Dies Kapitel ist für all die geduldigen Leser da draußen, die es uns immer wieder verzeihen, wenn wir mal wieder zu lange fürs Update gebraucht haben... Es ist vor allem jedoch für jene, die statt zu schimpfen, sich sogar Sorgen um uns machen. Das ist sooo lieb von euch! Wir können euch beruhigen. Uns geht's gut. Das konnte man bis vor kurzem von unseren „Grauen Eminenzen" nicht gerade behaupten. Der eine hat mit Viren und RAM zu kämpfen gehabt, der andere brachte nach Wochen seine Millennium-Probleme endlich hinter sich und probiert sich nun an XP... Da braucht es eine Weile, bis man wieder Lust verspürt, sich mit der angehenden künstlichen Intelligenz zu messen!

Frage am Rande: Wer von euch hat „Hidalgo" gesehen und ist der Meinung, dass sich der HdR irgendwie ins Drehbuch geschummelt hat? *Eine Heuschrecke verputzen und auf geht's,  Hidalgo. Ein kleines Tier genügt, um den Magen eines ausgewachsenen Mannes zu füllen...* ;)

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Schuld und Sühne

von: Salara und ManuKu

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Teil 25

Assat war Elrond schweigend ins Schloss und dann die Treppe hinauf bis zu einem Zimmer gefolgt, das zwar sparsam eingerichtet war, doch dessen wenige Möbel solide gebaut und nach Elbenart wunderschön verziert waren.

Elrond der an der Tür stehengeblieben war, ließ den spürbar ärgerlichen Menschen nicht aus den Augen. „Ihr solltet dieses Zimmer besser nicht verlassen, außer in meiner Begleitung. Die Wachen reagieren seit dem Überfall auf Bruchtal sehr unfreundlich auf den Anblick Fremder im Schloss."

„Ich bot Euch mein Wort, über mein Wissen zu schweigen, und Ihr habt es akzeptiert. Jetzt jedoch sperrt Ihr mich hier ein. Was soll das? Glaubt Ihr mir nun doch nicht? Und was macht Euch dann so sicher, dass ich nicht über den Balkon klettere und in die Nacht hinaus verschwinde, sobald ich allein bin?" Assat funkelte ihn zornig an.

Der Elbenherr hatte Assat ganz bewußt in einem der Gästezimmer in der Nähe seiner eigenen Räume untergebracht. So wusste er ihn dicht bei sich, sobald die Situation tatsächlich außer Kontrolle geraten sollte. Denn dass das der Fall sein würde, davon war Elrond überzeugt. Die Bilder der letzten Vision hatten ihm eines mit schmerzhafter Deutlichkeit klar gemacht: was auch immer geschehen würde, geschah bald, und die Zeit lief ihm mit jedem Wort, das er hier mit dem Menschen wechselte, weiter davon.

Dennoch löste er sich von der Tür und trat an Assat vorbei auf den schmalen Balkon. Seine Elbensicht zeigte ihm trotz des dichter werdenden Schneetreibens die Wachpatrouillen, die ihre Runden um das Gebäude zogen. Selbst, wenn der Mann es versuchte: er würde nicht weit kommen. Vorausgesetzt, Assat schaffte es, trotz seiner verletzten Hand überhaupt unbeschadet bis zum Boden zu gelangen. Der Heiler hatte Elrond zuvor in der Halle leise offenbart, dass alle Bemühungen vergebens geblieben waren. Assat wusste es noch nicht, aber er würde seine Hand tatsächlich nie wieder gebrauchen können. Er wandte sich zu dem Menschen um.

„Ich will Euch nicht unter besondere Bewachung stellen müssen, Assat, doch ich werde es tun, wenn Ihr mich dazu zwingt. Euer Wissen stellt eine große Gefahr dar. Nicht nur für mich, mein Tal oder mein Volk. Viel mehr, als Ihr ermessen könnt, steht auf dem Spiel. Vor allem aber das Leben meines Sohnes. Um ihn zu retten, würde ich alles tun. Wirklich alles. Dafür würde ich Euch sogar mit Gewalt hier festhalten. Doch so weit wird es hoffentlich nicht kommen."

Elrond betrachtete erneut Assats verbundene Hand. „Außerdem weiß ich nicht, ob ich schnell genug zur Stelle sein kann, um Euch vor weiterem Schaden zu bewahren, falls Ihr dennoch daran denkt, das Gebäude auf eigene Faust zu verlassen."

Assat beachtete den Blick gar nicht. Erneut brachen die verschütteten Emotionen seiner Kindheit aus jenem Winkel hervor, in dem sie so lange verborgen gewesen waren. Assat hatte sich damals geschworen, sich nie wieder von jemandem zu etwas zwingen zu lassen, nie mehr die Herrschaft über sich aus der Hand zu geben – und doch fand er sich nun in genau dieser Situation wieder. Und er hasste dieses Gefühl, auf der unterlegenen Seite zu stehen.

„Wenn Ihr nicht wollt, dass ich Eurer ... Gastfreundschaft ... entsage, dann solltet Ihr mir endlich mitteilen, was Ihr erwartet. Wann gedenkt Ihr etwas zu unternehmen und was habe ich dabei zu tun? Wie lange soll ich hier warten und Schneeflocken zählen? Sagt mir irgendetwas, nur sperrt mich nicht ohne jede Information wie einen Gefangenen ein."

„Ich bedauere, dass Ihr Euch wie ein Gefangener fühlt. Aber ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen, und Euch hierher zu holen ist eine solche Maßnahme. Was nun Eure Fragen angeht, so kann ich sie in Moment nicht beantworten."

„Könnt Ihr nicht oder wollt Ihr nicht?"

„Ich wünschte ich könnte es." Elronds Stimme ließ nichts von seiner unterdrückten Sorge erkennen. Es brannte ihm unter den Nägeln, die Zwillinge und Legolas zu holen und in die Grabhöhlen zu laufen, um Aragorn herauszuholen. „Doch ich weiß selbst noch nicht, zu welchen Mitteln der Feind greifen wird, um sich zu holen, was er begehrt. Ich weiß nur, dass Estels Leben von Euch abhängt. Und davon, dass ich nicht noch mehr Zeit verstreichen lasse. Also, habe ich Euer Wort, dass Ihr freiwillig in diesem Raum bleibt oder muss ich eine Wache postieren?"

„Es ist noch gar nicht lange her, dass sich Euer Sohn ... Estel ... in einer ähnlichen Situation befand. Damals legte er sein Leben freiwillig in meine Hände, heute geschieht es erneut, nur eben durch Euch, die Götter oder das Schicksal. Wie auch immer – es soll wohl so sein." Assat holte hörbar tief Luft. „Ja, Ihr habt mein Wort. Ich werde hier bleiben, bis Ihr mir sagt, was ich tun kann oder mich gehen lasst. Genügt Euch das, Elb?"

Der Elbenherr nickte. „Das tut es. Und nun ruht Euch aus..."

Er wollte noch etwas anfügen, doch plötzlich blitzte ein Bild vor seinem inneren Auge auf, das er bereits kannte: Ein Mann, in der Tür zu Aragorns Zimmer stehend. Assat! „Ich bin entschlossen, euch zu helfen. Wir können es uns einfach machen oder schwer, ganz wie ihr wollt. Aber was ihr auch unternehmt – ihr tut es nicht ohne mich!"

Die Vision vor einigen Tagen, die Elrond so erschüttert hatte, weil sie ihm den leblosen Elrohir gezeigt hatte, hatte auch dieses Bild für ihn bereitgehalten.

„...denn Ihr werdet nicht mehr allzu viel Zeit dafür haben." beendete er den angefangenen Satz daher tonlos, ehe er sich umwandte und hastig das Zimmer verließ. Erst, als die Tür hinter ihm wieder geschlossen war, blieb er erneut stehen, um sein rasendes Herz zur Ruhe zu bringen. Ja, er hatte Assat nicht aus den Augen lassen und ihn möglichst nah bei sich haben wollen, doch nun begann er seinen Entschluß zu fürchten...

***

Assat hatte die Tür zugehen sehen. Er war wirklich müde, also ließ er sich nicht lange bitten und legte sich auf das Bett, um ein wenig zu schlafen. Das Gehörte und die aufgewühlten Erinnerungen ließen ihn jedoch nicht zur Ruhe kommen und Gedanken und Gesichter begannen einen wilden Reigen in seinem Kopf zu tanzen. Seufzend setzte Assat sich bereits nach wenigen Sekunden wieder auf.

„Ruht Euch aus..." murmelte er verdrossen und spürte, wie Kopfschmerzen ihr Erscheinen ankündigten. „Einfacher gesagt als getan!"

Er stand wieder auf und überlegte gerade, auf den kleinen Balkon zu gehen, um seine Gedanken durch einen Blick auf Bruchtal beruhigen zu lassen, als Stimmengemurmel vom Gang seine Aufmerksamkeit weckte. So leise wie möglich schlich er zur Tür und presste sein Ohr gegen das Holz...

***

Als Elrond sich gerade so weit gesammelt hatte, um zu seinen Söhnen gehen zu können, erschien Glorfindel am Ende des Korridors. Der Gondoliner Krieger erspähte ihn sofort und hielt auf ihn zu, doch der Ausdruck der dabei auf seinem Gesicht lag, ließ Elrond nichts Gutes ahnen.

Noch mehr schlechte Nachrichten!

Innerlich seufzend stellte sich der Herr von Bruchtal dem Unvermeidlichen und ging seinem Berater ein paar Schritte entgegen.

„Ihr bringt schlechte Kunde, mein Freund, habe ich recht?"

„Sehr schlechte, mein Lord!"

Glorfindel hätte die Neuigkeiten, die er zu übermitteln hatte, seinem Herrn gern in dessen Räumen überbracht, doch die Zeit drängte. Mit jedem verstrichenen Augenblick war Aragorns Leben stärker bedroht. Also sah er sich rasch um, und als er feststellte, dass sich außer ihnen beiden niemand auf dem Flur befand, faßte er die Neuigkeiten in drei schrecklichen Worten zusammen.

„Estel ist fort!"

Zu spät! Das war also der Grund für meine Visionen. Ich habe zu lange gewartet... Eisige Furcht schwappte wie eine Welle über Elrond hinweg und ließ ihn leicht schwanken, doch er fing sich wieder, ehe der alarmiert nähertretende Glorfindel ihn festhalten konnte.

„Das Verwirrspiel, das wir inszeniert haben, ist fehl geschlagen. Die Angelegenheit ist aus dem Ruder gelaufen, mein Lord."

Selbst bei der schwachen Beleuchtung konnte man sehen, dass Elrond blaß geworden war. Dennoch wirkte er gefasst, als er seinen Ratgeber schließlich ansah. „Bei den Valar, wie konnte das nur geschehen? Ich dachte, die Klippe wäre bewacht?"

„Das war sie auch," verteidigte Glorfindel seine Männer. „Doch die Wachen, die ich an der Klippe oberhalb der Begräbnisstätte postiert hatte, wurden getötet. Wir haben Verletzungen von Wurfdolchen gefunden, wie sie die Südländer verwenden. Wir wären nie von einem erneuten Eindringen an der gleichen Stelle ausgegangen..." Er holte tief Luft. „Sie haben Estel entführt."

Glorfindel stockte erneut und bedachte Elrond mit einem sonderbaren Blick. Der spürte, dass da noch mehr war, und sah seinem Freund fest in die Augen.

„Da ist noch etwas, nicht wahr? Sag mir alles."

„Ich habe Blut gefunden," erwiderte dieser schließlich und als er Elronds wachsendes Besorgnis wahrnahm, fügte er schnell hinzu „Es waren nur ein paar Tropfen, nicht besorgniserregend für Estels Leben."

„Ich fürchte trotzdem um ihn," entgegnete Elrond mit leiser Stimme, als er sich jener Vision erinnerte, die er in Assats Beisein erlebt hatte. „Lass uns zu meinen Söhnen gehen und mit ihnen unser weiteres Vorgehen beraten. Sie sind zusammen mit Legolas in Estels Quartier, um ihm auf diese Art nahe zu sein."

Die beiden eilten den Gang entlang und verschwanden schließlich in Aragorns Zimmer, nicht sehend, dass sich leise die Tür zu dem Zimmer öffnete, in dem Elrond Assat vor wenigen Minuten untergebracht hatte.

***

Dieser hatte dem Gespräch der beiden Elben aufmerksam gelauscht. Es kostete Assat einige Anstrengung, die Unterhaltung zu verfolgen, doch die jahrelange Übung zahlte sich nun aus. Früher hatte er jedem auch noch so leisen Getuschel in seiner Umgebung in Ardaneh gelauscht, um immer auf dem neuesten Stand zu bleiben, und als Folge davon hatte sich sein Hörvermögen überdurchschnittlich geschärft.

Estel ist also in Schwierigkeiten!

Einen Moment lang dachte Assat an das Versprechen, dass er Elrond gerade gegeben hatte, doch dann überwog der Wunsch, nicht länger untätig herumzusitzen.

Beinahe lautlos öffnete er die Tür und huschte über den Flur, dann steuerte er eine Tür an, hinter der er leises Stimmengewirr vernahm...

***

Legolas, der noch immer die schwarze Tunika vom Vormittag trug, hatte sich auf Aragorns Bett ausgestreckt und starrte seither nachdenklich an die Decke. Seit er erfahren hatte, dass Aragorn noch am Leben war, standen seine Gedanken nicht mehr still.

Elrohir lehnte am Fensterrahmen und auch er sah so aus, als würden ihn die Gefühle, die in ihm tobten, gleich innerlich bersten lassen.

Nur Elladan saß ruhig in dem noch immer neben dem Bett stehenden Sessel und musterte abwechselnd Legolas und seinen Zwillingsbruder. Er musste nicht über Elronds Gabe der Vorausschau verfügen, um zu sehen, was die zwei dachten und fühlten. Das Gewesene beschäftigte ihn mindestens ebenso wie die zwei, nur hatte er sein Innerstes besser zu verbergen gelernt als sie.

„Unser kleiner Bruder ist erwachsen geworden und hat von nun an seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Nicht alle davon werden uns immer gefallen," sagte er nach einer Weile leise in die Stille hinein und starrte in die tanzenden Flammen des Feuers, das sie bei ihrem Kommen neu im Kamin entfacht hatten.

Elrohirs Kopf fuhr herum. „Schon möglich, dass er älter geworden ist. Aber er ist noch immer viel zu leichtsinnig und unvernünftig..."

„Außerdem ist er dickköpfig, unberechenbar und verrückt. Das hast du vergessen," fügte Legolas ergänzend hinzu, setzte sich auf und schlang die Arme um die angezogenen Knie. Ein Lächeln formte sich auf seinem Gesicht, als er sah, wie die Zwillinge zustimmend nickten. „Estel ist und bleibt trotz elbischer Erziehung ein Mensch, und wenn mich meine Freundschaft zu eurem Bruder etwas gelehrt hat, dann dass menschliche Beweggründe für uns nur selten nachvollziehbar sind. Das, liebe Freunde, solltet gerade ihr doch besser wissen als jeder andere!"

„Es wissen und damit leben ist zweierlei." Elrohir schüttelte den Kopf. „Estel ist unser Bruder, Legolas. Seit er hier lebt, haben wir auf ihn achtgegeben und ihn beschützt. Ihn aufwachsen und stark werden sehen. Seine Seele mag die eines Menschen sein, doch für unsere Herzen..."

Sein Blick streifte flüchtig Elladan, der ahnte, was sein Zwilling sagen würde und daher nickte.

„...hat er die eines Elben. Wir wussten immer, dass er eines Tages... sterben würde, doch wir haben diesen Gedanken verdrängt. Estel war... ist ... unser Bruder, in Herz, Seele und allem, was zählt. Als er nun gestern in Adas Armen  lag und ... und starb ... und es anscheinend nichts gab, was man dagegen tun konnte, ist uns zum ersten Mal deutlich geworden, dass er eben NICHT für immer bei uns bleiben wird. Jede Entscheidung, die er unbesonnen trifft, kann ihn uns nehmen. Und dieser Gedanke war nur schwer zu ertragen."

„Und er ist es noch immer," ergänzte Elladan, ohne jemanden anzusehen. „Gestern... Es fühlte sich an, als fiele einem der Himmel auf den Kopf, als Estel..."

Er verstummte, als in genau diesem Moment die Tür aufging und ihr Vater eintrat. Dass Glorfindel untermittelbar hinter ihm auftauchte, alarmierte die Zwillinge augenblicklich, wussten sie doch, dass er eigentlich den Südländern folgen und sie vernichten sollte.

Simultan erhoben sich die drei jungen Elben.

„Was ist geschehen?" forderte Elrohir zu wissen und ging einen Schritt auf seinen Vater zu.

Der holte tief Luft und sah seine Söhne und Legolas nacheinander an.

„Estel... Die Südländer haben ihn sich geholt. Sein Leben ist in höchster Gefahr, wenn wir es nicht schaffen, ihre Spur schnell aufzunehmen und ihnen zu folgen."

„Ich habe meinen Kriegern befohlen, sich umzusehen. Sie warten noch immer an der Klippe auf mich. Sicher haben sie die Fährte der Entführer bereits aufgenommen." Glorfindel wusste um die Fähigkeiten seiner Männer und hoffte, dass er damit die Wahrheit gesagt hatte. Doch es galt trotzdem, Eile walten zu lassen, denn der frühe Wintereinbruch arbeitete genau wie die Zeit gegen sie.

Es war nicht nötig, diesen letzten Gedanken laut auszusprechen, denn die drei jungen Elben wussten das auch so.

„Gib uns fünf Minuten, dann sind wir bereit." Elrohir suchte in Gedanken bereits seine Waffen zusammen.

„Es wird etwas länger dauern." Elronds Blick war für einen Augenblick abwesend und in eine imaginäre Ferne gerichtet, dann fokussierte er sich auf die Schneeflocken. „Wir müssen an vieles denken. An Heilkräuter, Verbandszeug, warme Kleidung für euren Bruder... Es war mein Zögern, das ihn in diese Lage gebracht hat, und jedes weitere Versäumnis wird ihn mit Sicherheit töten. Er war für dieses Wetter nicht ausreichend warm gekleidet und ist durch seine Verletzung und das Fieber noch viel zu schwach, um der Kälte lange widerstehen zu können."

„Du hast Recht," stimmte Elladan schweren Herzens zu, doch man sah auch, dass es ihm wie allen Anwesenden schwer fiel, Geduld aufzubringen.

„Außerdem darf niemand Verdacht schöpfen, wenn wir morgen früh plötzlich alle fort sind," fügte Elrond hinzu. „Wir müssen den Schein um Aragorns Tod für die Elben Bruchtals und alle anderen aufrecht erhalten. Es ist wichtig für seine Zukunft. Erst zu gegebener Zeit wird er seine wahre Herkunft offenbaren und das Schicksal der Menschheit beeinflussen.

„Ich werde veranlassen, dass man Erestor verständigt und er alle notwendigen Vorbereitungen trifft," bot Glorfindel an und erntete ein abwesendes Nicken des Elbenherrn.

„Dann treffen wir uns in zwanzig Minuten an den Stallungen?" Fragend musterte der Gondoliner Elb Elrond, der ihn jedoch noch immer nicht ansah, sondern sich zur Tür gedreht hatte und sie anstarrte, als warte er auf etwas Bestimmtes.

Noch ehe auch nur einer der Anwesenheit ihn diesbezüglich fragen konnte, öffnete sie sich plötzlich. Elrond wirkte – im Gegensatz zu den vier anderen – nicht im Geringsten überrascht, als unversehens die Gestalt eines Menschen im Türrahmen sichtbar wurde.

Assat hatte es nicht mehr länger ausgehalten. Als es sich nach allgemeinem Aufbruch angehört hatte, war er einem spontanen Entschluss gefolgt und ins Zimmer getreten. Nun strahlten seine blaue Augen eine eiserne Entschlossenheit aus, als er kurz in die Runde sah und vier geschockte Gesichter fand. Nur ein Antlitz wirkte nicht im Mindesten überrascht. Fast schien es sogar, als hätte Elrond gewusst, dass er kommen würde.

„Ich bin entschlossen, euch zu helfen. Wir können es uns einfach machen oder schwer, ganz wie ihr wollt. Aber was ihr auch unternehmt – ihr tut es nicht ohne mich!"

Legolas, die Zwillinge und Glorfindel setzten gleichzeitig zum Sprechen an, während sie drohend auf ihn zu kamen.

„Wer seid Ihr?" – „Wie kommt Ihr hier herein?" – „Assat, was sucht Ihr denn hier?" – „Keinen Schritt weiter..." Alle redeten durcheinander.

Es sah für Assat alles nach einer handfesten und sehr unangenehmen Auseinandersetzung aus, und so spannte er unwillkürlich seine Muskeln an. Er war entschlossen, nicht freiwillig zurückzubleiben. Doch wiederum nahmen die Dinge eine für alle überraschende Wendung, als Elrond sich mit wenigen Schritten vor Assat stellte und so für Ruhe sorgte. Während ihn die anderen sprachlos anstarrten, wandte er sich Assat zu und musterte ihn aufmerksam.

„Beantwortet mir nur eine einzige Frage, Assat: warum wollt Ihr Euch uns anschließen?"

Weil es das ist, was Ihr von mir erwartet, wollte Assat sagen – und verschluckte die Worte, noch ehe sie ihm entschlüpfen konnten. Das war nicht wahr. Nicht mehr. Nicht nach allem, was er in den letzten Wochen erlebt und durchgemacht hatte. Nicht, seit er gesehen hatte, mit welchem Mut sich Aragorn damals für seinen sterbenden Freund Legolas zu opfern bereit gewesen war. Der junge Mann musste damals in Ardaneh geahnt haben, dass Assat dem elbischen Attentäter das Gift geliefert hatte und hatte es ihm dennoch – ebenso wie Legolas auch – nie zum Vorwurf gemacht. In diesem Augenblick begriff Assat, dass sein altes Leben unwiederbringlich vorbei war, und etwas in ihm es auch niemals wiederhaben wollte.

„Weil ich Euren Sohn darum beneide, dass er durch Euch zu dem werden konnte, der er ist."

Er sah zu Legolas.

„Weil ich Euch noch das Leben schulde, für das Euer Freund sich damals so nachdrücklich einsetzte."

Sein Blick wanderte zu Elrond zurück.

„Weil ich nicht anders kann. Und Ihr wusstet das schon vorher, habe ich recht?"

Der Elbenherr spürte, dass ihn alle gespannt anstarrten, doch er kümmerte sich nicht weiter darum, sondern nickte nur. „Ja, ich ahnte es, als ich Euch zum ersten Mal sah."

„Dann gestattet Ihr mir, mitzukommen?"

„Vater..." kam Elladan Elronds Antwort zuvor. „Du kannst nicht ernsthaft darüber nachdenken, diesen ... Fremden in alles einzuweihen, indem du ihn mitnimmst!"

„Dieser ... Fremde ... wie du ihn nennst..." Elronds sanfte Stimme täuschte nicht über die in ihr liegende Schärfe hinweg. „...weiß um das Geheimnis. Dank deiner und deines Bruders Unaufmerksamkeit, wie ich hinzufügen darf. Außerdem habe ich einen Grund für meinen Entschluss."

„Dann sag ihn uns!" Elrohir war über die Handlungsweise seines Vaters genauso fassungslos wie sein Zwilling, der soeben beschämt den Kopf hängen ließ. Außerdem schreckte seine Seele vor der fast greifbaren dunklen Aura Assats zurück.

„Ich stimme Eurem Sohn zu, mein Lord. Es scheint mir keine gute Entscheidung zu sein..." Auch Glorfindel, dessen Hand noch immer auf dem Knauf seines Schwertes ruhte, machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen Assat.

Nur Legolas schwieg und verfolgte die sich ihm bietende Szene neugierig. Er hatte Assat bereits während ihrer Wanderung durch die Nebelberge beobachtet und dabei Ansätze einer Charakterwandlung bemerkt. Elrond musste das Gleiche bei dem Menschen gesehen haben – anders konnte Legolas sich dessen Verhalten sonst nicht erklären.

Elrond sah unterdessen den jüngeren seiner Zwillingssöhne an und die Trauer, die dabei in seinem Blick lag, resultierte aus einem einzigen Bild: Elrohir, getroffen von der Klinge des Vaters.

Es muss etwas geben, das das verhindert, und dieser Mensch wird eine Rolle dabei spielen, sonst hätten die Valar ihn nicht zu mir geschickt. Er wird mir meine Söhne retten. Ich weiß es einfach, dachte er und straffte die Schultern.

Es gab kein Mittel, mit dem er die anderen Elben überzeugen konnte, ohne die Schreckensbilder seiner Visionen preiszugeben und das war das Letzte, das Elrond jetzt wollte. So blieb ihm nur, eine unverhältnismäßig anmutende Schroffheit an den Tag zu legen.

„Assat wird mit uns kommen, und das ist mein letztes Wort in dieser Angelegenheit. Oder muss ich neuerdings jede meiner Anordnungen erst vor euch begründen?"

„Natürlich nicht!" Die Mienen der Zwillinge verschlossen sich, doch ihr finsterer Blick traf Assat. „Er wird uns begleiten, wenn du es wünschst."

Elrond ignorierte den verletzten Gesichtsausdruck seiner Söhne. „Elladan, kümmere dich um Heilkräuter und Verbandszeug. Wir werden es brauchen, fürchte ich. Elrohir, suche die wärmsten Kleidungsstücke Estels zusammen. Euch, mein Lord Glorfindel, bitte ich, die besten Pferde für uns alle bereitmachen zu lassen und Erestor von unserer Abreise zu unterrichten. Ihr, Assat, kommt mit mir. In zwanzig Minuten treffen wir uns bei den Stallungen."

Nacheinander verließen sie das Zimmer und verteilten sich, um alle nötigen Vorbereitungen zu treffen, doch so uneins sie zum Thema Assat auch waren: die Entwicklung, die die ganze Sache in so kurzer Zeit genommen hatte, erfüllte alle gleichermaßen mit tiefster Sorge um den noch immer im Todesschlaf liegenden Aragorn.

***

Der todesähnliche Schlaf, der auf Aragorn lag, sollte ihn vor Unheil bewahren. Doch nun sorgte er dafür, dass er sich nicht gegen das drohende Dunkel wehren konnte, das über ihm lauerte.

Gomar hatte eine kleine Rast genutzt, um seinen Gefangenen genauer zu betrachten. Er fand viel Ähnlichkeit mit dem Verräter Aradoran in den Gesichtszügen des jungen Mannes. Das machte seine Rache an dem Sohn um so süßer, denn nun konnte er sich vorstellen, Aradoran selbst wäre in seinen Händen.

Langsam streckte Gomar eine Hand aus und legte sie um die Kehle des jungen Mannes. Doch er drückte nicht zu. Seine Fingerspitzen ruhten beinahe behutsam auf der Stelle am Hals, wo der Strom des Blutes besonders deutlich zeigte, dass sich noch Leben in diesem Körper befand.

Gomar spürte den Puls ein weiteres Mal.

Der Südländer wartete beinahe atemlos und zählte innerlich die verstreichenden Augenblicke.

Da! Noch ein Schlag.

Dieses Mal kam er noch schneller als das letzte Mal, als er aufmerksam nach Zeichen des wiedererwachenden Lebens in Aragorn suchte.

Er wird bald erwachen und dann...

Gomar schloß die Augen. Jeder, der die Bilder gesehen hätte, die in diesem Augenblick vor seinem inneren Auge erschienen, wäre voller Grauen davongelaufen.

Beim nächsten Schlag, der unter Gomars Fingerspitzen zu spüren war, begann sich ein dämonisches Lächeln auf den Zügen des Südländers auszubreiten.

Bald!

Nun konnte er warten, denn in seinem Besitz befand sich, was er so lange begehrt hatte...

***

Mit Gomars Auftrag im Gepäck hatten die drei Späher ihre Pferde halbtot geschunden und es in unglaublich kurzer Zeit zurück ins Lager geschafft. Dort brach angesichts der neuen Order zwar Hektik aus, doch da es nicht das erste Mal war, dass sie ihr Lager Hals über Kopf verlegen mußten, blieben die Aktivitäten geordnet.

Vor seinem Aufbruch hatte Gomar das Kommando über das Lager an einen Krieger übertragen, der ihn seit dem Beginn seiner Suche aus den Südlanden begleitete. Es war ein ruhiger, ihm auch nach all den Jahren noch treu ergebener Mann, der sich dadurch auszeichnete, dass er sich nur dann auf Händel mit anderen einließ, wenn es unbedingt notwendig war.

Unter seinem Befehl waren innerhalb kürzester Frist die meisten Zelte abgebaut und zusammen mit den anderen Sachen auf die Packpferde gebunden worden. Schließlich blieb nur noch Gomars Zelt übrig.

Der Südländer warf einen undeutbaren Blick auf seine mit dem Abbau des Lagers beschäftigten Kameraden, dann winkte er einen der Männer heran, die in den letzten Jahren erst zu ihnen gestoßen waren.

„Du da, bring eines der Packpferde und binde es hier an."

Er wies auf einen Baum, der dicht neben Gomars Zelt stand und einem Teil der Zeltleinen als Befestigungspunkt diente. Als der Mann seiner Anweisung gefolgt war und sich ihm anschließen wollte, um den Gefangenen zu holen, hielt der Südländer ihn zurück.

„Nein, du kannst wieder zu den anderen gehen. Das hier mache ich allein."

„Aber..." Der solchermaßen Zurückgewiesene wollte widersprechen, doch ein Blick des älteren Mannes brachte ihn schnell zum Schweigen und so kehrte er wieder zu seinen Kameraden zurück.

Der ältere Südländer wandte sich dem Zelt Gomars zu, schlug er die Plane zurück und trat ein. Zwielicht und Kühle erfüllten das Innere des geräumigen Zeltes, doch das spärliche Licht des Mondes, das durch den Eingang des Zeltes fiel, genügte den Augen des Südländers, um zumindest die Silhouette des an den Mittelpfosten gebundenen Mannes zu erkennen. Langsam trat er näher, dann beugte er sich zu ihm hinab.

Rivars Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Der Südländer packte das Kinn des Mannes und hob dessen Kopf soweit an, bis er ihm ins Gesicht blicken konnte.

Die Spuren von Gomars Misshandlungen waren unübersehbar, denn hier und da zierten Blutergüsse das wettergegerbte Gesicht und getrocknete Blutspuren liefen von Mund und Nase den Hals bis zum Brustkorb hinab, wo sie sich mit anderen, inzwischen ebenfalls getrockneten Bahnen mischten und über die hässlichen Brandwunden liefen. Rivars Augen waren geschlossen und seine Haut ebenso wie die Lippen wächsern und fahl.

„Wach auf!"

Wenn Rivar ihn gehört hatte, so ließ er das nicht erkennen. Also wiederholte der Südländer sein Kommando, nun schon etwas ungeduldiger. Als sich der Gefangene noch immer nicht rührte, ließ der Südländer dessen Kinn los, sah sich kurz suchend um und nahm dann einen Krug zur Hand, der in einiger Entfernung auf dem Boden stand. Das im Inneren des Gefäßes befindliche Wasser schüttete er Rivar kurzentschlossen ins Gesicht.

Nach einigen Sekunden begannen die Lider des Mannes zu flattern, bis sie sich schließlich ganz öffneten. Trübe, schmerzerfüllte grüne Augen irrten unstet umher, bis sie sich endlich auf den vor ihm stehenden Mann fokussierten. Die Schatten im Zelt verhinderten, dass Rivar sofort erkennen konnte, dass es nicht Gomar war, der da vor ihm stand. Kraftlos ließ er den Kopf wieder auf seine Brust sinken.

„Was willst du noch von mir, Gomar?" flüsterte er und schloß die Augen wieder. „Bist du endlich bereit, mich zu töten?"

„Er wird dich sicher töten, Be'nat Rivar'Odan, doch nicht hier und jetzt," erklang eine ruhige Stimme, deren Klang dem alten Mann vage vertraut vorkam.

„Wer bist du?" Er hob den Kopf und spähte in den Schatten, doch das Gesicht des anderen blieb ihm nach wie vor verborgen. „Deine Stimme ist mir bekannt, doch ich kann mich nicht erinnern..."

„Lange ist es her, seit wir uns eine Unterkunft teilten, doch ich dachte nicht, dass du mich vergessen würdest. Wir waren einst Freunde und ich vergaß dich nie, auch nach deinem Verrat nicht."

Nun trat der Südländer wieder näher und beugte sich so weit zu Rivar hinab, bis der ihm ins Gesicht sehen konnte. Es dauerte einige Zeit, bis erste Spuren des Wiedererkennens im zerschundenen Gesicht des Gefangenen zu sehen waren.

„Fari'yan." So etwas wie ein erinnerndes Lächeln huschte über Rivars Antlitz. „Fari'yan Gha'Idith. Ich hatte dich bisher nicht unter den Männern Gomars gesehen..."

„Ich habe mich dir auch nicht gezeigt. Ich wollte einfach nicht glauben, dass es wirklich wahr sein soll."

„Dass was wahr sein soll?"

„Dass du zum Verräter wurdest und uns alle damit zu dieser endlosen Suche in Kälte und Fremde verdammt hast."

„Wie du siehst, bin ich es wirklich. Freu dich, ihr habt mich gefangen. Nun wird Gomar euch nicht länger hier festhalten. Bald kannst du mit ihm nach Hause zurückkehren..."

„Ja, und die meisten werden sich auch darüber freuen, denn sie wurden zu dieser Suche gezwungen. Ich nicht. Ich war damals einer der Freiwilligen, die sich ihm anschlossen und die vielen Jahre, die wir nun schon unterwegs sind, haben die Wut derer, die noch leben, groß werden lassen."

„Das kann ich mir vorstellen." Rivar nickte kaum sichtbar. „Wie groß muss erst die deine sein, wenn du freiwillig mit ihm gingst... Ist dein Hass auf mich derart tief?"

„Ich hasse dich nicht. Das tat ich nie. Ich war dein Freund."

„Weswegen bist du Gomar dann in die Fremde gefolgt?"

„Weil ich wissen wollte, warum du alles, auch mich, deinen besten Freund, im Stich gelassen und verraten hast."

„Wir waren nie beste Freunde. Wir gehorchten nur dem gleichen Herrn, teilten uns das gleiche Quartier und bewachten gemeinsam die armen Seelen, die in den Verließen verrotteten." Rivar hustete und seine trockene Kehle dürstete nach etwas Wasser. Mit einem beinahe mitleidigen Blick musterte er Fari'yan. „Wir waren nie Freunde. Freundschaft ist etwas anderes, doch das werden du oder Gomar nie verstehen."

Ein bitteres Lachen quälte sich Rivars trockene Kehle herauf und wurde zu einem Husten. „Ich muss nicht bei euch gewesen sein, um zu wissen, dass ihr während eurer Suche nach mir eine Spur der Gewalt und des Todes hinterlassen habt. Dieselbe, die sich auch durch Gomars Kerker zog. Dieselbe, die du jetzt an mir siehst..."

„Das hast du dir selbst zuzuschreiben!" Fari'yan wanderte ärgerlich vor Rivar auf und ab. „Du hättest Gomar doch einfach nur zu sagen brauchen, was er wissen wollte. Dann wären dir seine Folterungen erspart geblieben."

Mitleid über diesen Irrglauben lag in Rivars grünen Augen, doch die schwache Beleuchtung im Zelt verhinderte, dass der andere es erblickte. „Und das denkst du wirklich?"

„Wäre ich sonst hier?"

„Du willst mir helfen? Dann töte mich – hier und jetzt."

„Das ist das Einzige, das ich nicht für dich tun kann, denn dann würde ich dein Schicksal erleiden. Um alles andere kannst du mich bitten, nur darum nicht."

„Für alles andere kommst du zu spät. Um fünfundzwanzig Jahre zu spät. Du wirst nie begreifen, was mir Arathorn damals beibrachte: dass Freunde stark genug sind, jede Furcht zu überwinden und alles füreinander zu tun. In den wenigen Jahren, die er nach unserer Flucht noch lebte, hat er mir das oft bewiesen und ich bedauere, dass ich keine Gelegenheit mehr bekam, ihm meine Ergebenheit zu zeigen. Wenigstens ist sein Sohn durch den Tod nun Gomars Zugriff entzogen worden. Ich hätte es nicht ertragen, Aragorn durch meine Schuld ihm ausgeliefert zu wissen."

Rivar keuchte leise, als durch das Sprechen der Schmerz in seinem Brustkorb fast unerträgliche Ausmaße annahm.

„Wenn du mir wirklich helfen willst, erspar mir jede weitere Folter und töte mich. Ansonsten geh und lass mich in Ruhe..."

Fari'yan erwiderte nichts, sondern presste verärgert die Lippen zusammen, als er erneut – und diesmal ziemlich unsanft – Rivars Kinn packte und dessen Gesicht daran soweit anhob, bis er dem einstigen Kameraden in die Augen sehen konnte.

Der verzog die aufgerissenen, verkrusteten, fahlen Lippen zu einem verzerrten Lächeln. „Wirst du jetzt zum wahren treuen Diener deines Herren und setzt fort, was er bereits mit Hingabe begann?"

„Nein, obgleich du es verdient hast."

Schmerzhaft bohrten sich die Finger Fari'yans in Rivars Gesicht.

„Ich will mich nur selbst davon überzeugen, dass von dem Be'nat Rivar'Odan, den ich einst kannte, nichts mehr übrig ist außer seinem Namen. Du bist von nun an ein Fremder für mich, ein Verräter, der mir fünfundzwanzig Jahre meines Lebens gestohlen hat. Ja, du wirst sterben und ich werde dabei zusehen! Doch bis es soweit ist, werde ich dafür sorgen, dass noch möglichst lange Leben in dir ist."

Er ließ Rivar los, dann ging er zum Eingang, steckte den Kopf ins Freie und beorderte einen der Männer zu sich. Zusammen banden sie Rivar los und schleppten den Mann, dessen gefühllos gewordene Füße das Gewicht des Körpers längst nicht mehr tragen konnten, nach draußen. Dort hoben sie ihn auf das am Baum angebundene Packpferd und fesselten ihn so darauf, dass er selbst bei bester Gesundheit keine Chance gehabt hätte, sich zu befreien oder zu fliehen. Dann begannen sie auch Gomars Zelt abzubauen.

Innerhalb einer halben Stunde, während der Rivar mit kraftlosen Gliedern umsonst seine Fesseln zu lockern versuchte, war auch das Zelt ihres Anführers abgebaut und samt aller Habseligkeiten des Südländers sicher auf einem weiteren Packtier verstaut.

Inzwischen fanden auch hier die ersten Schneeflocken den Weg durch die Baumkronen hindurch, und es dauerte gar nicht lange, bis sie nicht mehr tauten, sondern ein zarter weißer Schleier über allem zu liegen begann.

Als alles vollendet war, ließ Fari'yan seinen Blick ein letztes Mal über das Gelände schweifen. Zu jeder anderen Jahreszeit hätten die vielen dunklen Flecken auf dem Waldboden, die von den Zelten und dem kleinen Lagerfeuer stammten, jeden zufällig vorbeikommenden Reisenden darauf hingewiesen, dass sich vor noch nicht allzu langer Zeit ein kleineres Lager hier befunden hatte. Der Schnee jedoch würde all das bald bedeckt haben und die Südländer damit der Sorge um Verfolgung entledigen.

Fari'yans Finger waren von der immer spürbareren Kälte inzwischen klamm geworden. Er warf einen raschen Blick zu Rivar hinüber und bemerkte, dass dieser – des dürftigen Schutzes von Gomars Zelt beraubt – deutlich vor Kälte zu zittern begonnen hatte. Der seit der Tortur mit dem Metallhandschuh noch immer bloße Oberkörper hatte den niedrigen Temperaturen nun nichts mehr entgegenzusetzen und die Kraft in Rivars Körper war längst aufgebraucht. Unter diesen Bedingungen würde es nicht lange dauern, bis Rivar an Unterkühlung oder vor Entkräftung starb. Und was der seiner Rache solcherart erneut beraubte Gomar dann mit ihm anstellen würde, wagte sich der Südländer gar nicht erst auszumalen.

Nach kurzem Nachdenken nahm er eine alte Decke von seinem Sattel, hängte sie dem gefesselten Mann um und knotete sie vorn zusammen, damit sie nicht bei der ersten Bewegung des Pferdes wieder von den Schultern Rivars glitt.

„Danke," murmelte dieser leise und mit blauen Lippen, als die Berührung des Gewebes ihn aus seiner Erstarrung riss.

„Zieh keine falschen Schlüsse daraus," knurrte Fari'yan ebenso leise, während er den Sitz von Rivars Fesseln überprüfte. „Das ist kein Freundschaftsdienst, sondern Selbstschutz."

Rivar lächelte nur, während er dabei zusah, wie die Männer sich neben ihren Pferden versammelten und mit wachsender Ungeduld immer wieder im nächtlich dunklen Wald umherblickten und sich dabei warm zu halten versuchten. Das Warten auf Gomars Rückkehr zerrte offenbar nicht nur an seinen, sondern an allen Nerven.

Es dauerte jedoch noch über eine Stunde, bis Gomar, gefolgt von Morag, schließlich auftauchte.

Er musterte die von spärlichem Fackellicht beschienene Szenerie mit raschen, abschätzenden Blicken und erst jetzt, da er sein Tier fast schon in das nun abgebaute Lager hineingelenkt hatte, sahen die Männer, dass vor ihm bäuchlings im Sattel eine Gestalt lag, deren Gesicht von den Haaren verdeckt wurde.

Gomar lenkte sein Pferd unterdessen an Fari'yans Seite. Ein Blick streifte Rivar, doch zu dessen Erstaunen lag diesmal etwas anderes als Hass in den dunklen Augen des Südländers. Es lag eine boshafte Freude darin, die wie ein eiskalter Hauch in die Seele des alten Mannes schnitt.

„Ist alles zum Aufbruch bereit und mein kostbarer Gefangener hier auch gut gesichert?"

„Ja, Herr!" Fari'yan neigte ehrerbietig den Kopf, während er sich bemühte, die reglose Gestalt vor seinem Herrn nicht allzu neugierig anzustarren. „Es ist alles, wie Ihr befahlt! Wir können losreiten, sobald Ihr das Zeichen dazu gebt."

„Gut!" Ein Glitzern, das nichts Gutes verhieß, huschte über Gomars Augen, als er – mit dem Lauern eines Raubtiers auf den Zügen – näher an das Packpferd mit Rivar heranritt.

„Ehe wir losreiten, habe ich noch eine kleine Überraschung für dich, Verräter. Während du bewusstlos warst, bin ich losgeritten, um dir jemanden zur Gesellschaft zu besorgen. Wenn er erst mal wieder wach ist, werdet ihr euch gut verstehen, denke ich, denn immerhin kennt ihr euch schon."

Mit diesen Worten riss er den Kopf Aragorns an den Haaren hoch, so dass Rivar und auch seine Männer einen Blick auf den Gefangenen werfen konnten. Als Rivar in das leblose und schrecklich blasse Gesicht Aragorns blickte, schnappte er hörbar nach Luft, während seine grünen Augen sich voller Entsetzen dem Südländer zuwandten.

„Du... Du bist ein Irrer, ein verabscheuungswürdiges Monster! Kannst du nicht wenigstens einem Toten seine Ruhe lassen?"

„Das würde ich...!" Ein bösartiges Grinsen, verzog Gomars Gesicht zu einer beinahe dämonischen Fratze. „Aber der hier ist alles andere als tot. Vertrau mir, ich habe es getestet. Ich wollte ihm sogar sein Herz herausreißen, um zuzusehen, wie es aufhört zu schlagen.  Aber ich muss zugeben, dass mich das um jeden Spaß bringen würde. Wenn wir erst mal in unserem neuen Lager sind, werde ich dir gern unter Beweis stellen, WIE lebendig dein junger Freund noch ist. Mir ist dazu unterwegs schon einiges eingefallen, das das Warten lohnt. Also freu dich darauf, Verräter! Ich tue es nämlich!"

Er zog den Umhang wieder über den leblosen Aragorn, dann wandte er sein Pferd um und ritt an die Spitze seiner Truppe vor.

„Aufsitzen, Männer! Unser Aufenthalt hier ist zu Ende. Jetzt geht es heim!"

Er hob die Hand und nach einem kurzen Signal setzte sich die Reiterschar in Bewegung.

Morag hatte Fari'yan unterdessen wieder zu seinen Kameraden geschickt und die Zügel von Rivars Reittier selbst in die Hand genommen.

„Sag mir, Morag, lebt Aragorn wirklich noch? Oder ist Gomar nun gänzlich dem Irrsinn anheim gefallen?" Der Schock saß noch immer tief in Rivar.

„Er lebt! Die Elben hatten ihn lebend begraben. Ich nehme an, dass sie das Begräbnis wohl nur durchgeführt haben, um unsere Späher zu täuschen. Wie dem auch sei: es wäre ihnen auch geglückt, uns zu täuschen, wenn Gomar nicht so besessen von seiner Rache wäre."

Morag verfiel wieder in Schweigen und auch Rivar hing nun seinen Gedanken nach.

Es war gerade Gomars Irrsinn, den der alte Einsiedler am meisten fürchtete. Nicht für sich; sein Leben näherte sich ohnehin dem Ende. Seine Lungen brannten und seine Glieder schmerzten in einem Ausmaß, das Gomar das nahende Ende schon beinahe spüren ließ.

Was er fürchtete, war der Tod Aragorns. Das Schicksal hatte sich nun offenbar ganz gegen Aragorn gewandt und schien darum bemüht zu sein, Arathorns Blutlinie auszulöschen. Nach dem Vater nun auch der Sohn...

Rivar seufzte. Es gab anscheinend nichts, was noch irgendjemand gegen das Unvermeidliche tun konnte...

***

wird fortgesetzt