Schuld und Sühne
von
Salara und ManuKu
Teil 26
Als die kleiner Schar um Elrond endlich auf jener Klippe anhielt, auf der Glorfindels Männer noch immer auf dessen Rückkehr gewartet hatten, zeigte ein schwacher Lichtschimmer am fernen Horizont bereits den heraufziehenden Morgen an. Keiner der Reiter hatte jedoch einen Blick dafür, ebenso wenig, wie sie die deutlich sichtbare Verwunderung der Krieger beachteten, sich so unerwartet nun auch Elrond, seinen Söhnen, Legolas und einem ihnen unbekannten Menschen gegenüberzusehen. Aller Gedanken – selbst die Assats – weilten beim Schicksal Aragorns. Auch die Pferde spürten die Unruhe und Angespanntheit ihrer Herren und scharrten ungeduldig mit den Hufen, wie um sie zum Aufbruch zu mahnen.
Elrond sah sich ein letztes Mal zum Schloss um, dessen zerbrechlich wirkende Gebäude vage in einiger Entfernung erkennbar wurden. Hatte er auch wirklich an alles gedacht? Als er dem Blick seiner Söhne begegnete, wusste der Elbenherr, dass sie keine andere Wahl hatten als aufzubrechen, selbst wenn das bedeutete, Aragorn erneut ins Blickfeld aller – auch feindlicher – Augen zu ziehen. Es ging um sein Leben – das machte alle weiteren Bedenken überflüssig. Er nickte Glorfindel zu, der gerade von seinen Leuten eine kurze Angabe zu den wenigen gefundenen Spuren der Südländer erhielt, und gab seinem Pferd die Sporen. Die anderen, angeführt von Glorfindel, folgten ihm augenblicklich und die versammelte Schar seiner Männer bildete die Nachhut.
Sie kamen jedoch nicht weit, denn in dem Moment, in dem die Truppe in die baumbestandene grüne Waldestiefe eintauchen wollte, sahen sie in einiger Entfernung ein Pferd zwischen den Stämmen hervorkommen. Sie zügelten ihre Tiere fast gleichzeitig und starrten mißtrauisch hinüber.
Glorfindel zögerte kurz, doch dann sah er, dass eine Gestalt zusammengesunken auf Rücken und Hals des Tieres hing. Für die Dauer eines Herzschlages stockte ihm der Atem, dann lenkte er Asfaloth mit wenigen Schritten an Elrond vorbei auf das Ross zu. Er griff nach den lose herunterhängenden Zügel und beugte sich dann zu dem reglosen Mann vor. Sowohl die langen, nach hinten geflochtenen Haarsträhnen als auch seine Kleidung identifizierten ihn eindeutig als Elb, doch sein Gesicht blieb zunächst von der nach vorn fallenden Haarflut verborgen.
Behutsam strich Glorfindel sie fort. Der Anblick bestätigte ihm, was sein Herz bereits im ersten Moment geahnt hatte. Er holte tief Luft, dann wandte er sich mit ernster Miene Elrond zu, der sich inzwischen an seine Seite gesellt hatte.
„Es ist einer der beiden Wächter, die ich am Vormittag den Spähern der Südländer nachschickte. Ihr langes Fortbleiben ließ mich Unheil ahnen, doch ich hatte gehofft, mich zu täuschen..."
Der Elbenherr beugte sich nun gleichfalls nach vorn, tastete nach einem Puls, sah aufmerksam nach dem Ausmaß der deutlich sichtbaren Wunden und winkte Momente später zwei der wartenden Krieger zu sich.
„Er lebt noch, doch seine Seele wird sich bald auf die letzte Reise begeben, wenn er nicht schnell zu den Heilern gebracht wird. Rasch, es eilt. Geht behutsam mit ihm um, doch verliert keine Zeit. Nur noch wenig braucht es, und wir verlieren ihn ganz."
Die beiden Angesprochenen wollten tun, was ihnen aufgetragen worden war, doch als sie gerade nach den Zügeln griffen, begann der Verletzte sich zu bewegen. Nur schwach, doch gerade genug, um erneut die Aufmerksamkeit Elronds und Glorfindels auf sich zu ziehen. Seine Lider schoben sich einen Spalt weit auseinander und es dauerte atemlose Momente, bis er endlich erkannte, wen er vor sich hatte.
„...Gefahr..." flüsterte er und sein Blick irrte unstet zwischen beiden hin und her. Seine Stimme war kaum zu verstehen. „...Südländer ... sind ... unterwegs ... nach Bruchtal ..."
Seine Kraft war bereits durch die wenigen Worte erschöpft und so verlor er erneut das Bewußtsein, noch ehe er Weiteres sagen konnte.
Während die beiden Krieger sich mit dem Verwundeten auf den Weg zurück nach Bruchtal machten, tauschten Glorfindel und Elrond alarmierte Blicke.
„Steht Bruchtal ein weiterer Angriff bevor? Weswegen? Sie haben doch nun, was sie wollten! Was sollte ein neuer Angriff ihnen noch bringen?" Glorfindels Gedanken rasten.
„Ich weiß es nicht, mein Freund." Elrond warf einen nachdenklichen Blick zurück auf das Tal, das noch den nächtlichen Frieden atmete. „Immerhin ist da auch noch das Mädchen, das sich bei Rivar befand, ehe er ihnen in die Hände fiel. Möglichweise geht es ihnen nun um sie."
„Ich habe sie sicher außerhalb des Schlosses untergebracht. Um sie zu finden, müssten sie jedes Gebäude durchsuchen, sich jedem einzelnen von Bruchtals Bewohnern entgegenstellen. Nicht jeder von ihnen mag ein Krieger sein, doch alle wissen eine Waffe zu führen, mein Lord. Um an das Kind zu gelangen, müssten die Südländer einen wahrhaft hohen Preis bezahlen."
„Mein Volk allerdings auch, Glorfindel!"
Elrond sah bedrückt aus. Hin und her gerissen zwischen seiner Besorgnis um Aragorn und der um die Bewohner des Tales, traf er nach Momenten schließlich eine Entscheidung.
„Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Ich kann und darf Bruchtal nicht schutzlos zurücklassen. Du wirst mit deinen Männern hier bleiben und das Tal beschützen. Ich werde zusammen mit meinen Söhnen, Legolas und Assat den Spuren folgen und versuchen, Aragorn zu finden. Wenn die Südländer wirklich zum Kampf gegen Imladris ziehen, bewachen möglicherweise dann nur noch wenige meinen Sohn."
„Dann nehmt wenigstens fünf meiner besten Männer mit, ich bitte Euch."
„Nein, wir reiten allein." Elrond schüttelte den Kopf. Er wusste, was nun folgen würde und wurde auch nicht enttäuscht, denn Glorfindel setzte bereits zu einem nachdrücklichen Protest an. Um dem zuvorzukommen, hob er die Hand. „Wir haben keine Zeit, um zu diskutieren. Die Südländer sind unberechenbar. Du und deine Männer wissen es besser, als jeder andere. Außerdem kennen wir immer noch nicht die Stärke ihrer Verbände."
Glorfindel sah ein, dass Elrond recht hatte, doch glücklich war er mit der Entscheidung Elronds nicht. „Aber was ist, wenn Ihr den Südländern direkt in die Arme reitet? Was, wenn sie bereits ganz in der Nähe sind? Ihr seid zu fünft, und der Mensch ist in seinem Zustand noch nicht einmal in Lage, eine Waffe richtig zu führen. Ihr seid im Begriff, möglicherweise einer Übermacht der gefährlichsten Krieger in die Hände zu fallen, und das besorgt mich zutiefst. Ich bin für Eure Sicherheit verantwortlich und habe in den letzten Tagen bereits mehr als einmal darin gefehlt." Glorfindel dachte bedrückt an jene Gefährten, die sie durch die Südländer verloren hatten.
Elrond versuchte, zu lächeln, doch es erreichte seine Augen nicht. Glorfindel sprach nur aus, was wahr war.
„Es mag zwar schon einige Jahrzehnte her sein, da ich zum letzten Mal auf eine so gefährliche Mission ging, dennoch habe ich noch nicht vergessen, wie man Schwert und Bogen benutzt oder Fallen erkennt. Ebenso wenig meine Söhne oder Prinz Legolas. Selbst der Mensch macht mir den Eindruck eines Mannes, der sich auch ohne Klinge gut seiner Haut zu wehren weiß. Vertrau mir, mein Freund, wir sind uns alle des hohen Risikos wohl bewußt. Aber wie du weißt, lassen die Umstände kaum eine andere Entscheidung zu. Estels Leben steht auf dem Spiel, und mit jeder Stunde, die verstreicht, kommt er dem Tod näher. Ich weiß das so sicher wie ich spüre, dass der neue Tag weiteren Schnee bringen wird. In einer solchen Unterzahl auf eine so gefährliche Mission zu gehen, ist das Letzte, was ich tun würde, hätte ich eine Wahl. Doch das Schicksal läßt mir nun mal keine, daher tue ich, was mein Vaterherz mir zu tun befiehlt. Das Tal weiß ich bei dir und Erestor in guten Händen."
„Dann, im Namen der Valar, muss ich Euch wohl allein gehen lassen, doch ich bitte Euch inständig, geht kein Risiko ein, sondern kehrt zu uns zurück." Glorfindels Seufzer war deutlich vernehmbar und keine Spur überzeugter als zuvor, doch er nickte gehorsam. „Wir werden Euch folgen, sobald es die Umstände hier erlauben. Namárie!"
Mit diesen Worten riss er sein Pferd am Zügel herum und ritt zu seinen Männern, die sie schweigend beobachtet hatten.
„Ihr habt es gehört. Bruchtal benötigt unseren Schutz. Also vorwärts!" Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, gab er seinem Pferd die Sporen und schlug die Richtung zurück ins Herz des Elbentales ein. Nach kaum einer Minute waren er und seine Männer aus den Blicken der fünf Wartenden verschwunden.
Inzwischen hatten sich die vier Wartenden an Elronds Seite gesellt. Elladan, der neben seinem Vater angehalten hatte, sah ihn mit einem Ausdruck ruhiger Gelassenheit an.
„Danke, Ada!"
Überrascht hob Elrond eine Augenbraue. „Wofür?"
„Dass du nicht versucht hast, auch uns das Hierbleiben zu befehlen."
Diesmal huschte das Lächeln des Elben auch durch seine Augen, doch die Traurigkeit auf seinen alterslosen Zügen ließ es sofort wieder verschwinden.
„Ich weiß, dass ihr einen solchen Befehl ohnehin nicht befolgen würdet. Keiner von Euch dreien. Ich würde es an eurer Stelle auch nicht tun, wenn es sich statt um Estel um euren Onkel Elros handeln würde. Die Liebe zu einem Kind, einem Bruder oder einem Freund ist eines der stärksten Gefühle, mein Sohn..."
Er sah in den Wald, aus dem vor kurzem der verletzte Elbenkrieger hervorgekommen war. Die dünne Schneedecke der Nacht ließ die Spuren des Pferdes deutlich erkennen. Sie waren neben den Richtungsbeschreibungen von Glorfindels Kundschaftern alles, was die Fünf zur Orientierung besaßen. Also musste es genügen.
Der Atem Elronds kondensierte an der kalten Winterluft zu weißen Wolken, als er die Anwesenden der Reihe nach ansah. Auf allen Gesichtern erblickte er die gleiche ruhige Entschlossenheit, die er selbst in sich fühlte. Nicht einmal Assat ließ das leiseste Unbehagen erkennen.
Innerlich darüber erstaunt schüttelte Elrond unmerklich den Kopf. Assat ist Estel nur zweimal flüchtig begegnet, und doch riskiert dieser Mann, der von Dunkelheit erfüllt ist, nach so kurzer Zeit bereits sein Leben für ihn. Wenn das die Wirkung ist, die Aragorn auf die Menschen hat, dann wird er dereinst ein wahrlich großer König...
Dann hob er die Hand und winkte vage in Richtung Waldsaum. „Lasst uns aufbrechen!"
Während die kleine Reitergruppe sich weiter entfernte, näherten Glorfindel und seine Männer sich wieder Bruchtal. Sie hatten die beiden Vorausgerittenen bald eingeholt und begleiteten sie und ihren verletzten Kameraden nun schweigend zur Halle der Heiler.
Dort angekommen hoben sie ihn behutsam vom Rücken seines Pferdes und trugen ihn ins Innere des Gebäudes. Die Heiler, die sich sofort um den Verletzten zu kümmern begannen, schwärmten lange Zeit um ihn herum, stillten die Blutungen, versorgten die Stichwunden und legten Verbände darüber, ehe sie ihrem Patienten zuletzt ein Mittel einflößten, das ihn für lange Zeit in einen Heilschlaf versetzen würde, damit sein Körper die Gelegenheit bekam, sich von äußeren Einflüssen ungestört an die Heilung zu machen.
Über eine Stunde nach seinem Eintreffen wandte sich der Oberste Heiler schließlich an Glorfindel, der nach wie vor am Eingang stand. Er hatte seine Abteilung bereits mit neuen Anweisungen über die strategisch empfindlichsten Positionen Bruchtals verteilt und wartete nun ungeduldig darauf, etwas über den Zustand seines Kundschafters zu erfahren.
„Lord Glorfindel..." Der Oberste Heiler beugte grüßend sein Haupt vor Elronds engstem Ratgeber. „Ich bin froh, Euch mitteilen zu können, dass wir das Leben des Kriegers retten konnten. Die ihm zugefügten Stichwunden waren tief und der Blutverlust lebensbedrohlich, doch zum Glück wurden weder Herz noch Lungen verletzt. Mit Hilfe des Heilschlafes wird er sich in einer Woche wieder soweit erholt haben, dass er unserer Obhut nicht mehr bedarf."
Glorfindel war froh über diese erste positive Neuigkeit seit Tagen.
„Ich danke Euch!" Erleichterung durchflutete ihn wie eine heiße Woge. „Gebt mir bitte umgehend Kunde, sollte sich etwas an seinem Zustand verändern. Ihr findet mich wahrscheinlich an einem der äußeren Verteidigungspunkte oder im Schloss selbst."
Als der Heiler dies mit einem kurzen Nicken bestätigte, wandte Glorfindel sich um und verließ die Halle. Er steuerte geradewegs den nächstgelegenen Wachposten an, um sich über die Schutzmaßnahmen für das Schloss zu erkundigen. Er hatte Elrond versprochen, das Tal zu sichern, und dieses Mal würde kein Südländer es mehr schaffen, sie zu überraschen. Zwangsläufig kehrten seine Gedanken sofort zu der kleinen Gruppe zurück, die inzwischen bereits ein ganzes Stück von Bruchtal entfernt sein musste.
Wieso liegt plötzlich dieser dunkle Schatten auf Bruchtal und Elronds Familie? fragte er sich und grübelte wohl zum hundersten Mal seit dem Aufbruch Elronds darüber nach, ob es nicht vielleicht doch eine andere Möglichkeit gegeben hatte; eine, die es ihm erlaubt hätte, sowohl Aragorn zu befreien und die Südländer ein für alle Mal loszuwerden als auch Bruchtal bestmöglichst zu schützen.
Ihm fiel jedoch keine befriedigende Lösung ein und so schob er das quälende Gefühl erzwungener Untätigkeit, das ihn schon seit dem Beginn von Aragorns Krankheit plagte, routiniert wieder in den Hintergrund seines Bewusstseins zurück. In Moment galt es, vor allem Nolana unauffällig zu beschützen, sollte wirklich sie der Grund des neuen Angriffs sein.
Die Antwort auf seine stummen Überlegungen sollte jedoch anders ausfallen, als Glorfindel dachte...
Zwei Stunden lang waren sie den Richtungsangaben von Glorfindels Spurenlesern gefolgt, doch weder Elrond und seine Söhne noch der im Waldelbenreich aufgewachsene Legolas vermochten es, den von dem gefallenen Schnee bedeckten Spuren der Südländer allein vom Pferderücken aus zu folgen. Immer wieder mußten sie halten, absteigen und sich vergewissern, noch auf der richtigen Fährte zu sein. Diese erzwungenen Verzögerungen drückten die allgemein schlechte Stimmung weiter. Auf den ebenmäßigen Gesichtern der Elben lag nun ein Schatten, der an jene dunklen Zeiten erinnerte, in denen die Elben gezwungen waren, ihr inneres Licht in den Hintergrund zu drängen und die Gewalt zuzulassen, die in ihnen schlummerte.
Als nach Ablauf einer weiteren Stunde die Richtung der Spuren noch immer die gleiche wie zuvor war, beschlossen sie in wortloser Übereinstimmung, von nun an ohne Zwischenstopp in südöstlicher Richtung auf die Nebelberge zuzuhalten. Deren erste schwache Ausläufer würden in Form größerer Felsgruppen bald vor ihnen auftauchen. Irgendwo dort, so war sich zumindest Elrond sicher, musste der für eine größere Gruppe Menschen so notwendige Schutz, also ein Lagerplatz, zu finden sein.
Unterdessen war der Morgen herangedämmert, und neben der nun schon obligatorischen Winterkälte hatte er auch wieder bleiernes Grau im Gepäck, das schon bald weiteren Schnee versprach.
Für die Elben stellte das kein Problem dar, doch Assat sah neuerlichem Schnee mit sinkendem Optimismus entgegen. Längst hatte er sich im Stillen gefragt, was ihn überhaupt dazu bewogen hatte, sich so vehement in die Rettungsmission der Elben hineinzudrängen. Wann, in welchem Moment, hatte das alles eigentlich begonnen?
Assat ließ die vergangenen Tage Revue passieren. Zwar hatte sich Estel bereits in Ardaneh als außergewöhnlich mutig und charismatisch erwiesen, doch darüber hinaus verband Assat im Grunde kaum etwas mit dem jungen Mann. Erst die heimlich belauschte Unterhaltung zwischen Elrond und seinem goldhaarigen Wächter hatte den spontanen Entschluß, selbst etwas tun zu wollen, in Assat heranreifen lassen.
Plötzlich begriff Assat auch nicht mehr, warum er sich am Vorabend über Miros Zustand so unmäßig aufgeregt hatte. Wenn man es ganz genau nahm, kannte er den Jungen ebenfalls nur oberflächlich, auch wenn er inzwischen Sympathie für ihn entwickelt hatte. Miro hatte sich als mutig und loyal Legolas und Estel gegenüber gezeigt, doch mit ihm – Assat – hatte das alles eigentlich nichts zu tun. Es gab also keinen Grund für Assats intensiven Ärger.
...lasst es Euch genügen, wenn ich sage, dass Ihr ein außergewöhnlicher Mensch seid, dem – wenn ich Recht behalte – die Valar eine wichtige Aufgabe zugedacht haben...
Elronds Worte schossen Assat flüchtig durch den Sinn, während er schweigend und die Schmerzen in seinem Rücken ignorierend neben den anderen herritt. Er entsann sich, dem Elbenfürsten beinahe widerstandslos ins Schloss gefolgt zu sein.
Eine göttliche Aufgabe? Pah! Ich habe mich benommen wie eine Marionette und es war dieser Elb, der geschickt die Fäden zog, nicht die Götter! Oder lag es an dieser Magie, die man den Elben nachsagt?
Mit einem Schlag war Assat ernüchtert. Der Enthusiasmus, den er in Aragorns Zimmer verspürt hatte, war verflogen und dem Gefühl von neuerlichem Ärger gewichen.
Da muss noch mehr dahinterstecken. Ein Grund, der es diesem Elb so wichtig erscheinen läßt, dass ich ihn unbedingt begleite. Was weiß er, was sonst niemand wissen soll? Und welche Rolle hat er mir dabei zugedacht?
Assat, der lange Jahre seines Lebens der unumschränkte, gefürchtete Anführer einer noch gefürchteteren Diebes- und Attentäterbande gewesen war, begriff, dass Elrond im Grunde nichts anderes tat als das, was er selbst lange Zeit mit seinen Leuten gemacht hatte: der Elbenfürst benutzte ihn bis zu einem gewissen Grad für seine eigenen Zwecke.
Wenn es jedoch etwas gab, das Assat noch mehr hasste als erzwungene Hilflosigkeit oder seinen gewalttätigen und schon lange toten Vater, dann war es die Erkenntnis, von anderen wie eine Schachfigur nach Belieben hin und her geschoben zu werden! Der Verdacht, dass dabei möglicherweise sogar elbischer Zauber im Spiel war, machte alles nur noch schlimmer.
Der eisige Winterwind schloss seine kalten Finger um Assats Gestalt und drang trotz der warmen Kleidung und des eng um ihn gezogenen Umhangs bis auf die Haut durch, doch der Mensch spürte ihn nicht. Er war wütend und diese Wut durchfloss seinen Körper und versorgte ihn mit einer nicht nachlassenden Hitze.
Nun stecke ich in dieser Sache drin und ich werde sie auch beenden! Ich besitze immer noch soviel Ehre, dass ich zu meinem Wort stehe, selbst wenn ich durch einen Elb manipuliert wurde. In Elronds Hallen mag ich der kontrollierbare Mensch gewesen sein, doch ich werde mich wieder an jenen Assat erinnern, den die Menschen einst fürchteten. Dieser Elrond wird mich zwar nie fürchten, aber er wird lernen, mich als gleichwertig zu respektieren...
Assat presste ärgerlich die Lippen zusammen und spähte nach vorn, in die grauschwarzen Schatten des Waldes hinein. Die Schneedecke, die den Boden überzog, lag – abgesehen von einigen Tierfährten – unberührt vor ihnen. Kein Hinweis ließ erkennen, ob in den letzten Stunden jemand hier lang gekommen war. Doch gerade, als Assat an der eingeschlagenen Richtung zu zweifeln begann, riss ihn Elladans Stimme aus den Grübeleien.
„Halt! Nicht weiter!"
Sie zügelten ihre Pferde. Elladan stieg ab, ging eine Zeitlang langsam und konzentriert umher, beugte sich immer wieder vor, hob schließlich etwas auf und fegte schließlich mit der Hand vorsichtig ein Stück des schneebedeckten Waldbodens frei. Nach langen, angespannten Augenblicken sah er zu seinen wartenden Begleitern hinüber.
„Es ist noch keinen Tag her, dass sich hier ein Lager befand. Überall zwischen den Bäumen kann man die Vertiefungen von Zeltpfählen finden und weiter hinten ist der Boden trotz des Schnees noch immer so aufgewühlt, wie es nur eine große Anzahl von Pferden vermag, die an ein und demselben Ort angepflockt wurden. Sogar die Reste eines größeren Lagerfeuers sind noch zu sehen. Dies muss das Lager der Südländer sein, da bin ich mir ganz sicher!"
„Woher willst du das wissen?" Elrohir runzelte die Stirn. „Es werden auch andere Reisende zu dieser Zeit noch in den Wäldern unterwegs sein. Und auch sie müssen sich an einem Feuer erwärmen."
„Sicher, aber bei wie vielen normalen Reisenden findet man blutgetränkte Stricke neben der Feuerstelle?" Elladan hielt den anderen seinen Fund hin.
Assat wollte fragen, ob er sich sicher sei, dass es sich wirklich um Blut handelte, doch ein Blick in die unheilvollen Mienen seiner elbischen Begleiter ließ ihn sein Schweigen beibehalten. Sie vertrauen Elladans Urteil offenbar bedingungslos.
Er sah zur Seite. Ein Stück neben ihm hatte Legolas sein Pferd gezügelt und starrte nach vorn auf Elladans Hand, die die Strickreste hielt. Das Gesicht des Prinzen war ausdruckslos, doch in seinen blauen Augen lag eine Härte, die Assat schlucken ließ. Er war fast vier Wochen mit ihm durchs Nebelgebirge gezogen, doch nie hatte Legolas so gefährlich ausgesehen wie in diesem Moment. Assat begriff, dass sich hinter der sanften, jugendlich scheinenden Schale des Elbenprinzen ein eiserner Wille und die Gefährlichkeit eines Kriegers mit jahrtausendelanger Kampferfahrung verbarg. Plötzlich war er froh, dass nicht er es war, auf den sich der Zorn des Elbenprinzen richtete.
„Wir werden sie finden!" Legolas' Stimme klang dunkel, als er aufsteigende Schreckensbilder zurückdrängte, die ihm einen geschundenen, sterbenden Aragorn zeigten. „Und sie werden dafür bezahlen!"
Keiner der anderen regte sich, doch Assat spürte instinktiv, dass die anderen Elben ihm stumm beipflichteten.
„Hast du erkannt, in welche Richtung sie von hier aus gezogen sind?" Elrond, der ähnlich wie Legolas empfand, wusste, dass Elladan nach ihm und Glorfindel der beste Spurenleser in Bruchtal war. Doch der Zwilling schüttelte den Kopf.
„Nein, noch nicht. Das Gelände ist sehr weitläufig, ihr Lager war recht groß. Viele Pferdehufe und Männerfüße haben den Boden aufgerissen, ehe der Frost ihn erstarren ließ. Wir müssen uns alle umsehen. Je mehr von uns nach einer neuen Fährte suchen, desto schneller sind wir bei unserem Bruder!"
Elronds stummes Nicken war den beiden anderen Elben Bestätigung genug. Beinahe gleichzeitig sprangen Legolas und Elrohir von ihren Pferden und machten sich ebenfalls auf die Suche. Nur Elrond und Assat blieben auf ihren Tieren. Elronds Blick folgte den dreien kurz, dann starrte er schließlich zum Himmel hinauf, dessen Bleigrau immer bedrohlicher und dunkler wurde.
Assat, der wusste, dass seine bestenfalls bescheidenen Kenntnisse im Fährtenlesen sich mit denen der Elben bei weitem nicht messen konnten, beschränkte sich unterdessen darauf, seinen noch immer schwelenden Ärger unter Kontrolle zu halten. So starrte er immer wieder zu Elrond hinüber, ohne ihn jedoch anzusprechen.
Der war sich der ihm geltenden finsteren Blicke zwar wohl bewußt, vermied es aber, darauf zu reagieren. Etwas schien Assat zutiefst zu verärgern, doch solange er selbst damit klarkam, sollte es Elrond recht sein. Jetzt waren weder die rechte Zeit noch der rechte Ort für eine Auseinandersetzung mit dem ohnehin schwierigen Menschen.
Wieder ging sein Blick in die Höhe. Die Kälte nahm von Minute zu Minute weiter zu. Zwar machten die Temperaturen selbst den Elben nichts aus, doch die Botschaft, die damit für das sehr naturnahe erstgeborene Volk verbunden war, war um so deutlicher. Je kälter es wurde, desto stiller wurde es in der Luft. Es war jenes Atemholen der Elemente, dem stets ein gewaltiger Ausbruch folgte. Zusammen mit der Eiseskälte konnte das nur eines bedeuten. Ein Wintersturm würde in Kürze über sie hereinbrechen!
„Elladan, Elrohir, Legolas, habt ihr etwas gefunden?" Das Drängen in der Stimme des Elbenherrn war nicht zu überhören.
Die drei Angesprochenen hatten sich inzwischen in einem weiten Umkreis verteilt. Auf Elronds Frage hin hob Elrohir den Blick und nickte schließlich zögernd. „Ich denke, dies hier könnte die Fährte sein, nach der wir suchen. Viele Pferde sind von hier in grader Linie nach Südosten, auf die Berge zu, gelenkt worden."
„Nach Südosten..." Gedankenschwer rieb Elrond sich die Augen. Er kannte dieses Land so gut wie niemand sonst – immerhin hatte er den Ort ausgesucht, an dem Bruchtal gegründet worden war. „Gibt es eine andere Spur? Eine, die nach Bruchtal weist?"
Alle drei verneinten.
Elronds Gedanken rasten. „Das legt den Schluss nahe, dass sie dieses Land wirklich verlassen wollen. Sie werden dafür die Nebelberge überqueren müssen. Die nächste Gelegenheit für eine Überquerung durch eine derartig große Gruppe wäre der Schwertelpass."
Der Schwertelpass war das Quellgebiet des Schwertel, der sich später in einen Sumpf in den Anduin ergoss. Jeder Elbe wusste, dass dieser Sumpf der Schauplatz des Hinterhalts auf Isildur gewesen war, der Ort, an dem er den Einen Ring und dann sein Leben verloren hatte. Wenn es in Mittelerde überhaupt einen schicksalsträchtigen Ort für den Kampf um Aragorns Leben gab, dann war es dieser!
Unterdessen waren die drei Elben wieder herangekommen und auf ihre Pferde gestiegen. Als Elladan die Worte seines Vaters vernahm, öffnete er den Mund, um etwas zu fragen – und runzelte dann die Stirn.
„Aber, Vater... Wenn die Südländer tatsächlich von hier fort gehen, warum sollten sie dann gleichzeitig noch einmal Bruchtal angreifen?"
„Es gibt nur zwei Möglichkeiten, mein Sohn. Entweder wollen sie sich noch das Mädchen holen, um ihre Rache perfekt zu machen, oder..."
Elrond verstummte, weil plötzlich alles zueinander passte und er das Ausmaß ihres gemeinsamen Irrtums begriff. Die sich überstürzenden Ereignisse der zurückliegenden Tage und der extreme Schlafmangel hatten offenkundig ihren Preis gefordert; einen, den nun möglicherweise Aragorn bezahlen musste. Wie konnte ich nur so blind sein? Plötzlich fühlte Elrond sich unendlich müde.
„Oder?" hakte Elrohir inzwischen besorgt nach.
„Oder der verletzte Kundschafter wollte uns eigentlich nur vor jenen Südländern warnen, die sich inzwischen jedoch schon längst eures Bruders bemächtigt hatten."
„Das würde bedeuten, dass Glorfindel Bruchtal umsonst wie eine Festung bewachen läßt!" Elladan tauschte einen beredten Blick mit seinem Zwilling.
„Das bedeutet auch, dass wir einem Südländertrupp folgen, der uns zahlenmäßig mit Gewißheit weit überlegen sein wird," stellte Legolas ruhig fest und sah nun, wie Elrond zuvor, ebenfalls zum Himmel. „Und schon bald werden ihre Spuren von neuem Schnee bedeckt sein. Ich kann ihn in der Luft spüren. Wir sollten aufbrechen, solange wir noch etwas sehen. Ihr Vorsprung ist auch so schon groß genug."
„Einer von uns sollte umkehren, um Glorfindel zu holen. Mit seinen Männern wird es uns ein Leichtes sein, die Südländer zu besiegen."
Elladan sah seinen Vater auffordernd an, doch der schüttelte nur den Kopf. „Estels Befreiung erfordert uns alle."
„Ich dachte auch mehr an den Menschen, Vater, nicht an uns!" Elladan machte noch immer keinen Hehl aus seiner Abneigung Assat gegenüber. „Er ist ohnehin nicht zum Kämpfen imstande."
Assat wollte ihm eine passende – und ziemlich unfreundliche – Antwort geben, doch Elrond kam ihm zuvor.
„Auch wenn du es noch immer nicht einsiehst, Elladan: auf ihn können wir am allerwenigsten verzichten!"
Legolas runzelte verständnislos die Stirn und streifte den ebenso ratlosen Assat mit einem skeptischen Seitenblick, doch die Zwillinge begriffen das seltsame Verhalten ihres Vaters endlich.
„Du hattest eine Vision, nicht wahr? Was hast du gesehen?"
Mit großen Augen starrten sie Elrond an, der ihrem Blick jedoch nach wenigen Sekunden auswich. Er war nicht gewillt, ihnen zu enthüllen, was er wußte. Stattdessen spähte er ein letztes Mal zum Himmel, von dem nun erste, kleine Schneeflocken zu Boden schwebten. Dann verschloss sich seine Miene wieder.
„Wir haben keine Wahl und die Zeit für euren Bruder wird knapp. Wenn wir nicht sofort aufbrechen, verlieren wir die Südländer vielleicht ganz. Wir müssen es irgendwie allein schaffen."
Ohne auf eine Erwiderung zu warten, gab er seinem Pferd die Zügel und preschte im Galopp nach Südosten. Es dauerte nur eine Sekunde, bis sich die anderen gefangen hatten und ihm folgten, doch die Frage, was Elrond in seiner Vision gesehen hatte, machte die Herzen der Elben schwer.
Sie kamen trotz des angestrengten Tempos nicht sehr weit. Kaum eine halbe Stunde später waren das Schneetreiben und der peitschende Sturmwind so heftig geworden, dass sie nur noch auf Verdacht weiterreiten konnten. Assat konnte keine zwei Schritte weit sehen und der Schnee hatte sich in kleine Hagelkörner verwandelt, die mit jedem Windstoß in seine Hände und sein Gesicht bissen.
Hatten ihm anfangs noch die Schmerzen in seinem zerfetzten Rücken zu schaffen gemacht, so waren es nun dieser gnadenlose Wind und die eisige Kälte, die seine Glieder bereits taub werden ließen.
Erschöpft und ohne Kraft hielt er sich allein mit purer Willenskraft auf dem Pferd, doch auch das half nicht mehr, als er einen niedrig hängenden Ast übersah. Seinen klammen Händen entglitten die Zügel und er wurde unsanft vom Pferd gerissen. Unglücklicherweise fiel er genau auf seinen Rücken. Der Aufprall sowie die sofort einsetzenden Schmerzen raubten ihm für Sekunden den Atem. Dann entrang sich ihm ein Schmerzensschrei, der durch den Sturm die vorausreitenden Elben erreichte.
Legolas zügelte sein Pferd und ritt zurück zu Assat. Er sprang leichtfüßig ab und kniete sich neben den Menschen.
„Wartet, ich helfe Euch!"
Er zog ihn auf die Beine und stützte dabei seinen Rücken. Als der Elbenprinz die Hand wieder zurückzog, war sie rot vom Blut des Menschen, dessen Wunden auf dem Rücken durch den Sturz wieder aufgebrochen waren. Auch sonst konnte sich der Mensch kaum noch auf den Beinen halten.
„Wir müssen rasten," wandte sich Legolas an Elrond, der in diesem Augenblick neben ihm vom Pferd sprang und die Lage mit einem Blick erfaßte.
Die Zwillinge waren ebenfalls stehengeblieben und protestierten nun erneut.
„Wir haben keine Zeit zum Rasten. Die Südländer entkommen uns."
Elrond warf einen Blick in die Ferne, hin zu jenem Ort, an dem sie die Südländer vermuteten.
„Der Schneesturm hat sich über eine weite Fläche ausgebreitet. Seine Ausläufer werden auch sie zum Halten gezwungen haben. Es sind Menschen. Ihre Widerstandskraft gegen die Elemente ist gering."
Sein Blick war bestimmt, als er sich zu seinem älteren Sohn umwandte.
„Wir suchen uns einen Unterschlupf."
Elronds Blick schweifte suchend in die Umgebung und schließlich zeigte er auf eine kleine mit Bäumen bestandene Senke in unmittelbarer Nähe.
„Dort finden wir etwas Schutz und können Kräfte sammeln. Wir sind für Estel wenig von Nutzen, falls wir uns in unserem jetzigen erschöpften Zustand wirklich einer Übermacht stellen müssen."
Sie lenkten die Pferde in die Senke. Während Elrond sich um Assats wieder aufgebrochene Wunden auf dem Rücken kümmerte, stand Legolas auf einer Anhöhe und warf einen wachsamen Blick in die Umgebung. Sein überlegenes Sehvermögen vermochte das weiße Schneetreiben weiter zu durchdringen als das manch anderes Elben, doch seine Gedanken weilten nicht bei dem Wetterchaos.
Sein Herz war schwer, wenn er an Aragorn dachte. Bis vor kurzem hatte er noch geglaubt, dass er seinen menschlichen Freund für immer an den Tod verloren hätte. Und nun sah es so aus, als wollte das Schicksal aus dem, was als Täuschung für die Südländer gedacht gewesen war, nun tatsächlich Wirklichkeit werden lassen.
„Halte durch, mein Freund," flüsterte Legolas.
Der Sturm riß die leisen Worte von seinen Lippen. Der Elb hoffte, dass die Elemente sie bis zu Aragorn trugen und ihm einen Funken Hoffnung in seine Seele legten.
wird fortgesetzt
