auch wenn das Tal der schönste Ort ist, an dem ich je war."

Wieder sah Elrond das Bild des an den Baum gefesselten Aragorn vor sich. Er trug noch immer jene Tunika, in die er ihn vor der Bestattung selbst gekleidet hatte. „In wenigen Tagen ist vermutlich alles vorbei. Die Dinge sind bereits in Bewegung gekommen und ich weiß nicht, ob ich sie noch aufhalten kann..."

Elrond hatte vor, seine Söhne und Legolas so schnell wie möglich über die neueste Vision zu informieren und im Schutze der Dunkelheit mit ihnen schließlich zu Aragorns Grabstätte zu gehen. Diese eine Vision durfte einfach nicht wahr werden. Noch lag es vielleicht in seiner Macht, sie zu verhindern...

***

wird fortgesetzt

In den letzten Reviews sind erneut einige Anmerkungen gefallen, auf die wir an dieser Stelle kurz eingehen möchten.

Da waren zunächst die Hinweise darauf, dass Tote eigentlich nicht mehr bluten sollten.

Das war uns natürlich schon vor dem Schreiben bewußt. Wie ihr inzwischen gelesen habt, war das Bluten für unsere Geschichte wichtig, damit geschehen kann, was wir noch mit Aragorn und Legolas vorhaben – und damit auch der Rest von Elronds erster Vision noch wahr werden kann. Was nun Gomar betrifft, so haben ihn seine südliche Herkunft, seine mit viel Gewalt verbundene Ausbildung und die Morde, die er in den letzten zwei Jahrzehnten im Norden Mittelerdes begangen hat, mit dem Fakt natürlich auch vertraut gemacht. Er ist nur schon so besessen von dem Gedanken, dass ihm seine heißersehnte Rache mit Aragorns „Tod" doch noch durch die Finger gleiten könnte, dass er das eigentlich nicht stattfinden dürfende Bluten von dessen Wunden erst mit Zeitverzögerung bemerkte.

Dann kam da noch der Hinweis darauf, dass nicht nur Legolas nach dem Ende des Ringkrieges nach Valinor ging.

Das wissen wir selbstverständlich. Laut Tolkiens Zeitlinie sind die meisten Elben innerhalb von 4 bis 5 Jahren nach dem Rindkrieg gen Valinor gesegelt. Nur wenige blieben über dieses Zeitmaß hinaus in Mittelerde. Neben den Zwillingen, deren weiteres Schicksal Tolkien ganz außen vor ließ, und Legolas blieben auch einige der Waldelben, die unter Führung ihres Prinzen mit ihm nach Ithilien gingen, um das vom Krieg verwüstete Land neu zu begrünen. Erst danach dürften auch sie fortgesegelt sein. Legolas hingegen blieb während der gesamten 120 Regierungsjahre Aragorns bei ihm in Mittelerde und segelte tatsächlich erst nach seinem Tod fort. (Er dürfte einer der letzten Elben in Mittelerde gewesen sein. Er hat quasi das elbische Licht in Mittelerde ausgemacht. *bg*) Dieses Gebaren weicht so sehr vom Verhalten der restlichen Elben ab, dass wir es in unsere Storylinie einbauten.

Und zum Schluß noch die Anmerkung, dass die beiden anderen Wächterelben es eigentlich gehört haben müssten, als Kánodal getroffen aus den Zweigen fiel.

Gehört haben sie es schon, nur nicht mehr die Zeit besessen, etwas zu unternehmen. Wir haben uns bemüht, im Text klarzumachen, dass alle drei innerhalb von höchstens zwei Sekunden von den vergifteten Wurfdolchen getroffen wurden. Ihnen blieb nach der instinktiven Schrecksekunde einfach keine Zeit mehr, Alarm zu schlagen. Möglicherweise täuscht die Menge des Textes darüber hinweg, aber es geschah alles blitzschnell. Immerhin wusste Gomar genau, wo sie waren und wie er sie am effektivsten ausschalten konnte, während die drei erst etwas von der Anwesenheit der Feinde bemerkten, als es schon zu spät war.